Zu einer destruktiven Beziehung gehören zwei!
Ein Familienvater trinkt, zieht sich zurück, wirkt depressiv. Die siebenjährige Tochter fühlt sich allein und ausgeschlossen. Seine Frau bittet Jesper Juul um Rat – und wird vor eine grundlegende Entscheidung gestellt.
Lieber Jesper Juul, ich brauche Rat.
Mein Mann und ich sind seit acht Jahren verheiratet und haben eine siebenjährige, wunderbare Tochter. Als ich ihn kennenlernte, hat er oft getrunken. Das wurde mit der Zeit zu einer festen Gewohnheit. Alkohol war ein Begleiter jeder Auseinandersetzung.
Mein Mann arbeitet vorwiegend nachmittags und abends. Seine Präsenz zu Hause beschränkt sich meist auf den Sonntag. Erst wenn sein Schlafbedürfnis gedeckt ist, hat er für die Tochter etwas Zeit, die er am liebsten in der Wohnung verbringt. Ich muss oft intervenieren, damit es zu einer gemeinsamen Aktivität kommt. Dann schaut er mit ihr eine Kindersendung, oder wir essen zusammen.
Die Rollenaufteilung in der Familie ist klassisch: Der Mann bringt das Geld nach Hause, die Frau steht hinterm Herd und erzieht die Kinder. Damit bin ich nicht einverstanden. Ich bin anders erzogen worden, fügte mich aber zum Wohl des Kindes. Nach Jahren musste ich feststellen, dass mein Mann depressiv ist. Er hat das auch zugegeben, nachdem er über Selbstmordgedanken gesprochen hatte.
Ich arbeite, habe promoviert und bin total erschöpft. Wir haben auch finanzielle Probleme. Und alles, was mit unserer Tochter zu tun hat, regle ich im Alleingang. Unterstützung bekomme ich gar keine – und zwar seit Anfang an. Die Kommunikation zwischen mir und meinem Mann ist momentan auf ein Telefongespräch reduziert.
Unsere Tochter spürt die Frustration und Nervosität meinerseits und ist unglücklich, dass sie wenig von ihrem Papa hat. Sie vermisst seine Aufmerksamkeit und leidet darunter. Seit einem Jahr ist sie sehr weinerlich, fühlt sich oft von Kindern ausgeschlossen, sagt öfters, sie habe einen schlechten Tag und sei traurig.
Sie hat keine Strategie entwickelt, um nach einem Ersatz oder Ausweg zu suchen, wenn sie ausgeschlossen wird. Sonst gibt sie gern den Ton an, das liegt in ihrem Temperament. Allerdings kann sie nicht diplomatisch sein.
Eine Trennung? Dann gibt es ja keinen Kontakt mehr zwischen Vater und Tochter
Eigentlich fühlen wir uns beide ausgeschlossen, nicht wahrgenommen. Unsere Bedürfnisse werden gar nicht erkannt. Ich bewege mich in einem Teufelskreis. Ich habe Hilfe gesucht, gehe zur Kindertherapeutin meiner Tochter und kann in Gesprächen etwas von meinem Frust erkennen, begründen und verstehen.
Werden Sie für Ihre Tochter ein weibliches Vorbild, das sich weigert, ein Opfer zu sein. Sie muss das sehr bald lernen.
Jesper Juul
Auch das Verhalten meiner Tochter spreche ich an, da sie mir gegenüber seit Jahren grob ist. Und ich habe vor, mit meinem Mann bei unserem Hausarzt seine Depression und Behandlungsmöglichkeiten zu besprechen.
Ich habe über eine Trennung nachgedacht. Aber ich befürchte, dass es dann gar keinen Austausch mehr zwischen Tochter und Vater gibt. Anderseits bietet eine glückliche Mutter wohl mehr Halt als eine überforderte und unglückliche, die keinen Ausweg sieht. Wie sehen Sie das, Herr Juul?
Antwort von Jesper Juul:
Vielen Dank für Ihr Vertrauen und die ehrliche, direkte Art, mit welcher Sie Ihre Familiensituation schildern; das ist für mich und auch für viele andere Familien, die mit ähnlichen Problemen kämpfen, hilfreich. Es gibt aber eine wesentliche Information, die ich Ihrem Brief nicht entnehmen kann: Lieben Sie Ihren Mann?
