«Ich fühle mich oft zwischen Kindern und Karriere zerrissen»

Im Gespräch redet Musikerin Jaël über den Mental Load berufstätiger Mütter, ihre überhöhten Perfektionsansprüche, einen sexuellen Übergriff und warum sich Eltern ihren Altlasten stellen sollten.
Jaël, dein neues Album heisst Midlife. Was bedeutet es für dich, mitten im Leben zu stehen?
Ich fühle mich gelassener und konnte in den letzten Jahren mit vielem Frieden schliessen. Ich empfinde tatsächlich so etwas wie Glück. Das habe ich lange Zeit nicht gekannt, mich auch dagegen gewehrt.
Warum?
Zwischen 20 und 30 litt ich unter starken Depressionen. Liebe war mit viel Herzschmerz und Drama verbunden. Ich fand glückliche Menschen eher langweilig oder sogar spiessig (lacht).
Der Mental Load frisst enorm viel Energie.
Tiefgang, so dachte ich, entsteht nur durch Leiden. Vom Bild der leidenden Künstlerin löse ich mich aber immer mehr. Ich bleibe dennoch eine Melancholikerin.
Wie meinst du das?
Ich war noch nie ein Hans Juppidu. Schon als Kind faszinierten mich Bücher wie «Die Brüder Löwenherz», wo es ums Sterben geht. Ich wurde schon immer vom Dunkeln, von einer gewissen Schwermut angezogen.

In «Only human» singst du über die Herausforderungen berufstätiger Mütter. Was triggert dich am meisten?
Der Mental Load, dieses gleichzeitig an alles denken zu müssen, frisst enorm viel Energie. Eine Karriere mit Kindern voranzutreiben ist eine organisatorische Meisterleistung. Ich bewundere alleinerziehende Mütter. Das könnte ich nicht! Ohne meinen Mann, mein Umfeld und seit Anfang Jahr einer Nanny würde ich niemals alles unter einen Hut bringen.
Du kritisierst auch das Bild der perfekten Mutter, die alles scheinbar mühelos meistert.
Da muss ich mich zuerst ganz fest an der eigenen Nase nehmen. Wie bei allem, das ich angehe, möchte ich es 100 Prozent richtig machen. Also habe ich mich auch ins «Projekt Mutter» voll reingekniet, endlos Ratgeber gelesen, x Sachen befolgt. Ich dachte, ich wäre perfekt vorbereitet.
Und dann kam vor fünf Jahren dein Sohn Eliah, ein Schreibaby, zur Welt …
… und hat mich völlig überrumpelt. Mein Mann und ich sind eher ruhige Typen. Ich selbst war ein verträumtes und introvertiertes Kind und dann kommt ein Schreibaby zu dir. Ich war schockiert und fragte mich sofort: Was mache ich falsch?
Du hast dich mit anderen Müttern verglichen?
Ja klar. Ich besuchte zum Beispiel einen Yogakurs für Mütter mit Baby. Alle anderen Kinder schliefen selig, nur meines schrie wie am Spiess. Dann gehst du nach Hause. Wieder schreit es stundenlang. Du möchtest dein Kind beruhigen, doch es klappt einfach nicht.
Ein Teufelskreis.
Irgendwann schon. Je gestresster du bist, desto weniger beruhigt sich dein Kind. Du gerätst in eine Abwärtsspirale und bekommst Gefühle und Gedanken, die dir Angst machen.
Zum Beispiel?
Die Stresshormone und die Erschöpfung in deinem Körper schreien: «Flüchte, du bist in Gefahr!» und dann spürst du plötzlich den Impuls, dieses schreiende Bündel weit weg zu werfen.
Ich dachte, nur Mütter, die mit fünf Kindern aus einem Kriegsgebiet geflüchtet sind, hätten ein Recht, überfordert zu sein.
Was hat dich dazu bewegt, damit an die Öffentlichkeit zu gehen?
Ich habe viel zu lange gewartet, bis ich mir Hilfe holte. Irgendwann war ich nur noch krank, hatte zwei Bandscheibenvorfälle und war mit den Nerven völlig am Ende. Das muss nicht sein!
Ich möchte betroffene Mütter und auch Väter dazu ermutigen, offen darüber zu reden und sich frühzeitig Hilfe zu holen. Schuldgefühle und eine starke innere Richterin sind kontraproduktiv. Ein Schreibaby ist nicht der Fehler der Eltern.
Es braucht Mut, zu sagen, dass man als Mutter überfordert ist.
Doch es ist die Voraussetzung, um aus dem Sumpf wieder herauszufinden. Ich dachte lange, dass ich das einfach hinnehmen muss. In meinem Kopf hockten Bilder von Müttern, die mit fünf Kindern aus einem Kriegsgebiet geflüchtet sind. Nur sie hätten ein Recht, überfordert zu sein. Aber doch nicht Jaël Malli mit einem grossartigen Job, einem hilfsbereiten Umfeld und einem einzigen Kind!
Hast du die hohen Perfektionsansprüche an dich als Mutter mittlerweile runtergeschraubt?
Ich fühle mich oft zwischen Kindern und Karriere zerrissen. Ich liebe meine Arbeit und will sie gut machen, andererseits liebe ich meine Kinder und möchte möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen. Das kratzt sich immer wieder. Ich bin aber dran und weiss, dass es reichen würde eine «good enough mother», also eine genug gute und keine perfekte Mutter, zu sein. Es wäre für alle entspannter.

