Aggression – ein wichtiges Grundgefühl
Aggression hat vielerlei Ursachen. Eine davon ist Furcht – Furcht vor Autorität oder vor Verlust.
Das Wichtigste zum Thema
Menschen sind verschieden: Manche sind zurückhaltend, andere laut und extrovertiert und wieder andere aggressiv. Doch wie entsteht eine solche Aggression? Jesper Juul erklärt in seiner Kolumne, wie sich das starke Gefühl ausdrücken kann und weshalb es entsteht – beispielsweise durch die Annahme, von der eigenen Familie nicht genügend wertgeschätzt zu werden. Aggression ist damit ein wichtiges Gefühl, das von äusseren Umständen beeinflusst wird und in Familiensituationen eng verbunden ist mit dem Gefühl der Liebe. Der Familiencoach betont: Sind Eltern aggressiv, tragen Kinder niemals die Schuld oder die Verantwortung dafür.
In seinem vollständigen Text zeigt Jesper Juul verschiedene Möglichkeiten auf, wie man in der Familie mit elterlichen oder kindlichen Aggression umgehen sollte.
Es besteht kein Zweifel daran, dass wir mit unterschiedlichen Temperamenten geboren werden. Manche von uns sind philosophisch und zurückhaltend, andere sind extrovertiert und voller Überraschungen, wieder andere hingegen sind aggressiv – ich nenne sie die «Krieger». Es scheint so, als würden sie jede Herausforderung oder Bürde als etwas betrachten, gegen das sie mit aller Kraft ankämpfen müssen.
Manche Kinder weinen innerlich, wenn sie frustriert sind oder ihnen etwas nicht gelingt. Die «Krieger» schreien, stossen oder werfen es weg. Sie werden Dinge auch bis zum Erwachsenenalter so angehen, und es wäre keine gute Idee, sie zu verändern.
Wir wissen nicht viel darüber, warum sie sich so fühlen. Was wir aber wissen, ist, dass sie meist ein persönliches Ringen durchleben. Zeit mit ihnen zu verbringen, kostet eine Menge Energie, und ihre Beziehungen sind meistens kompliziert.
Aggression ist nicht der Feind von Liebe, sondern nur eine andere Ausdrucksweise von Liebe.
Aggressionen wie Irritation, Wut, Hass haben vielerlei Ursachen. Eine davon ist Furcht. Furcht vor Autorität, vor Verlust; und die Angst vor dem Sterben ist eine andere. Schuldgefühl verwandelt sich oft in ein aggressives Verhalten.
Wenn wir nicht länger mit den Gefühlen der Schuld und der Selbstkritik fertigwerden, werden, beginnen wir andere zu kritisieren und ihnen die Schuld zu geben.
Unser Bedürfnis, von denen, die wir lieben, als wertvoll empfunden zu werden, ist ein tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis. Die Erfahrung, sich wertvoll zu fühlen, ist das Herzstück unseres Selbst. Von Zeit zu Zeit jedoch liegt es brach, und die Kommunikation innerhalb der Familienmitglieder stellt eine Herausforderung dar.
Unzählige Dinge stehen der Kommunikation im Weg
Wir drücken uns vielleicht unklar aus und fühlen uns missverstanden. Oder vielleicht sind wir mental oder emotional gerade nicht präsent, und als Konsequenz daraus fühlen wir uns von den anderen abgeschnitten. Es sind unzählige Dinge, die der guten Kommunikation im Weg stehen.
Wenn wir uns gegenseitig oder von unseren Eltern als nicht wertvoll empfinden, dann ist das in etwa so, als würde uns jemand den Boden unter den Füssen wegziehen.
Unsere erste natürliche Reaktion darauf ist Aggressivität. Zuerst fühlen wir uns etwas unruhig, sind irritiert, verärgert oder gar wütend. Diese Gefühle finden ihre verschiedensten Ausdrucksformen.
Wenn wir mit Schuldgefühlen nicht fertig werden, beginnen wir andere zu kritisieren und ihnen die Schuld zu geben.
Früher war es für Frauen nicht angebracht, in der gleichen ausdrucksstarken Weise verärgert zu sein wie ihre männlichen Artgenossen. Stattdessen weinten sie oft. Sie entwickelten psychosomatische Symptome wie Kopfweh, Bauchweh, Fieber oder chronische Beschwerden.
Männer sind hingegen leise und ziehen sich hinter der Zeitung, dem Fernsehgerät oder im Werkzeugschuppen zurück. Es gibt kulturell bedingt unterschiedliche Auffassungen von «aggressiv sein».
Das Gleiche gilt für jene Menschen, die ihre Aggression konsequent nach innen richten. Es mag sich dabei vielleicht um Selbstvorwürfe, Depression, Schuld oder Ähnliches handeln. Wenn ein Familienmitglied plötzlich aggressiv wird, dann heisst das übersetzt: «Ich fühle mich von dir nicht so wertgeschätzt, wie ich es gerne möchte.