Ich frage das deshalb: Sollten Sie es nicht tun, ist es für mich schwer vorstellbar, woher Sie die Energie und das Durchhaltevermögen nehmen werden, um die nächsten drei bis fünf Jahre zu überstehen, unabhängig davon, welche Entscheidung Sie treffen.
Ich bin überzeugt davon, dass der Schmerz Ihrer Tochter Ihnen schon gezeigt hat, dass Sie ihr keinen Gefallen damit getan haben, die Leere Ihrer Ehe über so viele Jahre hinweg zu erdulden. Sie beide sind der Dynamik zum Opfer gefallen, welche vom inkompetentesten Mitglied der Familie, Ihrem Mann, definiert wird.
Es braucht immer zwei Personen, um eine destruktive Beziehung zu schaffen, und in Ihrem Fall haben Sie Ihrem Mann die Macht gegeben, die er jetzt hat. Es ist, als ob Sie ihm die Autoschlüssel in die Hand drücken und ihn darum bitten würden, mit Ihnen allen betrunken zu fahren.
Vor einem moralischen Richter verliert der Alkoholisierte immer, aber im richtigen Leben sind Sie beide gleichermassen verantwortlich, und nur Ihre Tochter ist das Opfer.
Es ist, als ob Sie ihm die Autoschlüssel in die Hand drücken und ihn darum bitten würden, mit Ihnen allen betrunken zu fahren.
Jesper Juul
Ich hebe dies in der Hoffnung hervor, dass Sie damit anfangen werden, Ihre wertvolle Energie dafür zu verwenden, für sich selber zu kämpfen und nicht gegen ihn. Je länger Sie so weitermachen wie bisher, je schuldiger wird er sich fühlen, und Schuld macht ihn durstig.
Wenn es Ihnen gelingt, die Verantwortung für sich selber und Ihre Tochter zu übernehmen, könnte es ihn dazu inspirieren, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.
Wenn es wahr ist, dass er seit vielen Jahren unter einer starken Depression leidet, hat er den destruktivsten Weg, damit umzugehen, gewählt, nämlich zu einem introvertierten, unverantwortlichen, selbst zerstörerischen Mann und Vater zu werden.
Ich sage bewusst «gewählt», weil es andere Möglichkeiten gab, zum Beispiel den Schmerz mit Ihnen zu teilen oder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Diese schlechte Wahl war in der Hinsicht ansteckend, als Sie und Ihre Tochter seine Strategie kopiert haben. Ihnen und der Zukunft Ihrer Tochter zuliebe und um möglicher weise eine sinnvolle Partnerschaft zu schaffen, müssen Sie jetzt verantwortlich werden und eine der folgenden Entscheidungen treffen:
- Wenn Ihre Liebe für ihn erschöpft ist, schulden Sie es Ihnen beiden, sich von ihm scheiden zu lassen. Die ersten Monate, nachdem Sie und Ihre Tochter ausgezogen sind, werden zeigen, ob er sich emotional als Teilzeitvater qualifizieren möchte. Der erste Schritt ist, mit dem Trinken aufzuhören.
- Wenn Sie ihn immer noch lieben, so wie er ist, müssen Sie von ihm verlangen, dass er zur Kur geht und trocken wiederkommt. Solange er an einem Programm teilnimmt, geben Sie ihm alle Unterstützung, welche sein Betreuer vorschlägt. Denken Sie nie, dass Ihre Liebe ihn heilen kann. Nur er selber kann sich heilen, und Sie können ihn in den folgenden Monaten und Jahren dabei unterstützen. Wenn Ihr Hausarzt ihn als klinisch depressiv diagnostiziert und ihm Antidepressivaver schreibt, muss er am selben Tag mit dem Trinken aufhören und nicht warten, bis er sich weniger depressiv fühlt. Sie und Ihre Tochter müssen in Bezug auf Ihren Umgang miteinander realistische Erwartungen haben. Sehr oft erzeugen Antidepressiva ein mattes Gefühlsleben.
Ganz gleich, welche Entscheidung Sie treffen, für Ihre Tochter wird es das Geschenk ihres Lebens sein. Nicht nur die Beziehung zu ihrem Vater wird viel klarer, Sie bekommt auch in Ihnen ein weibliches Vorbild, das sich weigert, ein Opfer zu sein. Sie muss das sehr bald lernen.