Warum ich allen Eltern eine Laura wünsche - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Warum ich allen Eltern eine Laura wünsche

Lesedauer: 4 Minuten

Mit der Mutterschaft ändert sich vieles. Und das Glück wie die Sorgen mit einer echten Freundin teilen zu können, erhält einen unschätzbaren Wert. Ein offener Brief.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren


Liebe Laura

Es ist heute auf den Tag ein Jahr her. Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen: Wie ich da liege, mit zwei anderen Frauen in einem engen Krankenhauszimmer. Durch unsere Masken flüstern wir drei unseren Neugeborenen zu, bestaunen und streicheln sie. Könnten wir den Zauber dieser ersten Lebenstage doch nur ganz und gar mit unseren Partnern teilen! Doch coronabedingt sind die Besuchs­zeiten eingeschränkt, eine einzige Katastrophe. Ich sehne mich nach zu Hause, nach Heimeligkeit. 

«Das hier soll ich dir geben, von Laura», sagt mein Mann beim Reinkommen und hält mir deine Thermosflasche entgegen. Er nimmt einen Suppenteller und Löffel aus seinem Rucksack und öffnet den Deckel. Der Duft der frischen Hühnerbrühe mit knackigem Gemüse und selbstgemachten Nudeln treibt mir Tränen in die Augen. Er weckt eine Erinnerung an Kindertage: als mein Bruder und ich krank im Bett lagen und meine Mutter uns mit dampfender Hühnerbrühe aufpäppelte. Und plötzlich kehrt für einen Moment inmitten des engen, hektischen, sterilen Spitalzimmers ein Stückchen Heimeligkeit ein. Manchmal bedeuten die kleinsten Gesten die Welt. 

Mit dem Duft frischer Hühnerbrühe kehrte ein Stück Heimeligkeit ins Spitalzimmer ein. Und mir kamen die Tränen.

Inzwischen steht die Thermoskanne wieder in eurem Küchenschrank – in der Wohnung unter der unseren. Es ist schon verrückt, dass wir heute Nachbarinnen sind und Kinder im ähnlichen Alter haben, oder? Wenn ich daran denke, dass wir vor gut 20 Jahren noch gemeinsam die Schulbank gedrückt und uns nach dem Abitur in Deutschland irgendwie aus den Augen verloren haben. Ich meine, wie wahrscheinlich ist es, dass man sich Jahre später in der Schweiz wiedertrifft und dann sogar im selben Haus wohnt?

Da hat das Leben etwas richtig gemacht! Denn es heisst doch überall, man brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen. Aber wenn dieses Dorf – die Grosseltern, die Onkel und Tanten – hunderte Kilometer entfernt ist, dann braucht man eben jemanden wie dich, eine Laura. 

Eine Laura, die dich im Alltag unterstützt

Elternsein heisst, viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten zu müssen: sich um die Kinder kümmern, nie dagewesene Unsicherheiten und Sorgen bewältigen, die Partnerschaft nicht vernachlässigen, den Beruf und die Kinderbetreuung aufein­ander abstimmen, den Haushalt schmeissen und die so viel beschworene «Selbstfürsorge» nicht völlig aus den Augen verlieren. Und das alles unter akutem Schlafmangel! Man kann noch so akribisch planen und sich als Eltern absprechen, es muss nur etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen – ein krankes Kind, ein Arbeitstermin, der sich nicht verschieben lässt – und schon gerät man ins Schwitzen. 

Wie wertvoll, wenn man jemanden hat wie dich! Eine, die sagt: «Bring mir den Kleinen doch einfach, dann kannst du in Ruhe zu deinem Termin gehen.» Jemand, der dir einfach so die letzte Wäsche aufgehängt hat, weil sie «ja eh gleich dran ist mit Waschen» und sieht, dass du gerade einen anstrengenden Tag hast. Eine, die dir die Medikamente vor die Tür stellt, wenn dein Kind krank ist.

Eine gute Seele, die hört, wenn dein Baby in einem Entwicklungsschub abends stundenlang schreit – und dir vorsorglich ein stärkendes Abendessen vorbeibringt, anstatt mit dem Besenstiel gegen die Decke zu klopfen. Eine Freundin, die bei den grossen und kleinen Anschaffungen für die Kinder immer wieder sagt: «Ach, das müsst ihr nicht extra kaufen, das könnt ihr doch von uns ausleihen.»

Eine Laura mit einem liebevollen Blick

Wenn man Eltern wird, hat plötzlich jede und jeder eine Meinung. Das fängt mit Fragen an wie: «Uuund, schläft es schon durch?», «Wann beginnst du eigentlich wieder zu arbeiten?», «Was, du stillst noch?», «Habt ihr schon einen Krippenplatz? Wieso (nicht)?».

Weiter geht es mit allzu simplen Ratschlägen und Vergleichen der folgenden Art: «Also meine Kinder konnten in diesem Alter schon », «Man muss halt einfach das Rollo runterlassen, das Kind ohne viel Tamtam hinlegen, dann schäft es schon.» oder «Ihr müsst einfach konsequent sein.» Den Höhepunkt bilden «Lebensweisheiten» über die Entwicklung von Kindern, beispielsweise «Wie man sie zieht, so hat man sie». 

Wie entlastend, wenn man dann eine Laura hat, die mit einem liebevollen Blick auf dich als Mama schaut und dich nicht in eine Schublade steckt! Eine, die über die Krümel auf dem Fussboden und das Spielzeugchaos in deiner Wohnung niemals die Nase rümpft und der du ohne Scham am Mittag im Schlafanzug die Türe öffnen kannst, weil du heute noch zu gar nichts gekommen bist.

Ein Mensch, der spürt, ob man gerade wirklich einen Ratschlag braucht oder einfach ein offenes Ohr, um sich Frust und Sorgen von der Seele zu reden. Eine, die dich daran erinnert, dass schwierige Phasen vorübergehen – und mit der du über die eigenen Macken und die der Kinder lachen kannst. 

Eine Familie, deren Türen offenstehen

Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, denke ich an uns «Kinder von der Ulrichsiedlung». Da waren meine Grosseltern im Haus gegenüber, die alte Nachbarin, die den ganzen Tag aus dem Fenster schaute und uns neugierig beobachtete, und die Nachbarskinder, bei denen man selbstverständlich ein und aus ging. 

Ich finde es traurig, dass viele Kleinfamilien heute viel stärker isoliert und auf sich allein gestellt sind – insbesondere in den Städten.

Es heisst, man brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen. Wenn dieses Dorf aber hunderte Kilometer entfernt ist, braucht es eben jemanden wie Laura.

All diesen Familien wünsche ich eine Laura: ein Haus, in dem man sich immer willkommen fühlt. Menschen ausserhalb der eigenen Familie, die dein Kind so freundlich anlächeln und so liebevoll mit ihm umgehen, als wäre es ihr eigenes. Und die deinen Kindern das Gefühl geben: Interesse, Fürsorge und Vertrauen hören nicht an der Türschwelle der eigenen Familie auf. 

Liebe Laura, das erste Jahr als Mama hat unendlich viele Glücksmomente und einige Herausforderungen für mich bereitgehalten. Ich bin so froh, dass du da warst und all das mit mir geteilt hast. 

Wenn wir alle ein bisschen mehr «Laura» füreinander sind, gewinnt das Elternsein an Leichtigkeit. ­Danke, dass du mich immer wieder inspirierst.

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

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