«Redet ehrlich, aber liebevoll miteinander!» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Redet ehrlich, aber liebevoll miteinander!»

Lesedauer: 4 Minuten

Eine Mutter hört einem Gespräch ihrer Tochter mit ihren Freundinnen zu. «Wann sollte ich mich als Erwachsene in die Beziehung der Kinder einmischen?», fragt sie Jesper Juul.

Text: Jesper Juul
Bild & Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Eine Mutter erzählt in einem Brief an Jesper Juul von ihrer siebenjährigen Tochter Lena und einem Gespräch, das sie mit ihren Freundinnen Julia und Kim geführt hat. Julia durfte zu ihrem Geburtstag zwei Freundinnen für ein Wochenende zu sich nach Hause einladen. Zu unserer Tochter Lena sagte Julia: «Du bist eingeladen!» Lena fragte, ob denn Kim nicht auch eingeladen sei. Julia: «Nein, nur du und eine andere Freundin.»

Daraufhin sagte unsere Tochter, dass Julia ja nicht unbedingt vor Kim über dieses Thema reden müsse, wenn sie nicht eingeladen sei! Julia erwiderte, dass Kim an die «normale» Party, die sie auch noch mache, kommen könne. Unsere Tochter hatte plötzlich keine Lust auf das Wochenende und sagte dies ihrer Freundin, die darauf erwiderte: «Dann kann ich ja jetzt Kim einladen.» Kim antwortete, dass sie keine Lust habe. Beim Zuhören kamen viele Gefühle in mir hoch. Ich überlegte, wie das für mich wäre, wenn jemand so mit mir reden und mich mal ein- und mal ausladen würde. Wie ist das unter Kindern? Sprechen sie die Dinge direkt an und halten so etwas besser aus als wir Erwachsenen? Während des Gesprächs habe ich mich mehrmals gefragt, ob ich etwas sagen soll und, wenn ja, was. Ich konnte sowohl mit Julia wie auch mit unserer Tochter mitfühlen. Julia wollte unsere Tochter aufrichtig einladen. Die Antwort unserer Tochter fand ich ehrlich und stark, weil sie einfach keine Lust hatte, ohne Kim an die Party zu gehen. Inwieweit sollte ich mich als Erwachsene in die Beziehung zwischen Kindern einmischen?

Antwort von Jesper Juul

Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kinder Erwachsene inspirieren und ihre Normen und soziale Spielregeln in Frage stellen. Kurz gesagt: Als Elternteil können Sie zwei Wege gehen: Entweder gehen Sie den erziehenden und moralisierenden Weg oder den fragestellenden und beziehungsaufbauenden Weg. Den ersten Weg kennen wir alle. Wenn wir diesen gehen, fühlen sich die Kinder «falsch» – ganz unabhängig davon, wie nett und pädagogisch die Botschaft vermittelt wird – und die Erwachsenen «richtig». Ende der Geschichte!

Kinder brauchen selten Richter.

Ich empfehle den anderen, beziehungsaufbauenden Weg. Das bedeutet in der Praxis, dass Sie einige Stunden später zu Ihrer Tochter zum Beispiel sagen: «Erinnerst du dich an das Gespräch, das du mit deinen Freundinnen heute hattest? Es ging darum, wer zur Party eingeladen ist und wer nicht. Obwohl ich Ehrlich­keit für wichtig halte, war ich ein bisschen schockiert, als ich mitbe­kommen habe, wie ehrlich ihr zu­einander wart. Ich frage mich, ob ihr euch gegenseitig verletzt habt. Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass es mich verletzt hätte. Wie war es für dich?» Diese Fragen können zu einem spannenden Dialog zwischen Mut­ter und Tochter führen, in dem bei­de einander besser kennenlernen. Der Dialog wird auch sicher bewir­ken, dass Ihre Tochter über ihre Beziehung zu ihren Freundinnen zu philosophieren beginnt. Vielleicht hat die Aussage der Freundin auch Ihre Tochter verletzt – oder sie hat das Gefühl, dass die Freundinnen sich gegenseitig verletzt haben. Die­ses Gespräch eröffnet Ihnen die Möglichkeit, Ihre Erfahrung und Werte mit Ihrer Tochter zu teilen. Kinder und Jugendliche brauchen stets die Inspiration der Erwachse­nen, um über ihr eigenes Verhalten und die eigenen Meinungen nach­denken und reflektieren zu können. Sie brauchen ganz selten Richter. Kritik und Verbote lähmen, gleich­würdige Dialoge dagegen aktivieren und entwickeln das Gehirn.

