Die Sache mit den Kindern: Eine vorläufige Bilanz
Unser Autor fragt sich, was bald 18 Jahre Vatersein mit ihm gemacht hat, und was er daraus gelernt hat. Eine Erkenntnis sei vorweggenommen: Was man in der Erziehung auch macht – das Gegenteil ist auch immer falsch.
Ich stehe an einem Punkt im Leben, an dem ich, verzeihen Sie mir das Bild, das Licht am Ende des Tunnels sehe. Meine Kinder sind jetzt 17 und 12. Das heisst, ich habe das Gröbste hinter mir. Die Erziehung ist weitestgehend abgeschlossen, ich kann ihnen jetzt nicht mehr viel beibringen, und sollte ich es doch versuchen, werden sie es mit Augenrollen quittieren. Ich kann nur hoffen, dass sie etwas mitgenommen haben von dem, was mir wichtig schien. Hoffen, dass ich in den richtigen Momenten ihre Hand hielt und sie in den richtigen Momenten wieder losliess.
Die beiden entfernen sich langsam aber sicher von mir, und mitunter habe ich das Gefühl, jetzt erst etwas klarer zu sehen, was die letzten Jahre eigentlich los war. Das hier wird also eine vorläufige Bilanz dessen, was ich gelernt habe.
Im Auge des Orkans
Mein vorherrschendes Gefühl als Vater war, in einem tollen, aber zu anspruchsvollen Job zu stecken, überfordert von der Belastung, alles sollen zu müssen und nichts richtig machen zu können. Ständig stand man inmitten eines nicht enden wollenden Orkans, und sobald er sich doch legte, vergass man ihn, weil bereits der nächste drohte.
Kinderhaben ist Superzeitlupe und schneller Vorlauf in einem: Wenn man Tobsuchtsanfälle handeln, mit Holztieren spielen oder in überfüllten Wartezimmern der Notaufnahme hocken muss, dann wandeln sich Sekunden in eine zähe Einheit aus Blei und Teer.
Die Tage sind lang, aber die Jahre sind kurz. Geniessen Sie also die Minuten, die Ihnen wie Stunden vorkommen.
Zugleich aber rast die Zeit: Eben konnten die Kleinen noch nicht gehen, plötzlich drehen sie Joints. Erst hinterher versteht man, dass mit Kindern folgende Formel gilt: Die Tage sind lang, aber die Jahre sind kurz. Geniessen Sie also die Minuten, die Ihnen wie Stunden vorkommen.
Sagte ich vorhin, dass sich die Kinder von mir entfernen? Das stimmt nicht ganz, sie entfernen sich von uns. Denn ich hatte das Glück im Leben, die Kinder nicht alleine zu erziehen. Nicht, dass das unmöglich wäre, mit meiner Mutter hatte ich da eigentlich ein hervorragendes Vorbild. Aber es ist doch leichter, das Kochen und das Aufräumen, die Verzweiflung und den Wahnsinn, das Glitzern und das Glück zu teilen.
Und wir waren auch nicht zu zweit. Da waren noch Grosseltern, Onkel und Tanten, ein ebenso verrückter wie entzückender Babysitter, Erzieherinnen und Lehrer, Nachbarn und Freunde. Sie alle gehörten zum Bezugsrahmen unserer Kinder. Sie alle, nicht wir, waren zuständig für die Erziehung unserer Kinder. Zu glauben, man selbst alleine wisse, was für sein Kind am besten ist, ist eine Anmassung. Ich glaube sogar, das Gegenteil ist wahr: Je mehr vertrauensvolle Bezugspersonen ein Kind hat, desto eher ist eine darunter, die ihm entspricht.
Wir wurden zu einem Zeitpunkt Eltern, als wir selber noch unterwegs waren. Wohin, wussten wir nicht. Und weil es schwer ist, anderen zu zeigen, wie sie leben sollen, wenn man selbst nicht weiss, was man vom Leben will, konnten wir unseren Kindern ausser jugendlicher Energie und Liebe nicht viel bieten.