Wann wird es schwierig? Hast du ein Beispiel dafür?
Ich möchte eigentlich nicht zu den Müttern gehören, die sich beim Kindergeburtstag einen Wettbewerb liefern. Doch dann kam Eliahs Schwester auf die Welt und ich wollte nicht, dass er sich als zweite Geige fühlt und organisierte dann doch wieder Papipapo mit Schatzsuche und Piratenschifftorte.
Vielleicht machst du dir einfach zu viele Gedanken.
(Überlegt) Ich war schon immer ein sehr reflektierender Mensch. Vielleicht meldet sich hier aber auch meine Hochsensitivität.
Wie zeigt sich das?
Ich nehme vieles völlig ungefiltert und verstärkt wahr: Geräusche, Gerüche, Gefühle anderer Menschen. Es fällt mir oft schwer, mich abzugrenzen.
Ein Lied für hochsensitive Menschen:
Im Song «Paralyzed» verarbeitest du einen sexuellen Übergriff, der dir vor vielen Jahren widerfahren ist. Warum redest du jetzt darüber?
Die Erschöpfung aus den ersten Jahren mit Eliah löste in mir Panikattacken aus, in denen alte Themen wieder hochkamen. Das Körpergefühl des totalen Ausgeliefertseins, des Sich-nicht-wehren-könnens, kam wieder hoch und damit die Erinnerung an diesen Übergriff. Auch hier möchte ich anderen Frauen Mut machen, ihr Schweigen zu durchbrechen. Verdrängen ist keine Option; es holt dich früher oder später wieder ein.
Von Vergewaltigung spricht man im aktuellen Sexualstrafrecht erst, wenn das Opfer beweisen kann, dass es sich gewehrt hat. Das wird sich mit der Revision von Artikel 190 ändern. Jede sexuelle Handlung ohne Zustimmung soll als Vergewaltigung anerkannt werden. Was löst das in dir aus?
Oh, das wusste ich nicht und finde ich sehr wichtig! Ich habe damals den Fehler sofort bei mir gesucht. Als eine Vertraute mich fragte, warum ich mich denn nicht gewehrt hätte, sie hätte das und das getan, war ich erst recht eingeschüchtert. Ich war ja eben komplett paralysiert! Dann war es eine Vergewaltigung (schweigt).

Sehr gut, wenn Frauen vom enormen Druck der Beweislage befreit werden und so vielleicht eher den Mut für eine Anzeige aufbringen.
Wie wichtig ist es für Eltern, sich um die eigenen Altlasten zu kümmern und damit aufzuräumen?
Das ist wohl nicht zu unterschätzen. Die Gefahr ist sonst gross, dass man eigene Lasten oder auch Ahnenthemen einfach weiterschleppt und auf die Kinder überträgt. Es wäre für mich beispielsweise fatal gewesen, wenn ich in meinen Zwanzigern Mutter geworden wäre. Es ist auch jetzt noch eine grosse Herausforderung, doch in der Zwischenzeit konnte ich mit vielem Aufräumen. Davor wären Kinder unvorstellbar gewesen.
Jaëls drittes Soloalbum handelt vom Mitnehmen und Loslassen. «Ich mag dieses Wort. ‹Midlife› ist für mich eine Standortbestimmung in der Lebensmitte, die aber nicht in der Krise endet, sondern in einem analysierenden Rückblick und tiefer Dankbarkeit», sagt die Berner Musikerin. Eine Premiere feiert dabei «IiTii», Jaëls allererster Mundartsong.
Das neue Album erscheint am 31. März 2023 und kann hier vorbestellt werden. Ausserdem verlost Fritz+Fränzi drei Doppelalben mit exklusiven Fotos, persönlichen Gedanken der Songschreiberin sowie einer B-Seite mit Liveaufnahmen der letzten Tour und alternativen Versionen einiger neuer Stücke. Hier gehts zur Verlosung.