Alles fürs Kind
Darf ich Ihnen eine unverschämte Frage stellen?
Welche Statussymbole sind Ihnen wichtig?
Bitte, keine falsche Scheu, niemand hat keine Statussymbole. Uns allen sind bestimmte Dinge wichtig, die signalisieren, dass wir auf der richtigen Seite stehen, es im Leben geschafft haben oder distinguierter sind als andere. Mein Statussymbol? Glückliche Kinder.
Wenig wärmt mein Herz mehr, als der Anblick unserer Tochter, die freudestrahlend von einem Ausflug nach Hause kommt. Nichts hat unsere kleine Familie nachhaltiger beruhigt als die Nachricht, dass unser Sohn eine Lehrstelle gefunden hat.
Und nie war ich ihm näher, als er bei den Junioren einen Angriff der gegnerischen Mannschaft mit einem sauberen Tackling verhinderte und stolz zu mir an der Seitenlinie herübergrinste.
Das Problem: Was ich da fühle, nennt sich in der Soziologie «Kindzentrierung». Es geht, wenn ich das richtig verstanden habe, darum, dass man sein eigenes Glück vom Glück eines anderen abhängig macht. Das allein ist schon ungut. Aber in diesem Fall ist es ein Kind – das eigene! –, das wir für unser Wohlbefinden verantwortlich machen.
In einer kindzentrierten Familie stehen nicht mehr die Bedürfnisse und Ansprüche der Eltern im Zentrum der Familie, sondern die des Kindes. Viele werden das kennen: Man stellt die eigenen Interessen hinter die des Kindes zurück. Die emotionalen Bedürfnisse verlagern sich von der Partnerebene auf die Beziehung zum Kind.
Konkret gehen wir bei der Kindzentrierung einen Tauschhandel mit dem Kind ein: Wir lieben dich und werden versuchen, alles richtig zu machen – gesunde Ernährung, Astrid Lindgren rauf und runter, Kita (aber nicht jeden Tag), Waldkindergarten, Frühförderung (aber nicht zu viel), vielleicht sogar auf die Montessorischule? –, und im Gegenzug sollst du aber bitte auch gesund und glücklich sein.
Das glückliche Kind ist das Statussymbol unseres gelungenen Lebens.
Wir würden das so nie formulieren. Wir sagen: Wir lieben dich, so wie du bist. Und das stimmt auch. Und zugleich gibt es eine implizite, oft unbewusste Erwartungshaltung von uns Eltern an das Kind: Wir machen alles fürs Kind – damit es gut rauskommt. Damit es ihm gut geht. Damit es uns gut geht.
Wir wollen das Beste fürs Kind? Ja, natürlich. Aber wir wollen auch das Beste für uns. Das glückliche Kind ist das Statussymbol unseres gelungenen Lebens. In der Psychologie spricht man von Übertragung, wenn man seine eigenen Ängste, Unsicherheiten, Hoffnungen und Bedürfnisse auf andere projiziert.
Indem wir mitleiden, wenn es einen schlechten Tag im Kindergarten hatte, und strahlen, wenn es eine gute Note bekommt, signalisieren wir nicht nur «wir fühlen mit dir», «wir verstehen dich», sondern auch «du bist zuständig für unser Wohlsein».
Das Kind wird zu einer quasireligiösen Erlöserfigur, die nicht nur die Familie beglücken, sondern sogar die ganze Welt retten soll (Fridays for Future). Die Wahrheit aber lautet: Kein Kind kann all diese Erwartung erfüllen. Natürlich ist das überspitzt formuliert.
Und sicher ist es nicht gut, sein Kind zu vernachlässigen. Aber wir müssen uns fragen: Für wen genau machen wir eigentlich dieses ganze Perfekte-Kindheits-Ding? Für das Kind – oder am Ende doch vor allem für uns selbst?