Kinder lernen am besten, wenn sie Erwachsene untereinander beobachten.

Eine verbale Botschaft kann erst wirklich verstanden werden, wenn wir auch den Tonfall und die Körpersprache dazu kennen. Die drei Mädchen bei Ihnen zu Hause schei­nen miteinander so «cool» gewesen zu sein, dass sie sich ganz ohne Wut und Scham mit Tatsachen konfron­tieren konnten. Bei dieser Gelegen­heit möchte ich den Eltern dieser drei Mädchen mein Kompliment dafür aussprechen, dass es ihnen gelungen ist, ihren Kindern die Entwicklung der persönlichen Sprache zu ermöglichen. Diese kann vielleicht als ober­flächlich bezeichnet werden, aller­dings hilft sie uns dabei, unsere eigenen Grenzen und die von anderen zu schützen. Es ist sehr wertvoll, neben der persönlichen Sprache auch über die soziale Sprache zu ver­fügen. Kinder lernen sie am besten und am schnellsten, wenn sie Erwachsene untereinander beobach­ten. Erwachsene haben oft das Be­dürfnis, den Kindern beizubringen, wie sie «nett» miteinander reden. Dies fördert den Lernprozess der Kinder selten. Die wichtigste Ur­sache dafür ist wahrscheinlich, dass Belehrung und Kritik von den Er­wachsenen eben nicht «nett» ist, und genau dieses Verhalten macht sie unglaubwürdig.

Kinder sollten lernen, über ihre eigenen Gedanken, Gefüh­le, Erlebnisse und Werte zu sprechen statt über die anderer Menschen.

Sich ausgeschlossen zu fühlen oder auch nur die Angst davor sitzt tief in vielen von uns. Deswegen wollen wir auch unsere Kinder davor schützen. Es ist ein schöner Gedanke, der sich aber nur auf einer oberflächlichen und sozialen Ebene abspielt – also in der Beziehung zu Menschen, die uns nicht speziell wichtig sind. In Freundschaften und Liebesbeziehungen funktioniert es nicht, immer «nett» zu sein. Hier müssen wir früher oder später ler­nen, uns zu zeigen und auch in klei­nen Dingen Nein zu sagen, wenn wir nicht wollen, dass die Beziehung in die Brüche geht oder zur totalen Selbstverleugnung führt. Ehrlichkeit hin­gegen als meine Meinung über dich ist fast nie ehrlich. Wenn wir ab und zu in Bezug auf unsere Gefühle und Meinungen über andere Menschen ehrlich sein müssen, sollte die Ehr­lichkeit immer mit der Liebe Hand in Hand gehen. In diesem Punkt brauchen Kin­der Inspiration und Begleitung von Erwachsenen. Kinder sollten lernen, über ihre eigenen Gedanken, Gefüh­le, Erlebnisse und Werte zu sprechen statt über die anderer Menschen.

Dieses Lernen fängt zum Beispiel damit an, wenn die Tochter der Nachbarn läutet und Ihre Tochter fragt, ob sie mit ihr spielen mag. Wenn Sie merken, dass Ihre Tochter Ja sagt, aber Nein meint, braucht sie Ihre Hilfe, um herauszufinden, wie sie am besten ihre eigenen Bedürf­nisse und Grenzen wahren kann, ohne den anderen zu kränken oder zu verletzen. Das ist eine Kunst, die nur weni­ge von uns Erwachsenen beherr­schen. Deshalb entscheiden wir uns oft für die einfachste Lösung: Wir lehren Kinder, auf eine «nette» Art (also unantastbar) zu lügen. Das ver­letzt den anderen auch, aber wir haben dabei ein Alibi, und nach vie­len Jahren Praxis verschwindet der bittere Beigeschmack – fast!

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

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