Kein Zürück
Die Sache mit Kindern ist die, dass du nicht mehr Ctrl + Z drücken kannst. Du kannst nicht mehr zurück, um ein paar Weichen in deinem Leben anders zu stellen. Du wirst mit einem Schlag älter. Alles ändert sich. Alles wird verbindlich. Das hat auch Gutes. Die Selbstbezogenheit nimmt ab. Du lernst über Nacht, was es heisst, Verantwortung zu übernehmen, und auch, was es heisst, sie zu tragen. Und dass das etwas vom Schönsten ist. Und vom Schwersten. Noch etwas zum richtigen Zeitpunkt: Eigentlich passt es nie. Warum nicht jetzt?
Trotz unserer jetzt fast 18-jährigen Erfahrung als Eltern würde ich uns nicht als «erfahren» bezeichnen, denn Erfahrung setzt ja irgendwie voraus, dass man daraus schlau geworden wäre. Tatsächlich aber ist es nicht so, dass ich das Gefühl habe, jemandem Tipps geben zu können oder sichere Erkenntnisse gewonnen zu haben.
Je aufrichtiger ich mit anderen Eltern spreche, desto mehr beschleicht mich der Verdacht, dass niemand wirklich weiss, wie es geht, das mit den Kindern.
Wir waren jung und ahnungslos und versuchten irgendwie, das Beste daraus zu machen. Und ging das nicht allen so? Je aufrichtiger ich mit anderen Eltern spreche, auch mit meinen eigenen, desto mehr beschleicht mich der Verdacht, dass niemand wirklich weiss, wie es geht, das mit den Kindern. Niemand kennt das richtige Verhältnis zwischen Liebe und Strenge. Niemand weiss, wie man Genervtheit in Gelassenheit verwandelt, Sorge in Vertrauen und Härte in Klarheit. Und am allerwenigsten wissen es jene, die dir mit grosser Sicherheit erklären, was richtig ist.
Heute denke ich, in der Erziehung gilt: Das Gegenteil ist auch immer falsch. Es wird so viel über die Kinder gesprochen. Über die richtige Ernährung, das richtige Erziehungskonzept, die richtige Schule und den richtigen Umgang mit sozialen Medien. Aber ist es eine ehrliche Diskussion?
Das Gefühl tiefer Verzweiflung
Es gibt wenig Platz für Zugeständnisse. Selten hört man, dass vielleicht nicht immer alles reibungslos läuft, dass nicht alle Gefühle, die man für seine Kinder hegt, auch wenn man sie noch so sehr liebt, immer ausschliesslich positiv sind. Ganz zu schweigen vom Druck, der auf einem lastet, alles richtig machen zu müssen. Wir reden nicht darüber. Dabei ist doch das Gefühl tiefer Verzweiflung beim Erziehen der eigenen Kinder eines der universellsten Erlebnisse, die das Menschsein überhaupt mit sich bringt.
Wenn ich über meine Kinder und meine Erfahrung als Vater schreibe, muss ich auch über die Liebe schreiben. Es ist etwas vom Beeindruckendsten, was ich je erlebt habe: dass ich meine Kinder so liebe. Und in der Liebe zu meinen Kindern passiert etwas Merkwürdiges: All das Grosse – Freiheit, Anerkennung, Karriere, Romantik, Selbstbestimmtheit –, das mein Leben so dominiert, wird plötzlich unbedeutend und klein. Und das Kleine, das Alltägliche, das vermeintlich Unmännliche – also Windeln wechseln, Einkäufe erledigen, Wäsche zusammenlegen, Schwächen eingestehen, von Niederlagen berichten – wird wichtig und gross.
Da ist eine Person, die dich braucht, mehr als du sie. Eine Person, die ohne dich nicht sein kann. Käthe Kollwitz, eine Künstlerin aus den 1920er-Jahren, hat einmal über das Eltern-Kind-Verhältnis gesagt: Die Liebe von den Eltern hin zu den Kindern ist immer stärker als umgekehrt.
Es handle sich um eine der intelligentesten Einrichtungen der Natur: Die Kinder erhalten – im besten Fall – das, was sie am nötigsten brauchen, bedingungslose Liebe, und können dennoch zu Unabhängigkeit reifen, weil sie eben keine Gegenleistung erbringen müssen, also nicht durch ihre Liebe an die Eltern gebunden sind. Liebten auch die Kinder ihre Eltern auf eine solche Art und Weise, gelänge ihnen der Aufbau eines eigenen, unabhängigen Lebens nicht.
Kinder sind nicht dazu da, unserem Leben Halt oder gar Sinn zu geben.
Auch wenn es oft schmerzt, dass die Kinder Dinge anders machen, als man es sich vorgestellt hatte, wenn sie sich nicht (mehr) so sehr auf einen beziehen, sich sogar abwenden, so ist genau das notwendig. Genau das braucht es, damit Menschen jemand Eigenes werden können.
Hier die vielleicht einzige wirklich handfeste Erkenntnis, die ich gewonnen habe: Als Eltern können wir von unseren Kindern nicht die gleiche Liebe einfordern, wie wir sie ihnen zu geben bereit sind. Kinder sind kein Projekt. Sie sind nicht dazu da, unserem Leben Halt oder gar Sinn zu geben.
Wir schulden unseren Kindern keine perfekten Verhaltensweisen
Das heisst, wir müssen uns in der Vorstellung üben, dass wir als Eltern keine nennenswerte Belohnung für unsere Arbeit erhalten werden. Unsere Kinder sind uns nichts schuldig. Am Ende können wir nur selber Bilanz ziehen und müssen uns dann vielleicht eingestehen, dass wir verzweifelt auf unsere Belohnung warteten und uns in die bittere Abhängigkeit unserer eigenen Bedürfnisse manövrierten. Schlimmer noch: dass wir damit auch unsere Kinder in Bedrängnis brachten, durch erdrückende Überbemutterung, masslose Vatererwartungshaltung oder rigide Wertvorstellungen.
Wie aber soll man verhindern, Sklave seiner eigenen Bedürftigkeit zu sein? In einer Welt, in der so viele Menschen über ihre eigenen Bedürfnisse keine Klarheit haben? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass dies ein hohes Mass an Selbstkenntnis fordert. Und dass wir uns selbst und unseren Kindern und eigentlich allen Menschen, zu denen wir in Beziehung stehen, keine perfekten Verhaltensweisen schulden, wohl aber die aufrichtige Anstrengung, uns selber zu kennen.
Eltern sein, ohne Kinder zu haben
Zum Schluss noch dies: Nach knapp 18 Jahren Elternschaft frage ich mich manchmal: Hätte ich mir ein Leben ohne Kinder vorstellen können? Ja. Nicht ohne meine Kinder, aber ohne Kinder. Kinder haben, erfüllt dein Leben, aber du brauchst keine eigenen, um ein erfülltes Leben zu haben.
Den Gedanken habe ich von der wunderbaren kanadischen Autorin Sheila Heti, die in ihrem Roman «Mutterschaft» über die (schwere) Entscheidung für oder gegen Kinder schreibt. Am Ende des quälenden Einerseits-Andererseits kommt sie zu der ebenso schlichten wie schönen Erkenntnis, dass man nicht Mutter werden muss, um Mutter zu sein. «Die ganze Welt will bemuttert werden», schreibt sie, und weiter: «Überall gibt es Existenzen und Verpflichtungen, die nur so nach einer Mutter schreien. Diese Mutter könntest du sein.» Ihr Punkt ist, dass es so viele Kinder gibt, dass es so viel zu tun gibt, so viel Leben zu bejahen, so viel Liebe zu schenken. Du musst nicht leibliche Kinder haben, um Muttergefühle, genauer: Elterngefühle auszuleben.
Du kannst adoptieren, du kannst dich aber auch um Nachbarskinder kümmern, Patenschaften eingehen, dich Auszubildenden widmen. Denn Erwachsene sind ja auch nichts anderes als ehemalige Kinder, auch sie brauchen Hilfe und Feedback, Zuspruch und Grenzen, Leitplanken und Vorbilder.
Als ich neu im Berufsleben war, hatte ich eine Chefin, die ihre Angestellten – und damit auch mich – wie eine Löwenmutter gegen aussen verteidigte, uns aber auch mit einer unglaublichen Strenge beäugte und die uns nichts, wirklich gar nichts durchgehen liess. Sie hatte keine Kinder, und doch erzog sie mich und uns zu besseren Journalisten. Zu besseren Menschen. Sie hatte keine Kinder, aber sie war eine Mutter.
Ich stehe an einem Punkt im Leben, an dem meine Kinder mir langsam entwachsen. Sie werden immer grösser, und grösser werden auch ihre Wünsche, ihre Pläne, ihre Sorgen – und meine Ratlosigkeit. Und im gleichen Takt, wie mein Einfluss auf sie schwindet, wächst meine Liebe zu ihnen.