Ich habe das Gefühl, dass du glaubst, ich sei nicht richtig, oder dass ich dir auf die Nerven gehe!» Genau das ist der Grund, warum es in einer Familie notwendig ist, die Aggression willkommen zu heissen.
Aggression ist nicht der Feind von Liebe und Zuneigung. Sie ist vielmehr eine von vielen Arten, Liebe auszudrücken. Wenn diese ignoriert oder zurückgedrängt wird, dann wächst sie und wird schliesslich entweder zum Vulkanausbruch oder nur eisig kalt.
Aggressiv statt traurig
In Wahrheit macht das natürlich keinen Sinn. Warum sollten wir aggressiv, kritisch und verletzend werden, wenn wir uns von anderen nicht als wertvoll empfinden? Es würde doch mehr Sinn machen, traurig zu werden, da es ja eine traurige Erfahrung ist.
Erwachsene werden oft vorsichtig und sind im Stillen irritiert. Wenn das der Fall ist, dann stellen sie meist fest, dass sie über «nichts» streiten. Sie finden keine Zeit, um sich auszusprechen und einen Blick auf die Beziehung zu werfen – zu sich selbst und zu den anderen.
Ein typisches Beispiel ist folgendes: Viele Jahrhunderte lang war es der wichtigste Wert eines Mannes, der Ernährer und damit «Familienerhalter» zu sein. Die Berufstätigkeit war kaum mit Freude oder Interesse verbunden. Generationen vor uns haben langsam versucht, dies zu ändern.
Trotzdem werden viele Männer immer noch dieses alte Gefühl in sich tragen, dass es ihre Pflicht ist, die Familie zu erhalten. Obwohl es mittlerweile einen wachsenden Anteil von Frauen in der Arbeitswelt gibt, bevorzugen noch viele Frauen die Nähe zur Familie und die Zeit zu Hause. Beide Entscheidungen bringen Konflikte mit sich.
Das Gefühl des Nicht-Gelingens
Der Mann arbeitet hart, um die Bedürfnisse der Familie zu befriedigen. Seine Frau glaubt, dass er damit die Kinder und die Familie vernachlässigt. Wenigen Männern gelingt es zu sagen: «Seht her, ich arbeite für das Wohlergehen der Familie.»
Die Frau hingegen verbringt mehr Zeit zu Hause, schafft dort eine gemütliche Atmosphäre und findet sich oft in der Situation wieder, dass dies nicht wertgeschätzt wird.
Beide Seiten verwenden sehr viel Energie dafür, wertvoll für den anderen zu sein, und haben dabei ein Gefühl des Nicht-Gelingens.
Es ist also wichtig, immer wieder zu überprüfen, ob unsere Bestrebungen, sich wertvoll zu fühlen, funktionieren oder nicht. Aggressive Ausdrücke sind oft ein Zeichen dafür, dass die Zeit reif für eine konkrete Unterhaltung darüber ist.
Als Eltern spüren wir die Verbindung zwischen wertvoll und aggressiv meist sehr klar. Die Kinder drücken das sehr gut aus. Zwischen Erwachsenen gibt es kaum eine Beziehung, in der man eine derart gute Rückmeldung bekommt, wie zwischen Eltern und ihren Kindern.
Wenn Kinder rückmelden, dass sie sich nicht als wertvoll empfinden, werden sie meist beschimpft, bestraft oder womöglich auch geschlagen. Die Aggression entsteht aus Machtlosigkeit, Verlust und Angst.
Manche Eltern schlagen ihre Kinder physisch, andere benutzen dafür ihre «Zungen», wie Kinder es ausdrücken, wenn sie beschimpft werden. Aus Kindersicht macht es keinen grossen Unterschied, wie sie geschlagen werden.
Sie verlieren sehr schnell ihr Gefühl, wertvoll für ihre Eltern zu sein. Ihr Verhalten ist sehr vorhersehbar, sie antworten mit Aggression. So werden sie entweder zurückschlagen oder verletzend antworten. Oder sie drängen das Gefühl nach innen, werden traurig und fühlen sich schuldig.
Das Kind ist niemals schuld
Elterliche Aggression liegt immer in der Verantwortung der Erwachsenen. Es ist niemals die Schuld des Kindes. Im Wissen, dass Aggression ein wichtiger Teil eines Familienlebens ist, müssen wir sehr vorsichtig sein, dass die Aggression nicht ausser Rand und Band gerät und sich dadurch ein Teufelskreis von immer grösser werdender Aggression entwickelt.
Als Erwachsene können wir miteinander sprechen und zu einer Klärung gelangen. Kinder und Jugendliche brauchen unsere Empathie und unseren Willen, zu verstehen, was in ihnen vorgeht. Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch