«Ist es noch vertretbar, Kinder in die Welt zu setzen?»
Die Philosophin Barbara Bleisch sagt, dass die Entscheidung für ein Kind eine der existenziellsten ist, die wir heute noch treffen können. Ein Gespräch über die Unumkehrbarkeit des Elternseins, das Recht auf eine offene Zukunft und die Frage, ob sich die Klimajugend überhaupt noch Kinder wünscht.
Frau Bleisch, warum entscheiden wir uns dafür, Kinder zu bekommen?
Das ist eine schwierige Frage. Die meisten, die Kinder haben, könnten darauf keine Antwort geben. Viele würden wohl sagen, sie hätten einfach den Wunsch nach einem Kind verspürt. Einige sehnen sich nach der spezifischen Lebensform, die Elternschaft mit sich bringt. Andere möchten für ein Wesen Verantwortung übernehmen, eigene Ideen und Werte weitergeben oder einen kleinen Menschen bedingungslos lieben und auch von ihm geliebt werden.
Der Kinderwunsch gleicht einer Gemengelage aus gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen, biologischen Ursachen, innigen Sehnsüchten und Vorstellungen vom geglückten Leben. Ihn auf den Fortpflanzungstrieb zu reduzieren, ist nicht plausibel.
Mit dem Bekenntnis zu einem Kind setzt man sich einer grossen eigenen Verletzlichkeit aus.
Aus welchem Grund?
Zu behaupten, der Kinderwunsch gleiche einer biologischen Notwendigkeit und seine Erfüllung sei deshalb «natürlich», würde bedeuten, dass diejenigen Menschen, die diesen Wunsch nicht verspüren, irgendwie defizitär sind. Ausserdem würde man mit einem solchen Biologismus das Kinderbekommen in die Nähe des Sexualtriebs rücken. Wir können heute Sexualität aber unabhängig von der Frage der Zeugung leben. Ausserdem ist es möglich, sich auch von «naturwüchsigen» Sehnsüchten zu distanzieren und anderen Wünschen den Vorrang zu geben, beispielsweise den beruflichen.
Was unterscheidet denn das Elternwerden von anderen grossen «Lebensprojekten»?
Die Entscheidung für Kinder ist wohl eine der existenziellsten, die man treffen kann. Sie ist unumkehrbar: Eltern bleibt man ein Leben lang. Und sie ist exklusiv: Nur ein bisschen Vater oder Mutter sein ist meist nicht möglich, vielmehr wird man zur ersten Ansprechperson für das Kind. Ausserdem betritt man unbekanntes Terrain: Man weiss nicht, wie das eigene Kind sein wird, man kann weder sein Temperament vorwegnehmen noch wissen, ob es vielleicht einmal auf Abwege gerät. Mit dem Bekenntnis zu einem Kind setzt man sich einer grossen eigenen Verletzlichkeit aus.
Ausserdem weiss man nicht, wie man sich selbst verändert.
Richtig. Viele sagen, dass sie, als sie Eltern wurden, selber neu geboren wurden. Tatsächlich ist Elternsein eine andere soziale Daseinsform. Elternschaft ist vielleicht sogar eines der grössten Abenteuer, auf das wir uns in unserer abgesicherten, durchorganisierten Welt noch einlassen können.
Aber machen Kinder auch glücklich? Oder anders gefragt: Sind Eltern die glücklicheren Menschen?
Es gibt viele Studien zu dieser Frage, die sich zum Teil massiv widersprechen. Tendenziell sind Eltern in der Kleinkindphase eher unglücklicher als kinderlose Paare. Mit zunehmendem Alter der Kinder steigt das elterliche Glücksempfinden wieder an, um dann im Grosselternalter das Glücksempfinden von Menschen ohne Nachkommen zu übersteigen. Mich stört an solchen Studien allerdings, dass der Glücksbegriff der Sozialwissenschaften einseitig ist.
Inwiefern?
Glück wird meist mit Lebenszufriedenheit gleichgesetzt, und die hängt auch davon ab, ob wir genug Schlaf bekommen, unsere Beziehung zum Partner tragfähig ist, wir Zeit haben für uns selbst. Geht man allerdings von einem Glücksbegriff aus, der näher beim Gefühl der Sinnhaftigkeit angesiedelt ist, sind Eltern oft glücklicher als Kinderlose. Eigene Kinder zu haben, scheint sich für viele sinnstiftend auszuwirken.
Kinder verändern sich, und damit verändert sich auch unsere Beziehung zu ihnen.
Gerade der Alltag mit kleinen Kindern kann sehr aufreibend sein.
Und körperlich anstrengend. Ich sehe mich noch mit meinen beiden Töchtern, die eine auf dem Arm, die andere im Kinderwagen, an der anderen Hand noch Einkaufstüten, kein Lift im Haus. Aber es war auch eine sehr innige Zeit, in der die Kinder in den eigenen Armen ganz und gar geborgen waren und einem entgegenrannten, wenn man nach Hause kam.
Und das fehlt später?
