Was braucht es für ein glückliches Familienleben?
Von Menschen, die nach einem Schicksalsschlag zurück ins Leben gefunden haben, können wir eine Menge lernen, sagt die positive Psychologie. Wie wir erkennen, was im Leben wirklich zählt, und unser Glücklichsein selbst beeinflussen.
Jasmin Bauer erinnert sich an den Moment, der ihr Leben aus den Angeln hob, als ob er gestern war. «Ich war in der 19. Schwangerschaftswoche, als ich die Diagnose Brustkrebs bekam», erzählt die heute 35-Jährige. Ein Schock. Bis dahin schien ihr Leben perfekt. «Ich war sehr zufrieden in meinem Beruf, hatte den Mann geheiratet, den ich liebte, und wir erwarteten unser Wunschkind.»
Für die junge Frau und ihren Mann Michael begann eine harte Zeit mit Chemotherapie während der Schwangerschaft, es folgte eine Operation nach der Geburt des Kindes und ein anschliessender Krankenhausaufenthalt. Michael musste sich in den ersten Wochen alleine um das Neugeborene kümmern.
Die Auseinandersetzung mit belastenden Ereignissen kann einen positiven Wandel bewirken.
Das ist jetzt neun Jahre her. Heute lebt Jasmin mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern im Thurgau. Von der Krebserkrankung hat sie sich erholt. Geblieben ist die Angst vor einem Rückfall. Die Krankheit hat das Familienleben geprägt. Überraschenderweise aber nicht nur im Negativen.
Heute sagt sie: «Michael und unsere Tochter Emily haben durch diese intensive Zeit zu Beginn eine sehr tiefe Bindung. Und wir als Familie haben das Glück wiedergefunden.»
Doch wie kommt es, dass Menschen nach einem Schicksalsschlag wie einer schweren Krankheit, einer langen Arbeitslosigkeit oder dem Tod eines geliebten Menschen zurück ins Leben finden und manchmal sogar gestärkt aus diesen schwierigen Zeiten hervorgehen? Und was können wir alle von ihnen lernen?
Posttraumatisches Wachstum
Jasmin und Michael haben einen Prozess durchlebt, den die Psychologen Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun von der University of North Carolina als «posttraumatisches Wachstum» bezeichnen. Darunter verstehen sie einen positiven psychologischen Wandel, der auftreten kann, wenn Menschen sich mit belastenden Ereignissen auseinandersetzen mussten.
Manche Beziehungen überstehen schwierige Phasen nicht, andere vertiefen sich während dieser Zeit.
Dabei kann es sich um traumatisierende Erfahrungen im engeren Sinne handeln wie Gewalt oder das Miterleben einer Naturkatastrophe, aber auch um andere gravierende Einschnitte im Leben wie das Verlassenwerden nach einer langen Partnerschaft oder den Verlust des Arbeitsplatzes.
Die beiden Forscher fanden heraus, dass die Bewältigung solcher Ereignisse und die Anpassung an die neuen Umstände bei einem grossen Teil der Menschen zu einer persönlichen Weiterentwicklung in mindestens einem der folgenden fünf Bereiche führt:
1. Rückhalt erfahren
Krisen setzen Beziehungen einer Belastungsprobe aus: Manche Verbindungen überstehen schwierige Phasen nicht, andere vertiefen sich während dieser Zeit. Gleichzeitig entwickeln manche Menschen aus der eigenen Erfahrung von Leid und Hilflosigkeit mehr Empathie. Auch Michael und Jasmin erzählen: «Unsere Familie und Freunde als Unterstützung zu spüren, machte uns dankbar und glücklich.»
2. Sich seiner Stärke bewusst werden
In einem Moment von Schwäche und Hilflosigkeit können ungeahnte Kräfte in uns freigesetzt werden. Jasmin sagt dazu: «Für mich war nach dem ersten Schock klar: Ich kämpfe für mich und unser Baby!» Oft stellt sich dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit und Stärke erst lange nach dem belastenden Ereignis ein. Viele Menschen beschreiben, dass sich die kleinen Sorgen und Nöte des Alltags relativieren und man weiss: Ich bin schon mit viel Schlimmerem fertiggeworden.
3. Neue Perspektiven entwickeln
Wer mit der eigenen Endlichkeit oder dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert wird oder vor den Trümmern der eigenen Existenz steht, stellt sich zwangsläufig existenzielle Fragen: Bin ich zufrieden mit meinem Leben? Was bereue ich? Hinterlasse ich das, was mir wichtig ist?
Wer erleben musste, wie schnell das Leben aus den Fugen geraten kann, wird manchmal achtsamer.
Menschen sprechen nach einem lebensbedrohlichen Ereignis oft davon, dass ihnen ein zweites Leben geschenkt wurde und sie dieses bewusster leben möchten. Im Zuge dessen kommt es oft zu einer Besinnung auf die Familie, einer beruflichen Neuorientierung oder zu einem Schritt, zu dem einem vorher der Mut gefehlt hat.
4. Stärkere Wertschätzung für das eigene Leben
Im Alltag handeln wir oft so, als hätten wir unendlich viel Zeit. Dann verschieben wir Dinge, die uns wirklich wichtig sind, auf später, um etwas scheinbar Dringendes zu erledigen oder uns materielle Wünsche zu erfüllen. Wer erleben musste, wie schnell das Leben aus den Fugen geraten kann, wird manchmal achtsamer und kann die Momente im Hier und Jetzt bewusster geniessen.
5. Spiritualität
Extremsituationen motivieren Menschen dazu, nach dem Sinn in ihrem Leben zu suchen. Manche finden dadurch eine stärkere Verbindung zu einer Religion oder Spiritualität im Allgemeinen, andere spüren eine grössere Verbundenheit mit anderen Menschen, der Natur oder dem Leben an und für sich.
Für Jasmin hat sich der Glaube im Zuge ihrer Krebserkrankung vertieft: «Einer der grössten Anker in dieser Zeit voller Angst war für mich der Glaube an Gott. Er gab mir Kraft und hielt seine Hände über mich und unser Kind. Das Vertrauen in den Glauben stärkte mich. Auf diese Glaubenstiefe kann ich immer noch zurückgreifen.»
Verarbeitung starker Belastungen braucht Zeit
Das Wissen, dass man an schwierigen Situationen auch wachsen kann, kann Menschen in Krisen Hoffnung schenken. Fatal wäre es, daraus eine Forderung abzuleiten, das Erlebte «doch mal positiv» zu sehen oder die «Krise als Chance» zu begreifen.
Wie eine Übersicht über verschiedene Studien von Judith Mangelsdorf, Professorin für positive Psychologie, und ihrem Team aus dem Jahr 2019 zeigt, braucht es Zeit, um starken Belastungen auch positive Aspekte abzuringen.
So tritt ein posttraumatisches Wachstum meist frühestens eineinhalb Jahre nach dem Ereignis ein und tritt eher auf, wenn das Umfeld geduldig ist, Verständnis zeigt und Sicherheit bietet. Posttraumatisches Wachstum zeichnet sich dadurch aus, dass wir im Rückblick einschneidende Erlebnisse und deren Bewältigung in einem neuen Licht betrachten.
Dabei werden Erfahrungen, die man zuvor nur als sinnlos und schmerzhaft betrachtet hat, durch andere Empfindungen und Gedanken angereichert.
Mit der Zeit und mehr Distanz kann sich die Art und Weise ändern, wie man über ein traumatisches Erlebnis nachdenkt.
So brach für die damals 34-jährige Carina Schmidt aus dem Kanton Luzern zunächst eine Welt zusammen, als sie erfuhr, dass ihr Sohn mit einer geistigen Behinderung zur Welt kommen würde. Sie war fassungslos, wollte die Tatsache nicht wahrhaben und sorgte sich, dass sie keine Beziehung zu ihrem Kind würde aufbauen können.
Heute, 18 Jahre später, sagt sie: «Unser Sohn bereichert uns. Er bringt eine grosse Herzlichkeit in die Familie. Er öffnet die Herzen der Menschen, denen er begegnet.» Das habe wesentlich dazu beigetragen, dass sie selbst fortan weniger auf Leistung und Erfolg ausgerichtet gewesen sei. «Verbindungen zu anderen und Freude am Leben sind mir wichtiger geworden.
Wir haben als Familie gelernt, dass es völlig normal und in Ordnung ist, anders zu sein als der Durchschnitt. Ich denke, wir spüren weniger Druck, uns an Normen anzupassen, und wir begegnen Menschen, die in irgendeiner Hinsicht anders sind, offener.»
Wie kann man posttraumatisches Wachstum fördern?
Posttraumatisches Wachstum bedeutet nicht, dass schwierige Aspekte oder unangenehme Empfindungen ausgeblendet werden. Vielmehr erlaubt man sich, im Nachhinein auch Gefühle wie Dankbarkeit, Hoffnung und Verbundenheit zuzulassen. Man entdeckt vielleicht, dass man an Reife gewonnen hat, seinen Blick für das Wesentliche im Leben schärfen konnte und krisenfester geworden ist.
Die Forschung zeigt, dass Menschen zunächst oft versuchen, eine schwierige Erfahrung zu verdrängen, oder lange darüber nachgrübeln, weshalb dies ausgerechnet ihnen passiert ist. Mit der Zeit und mehr Distanz, manchmal auch durch Gespräche oder eine Therapie, kann sich die Art und Weise verändern, wie man über das Geschehene nachdenkt.
Konstruktiver Umgang mit schwierigen Ereignissen
Der Psychologe Philip Watkins und sein Team von der Eastern Washington University wollten wissen, ob man Menschen dabei helfen kann, einschneidende Lebensereignisse bewusst aus einer Wachstumsperspektive heraus zu betrachten. Sie liessen Versuchspersonen an drei Tagen für jeweils 20 Minuten über ein Ereignis schreiben, das sie noch immer beschäftigt.
Während ein Teil nur über das Ereignis und ihre belastenden Gefühle schrieb, sollte sich die andere Gruppe diesem aus einer Perspektive der Dankbarkeit heraus nähern und darüber schreiben, welche positiven Folgen sich aus dem Erlebten ergaben, auch wenn man auf den ersten Blick wahrscheinlich nur Negatives daran wahrnimmt.
Diese Gruppe konnte in der Folge das Erlebte besser loslassen. Sie wurde seltener von schmerzhaften Bildern und Gedanken an das belastende Ereignis heimgesucht und empfand die Erinnerung daran als weniger unangenehm.
Vielleicht gibt es in Ihrem Familienleben ebenfalls einen Moment, den Sie auch nach längerer Zeit schlecht loslassen können: Eine Erfahrung, die noch immer Trauer, Wut, Angst oder Unsicherheit in Ihnen auslöst. Es kann heilsam sein, dieses Ereignis aufzuschreiben und die folgenden Fragen dazu zu beantworten:
- Gab es aus heutiger Sicht irgendetwas, wofür dieses Erlebnis gut war?
- Habe ich bei der Bewältigung dieser Erfahrung etwas Wichtiges gelernt oder neue Fähigkeiten und Stärken entwickelt, die mein Leben heute bereichern?
- Konnte ich diese Erfahrung für mich oder andere in irgendeiner Weise nutzen?
- Gab es Beziehungen, die dadurch gewachsen sind und für die ich heute dankbar bin?
- Gab es andere, schöne Erfahrungen, die ich ohne dieses Ereignis eventuell nicht hätte machen können (beispielsweise, weil ich durch dieses Ereignis jemanden kennengelernt oder etwas in meinem Leben verändert habe)?
- Hat mir dieses Ereignis dabei geholfen, mir klarer darüber zu werden, was ich in meinem Leben will und was nicht?
- Inwiefern bin ich dadurch reifer geworden?
- Bin ich durch das Ereignis für zukünftige Herausforderungen besser gerüstet?
Es ist hilfreich, die Antworten schriftlich festzuhalten und diese Übung mehrmals zu wiederholen. Manchmal fällt einem beim ersten Anlauf noch gar nichts ein oder man empfindet einen inneren Widerstand gegen solche Fragen. Mit der Zeit entdeckt man beim Aufschreiben vielleicht neue, auch unerwartete Aspekte – ohne deswegen die rosarote Brille aufzusetzen und Schmerzhaftes einfach auszublenden.
Viele von uns sind gefangen im Alltagstrott. Die Jahre ziehen vorüber, es geht einem im Grossen und Ganzen gut, aber: Fühlen wir uns wirklich lebendig und gestalten unser Leben so, dass wir später gerne darauf zurückschauen?
Wenn wir im Alltag das Glück aus den Augen verlieren
Gerade wenn es uns eigentlich gut geht, besteht die Gefahr, dass wir an unserem Glück vorbeileben. Wir geraten in eine Falle, die die positive Psychologie als hedonistische Tretmühle bezeichnet. Dabei jagen wir stets dem nächsten Glückskick hinterher, der sich einstellt, wenn wir uns etwas Neues leisten, auf der Karriereleiter eine Sprosse höher klettern oder einen noch spezielleren Urlaub planen.
Wir sind getrieben vom Gedanken: «Wenn ich dies oder jenes habe, werde ich endlich glücklich sein», nur um bald zu merken, dass das Glück nicht von Dauer ist und wir nach einem kurzen Hochgefühl wieder am Anfang stehen.
Gerade wenn es uns eigentlich gut geht, besteht die Gefahr, dass wir an unserem Glück vorbeileben.
Die Forschung zum posttraumatischen Wachstum kann uns alle daran erinnern, was wirklich zählt und langfristig zu einem gelungenen Leben beiträgt. Krisen können uns schmerzlich bewusst machen, dass das, was wir haben, nicht selbstverständlich ist.
Wie wäre es, wenn ich mehr Geld verdienen würde, die Beförderung erhielte, schlanker und sportlicher wäre oder meine Kinder braver, dankbarer und schulisch erfolgreich wären? Oft stellen wir uns vor, was wir alles noch erreichen möchten oder uns zu unserem Glück noch fehlt.
Das ist ganz natürlich und kann uns dazu antreiben, Ziele zu setzen und darauf hinzuarbeiten. Gleichzeitig sorgt die Lücke zwischen der Realität und unserem Ideal für Unzufriedenheit und Druck.
Wie wir auch ohne einschneidendes Erlebnis dankbarer werden können
Vielleicht brauchen wir aber gar keine Krise, um all das Wertvolle in unserem Leben zu sehen und zu schätzen? Merken wir, dass uns der Strudel von Alltagstrott und Unzufriedenheit mitreisst, kann uns die «mentale Subtraktion» helfen.
Dabei denken wir an etwas, das uns wichtig ist: eine Freundschaft, eines unserer Kinder, den Partner, unsere schöne Wohnung, den spannenden Beruf oder unsere Gesundheit, und stellen uns vor, wie es wäre, wenn das plötzlich fehlt.
Wie wäre es, wenn ich diesen Menschen nie kennengelernt hätte, dieses Kind nie geboren worden oder ich morgen arbeitslos wäre? Im ersten Moment können diese Vorstellungen ziemlich beklemmend sein. Aber indem wir merken, was uns fehlen würde, werden wir dankbarer für das, was wir haben, und können es mehr geniessen.