Kinder verändern sich, und damit verändert sich auch unsere Beziehung zu ihnen. Der Philosoph Immanuel Kant sah die Aufgabe der Eltern vor allem darin, die Kinder zur Mündigkeit zu erziehen. Eltern besitzen ihre Kinder nicht, sie begleiten sie nur und müssen sie in die Freiheit entlassen. Das bedeutet, einen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen die Freiheit eingeübt werden kann. Das Schwierigste dabei: Wie durchlässig darf und soll der Rahmen sein?
Mit Beginn der Pubertät wird das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern oftmals schwieriger.
Auch in Freundschaften gibt es Phasen, in denen man sich nicht so gut versteht, in denen Gespräche harziger verlaufen, weil sich beide in unterschiedliche Richtungen entwickeln, aber irgendwann findet man sich wieder und die Freundschaft wächst an der Krise vielleicht sogar. Mit Kindern ist es ähnlich.
Es gibt Phasen, in denen einem die eigenen Kinder sehr vertraut sind. Dann machen sie einen Entwicklungsschritt und man fragt sich vielleicht, ob man das eigene Kind noch kennt. Meine Töchter sind mittlerweile 10 und 12 Jahre alt. Wenn sie nach Hause kommen, fragen sie oft, was ich gemacht habe und wie mein Tag war. Dass sie auch wissen wollen, wie es mir geht, rührt mich immer noch jedes Mal.
Nun führt die Wahlfreiheit dazu, dass Kinder heute mehr und mehr sorgfältig in die eigene Biografie eingefügt werden. Zugespitzt könnte man sagen: Kinder werden zum Projekt der Eltern, in das neben Geld auch viel Zeit, Kraft und Wissen investiert wird.
Das stimmt sicher. Aber ich würde diese Entwicklung erst einmal gar nicht so negativ bewerten. Wir wissen heute genauer, was ein Kind braucht, haben die Möglichkeit, bei Bedarf Experten zu Rate zu ziehen, oder können Kinder gezielt fördern. Das zeigt zunächst, dass wir für unsere Kinder das Beste wollen und auch die Ressourcen haben, uns bewusst um sie zu kümmern. Dass Kinder heute nicht mehr die Altersvorsorge ihrer Eltern sind oder nützliche Arbeitskräfte, ist mit Sicherheit eine willkommene Entwicklung.
Ab welchem Punkt wirkt sich diese Entwicklung schädlich für das Kind aus?
Wenn das Kind nicht mehr sich selbst gehört, sondern die Pläne, die die Eltern mit ihm haben, abspulen muss. Jedes Kind hat ein Recht auf eine offene Zukunft: darauf, eigenen Vorlieben und Ansichten Raum geben zu dürfen und sich zu der Person zu entwickeln, die es sein will.
Kinder bringen ausserdem Anlagen mit und lassen sich nicht beliebig formen und fördern. Wenn Eltern die Anlagen ihres Kindes ausblenden und meinen, mit hinreichend Förderung lasse sich alles aus ihm machen, irren sie sich und gängeln das Kind in einer Weise, die ihm schadet.
Eltern sollten ihre Kinder nicht zu erfolgreichen, sondern zu glücklichen Menschen erziehen wollen.
Birgt diese Haltung nicht auch für die Eltern selbst eine Gefahr?
Tatsächlich sind Eltern in unserer Gesellschaft zu einer Art Lebenscoaches ihrer Kinder geworden. Sie werden schnell verantwortlich gemacht für den Erfolg oder Misserfolg ihrer Kinder, als läge es allein an den Eltern, was aus ihnen wird. Kinder bringen, wie gesagt, Anlagen und einen Charakter mit. Und wie definieren wir «Erfolg» überhaupt? Eltern sollten ihre Kinder nicht zu erfolgreichen, sondern zu glücklichen Menschen erziehen wollen.
Ist das nicht leichter gesagt als getan?
Es ist sicher nicht einfach, sich dem Markt der Förder- und Bildungsangebote zu entziehen. Schon Kleinkinder können zum Musikunterricht, ins Ballett, in die zweisprachige Kita. Der Imperativ der Selbstoptimierung schwappt von den Erwachsenen auf die Kinder über: das Leben als Dauerwettbewerb, in dem wir uns fitter, schlauer, leistungsbereiter halten als unser Gegenüber.
Den Eltern wird permanent suggeriert, dass ihr Kind Nachteile haben wird, wenn sie nicht diese oder jene Massnahme ergreifen. Es scheint nicht mehr zu reichen, dem Kind ein warmes Nest zu bieten. Als Eltern gelassen zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass das Kind schon seinen Platz finden wird, wird schwieriger.
Müssen sich Eltern zukünftig auch mit der Frage beschäftigen, ob es ethisch noch vertretbar ist, Kinder beziehungsweise weitere Kinder in die Welt zu setzen? In Ihrem neuen Buch «Kinder wollen» beschäftigt sich ein Unterkapitel mit der Frage, inwieweit die Klimadebatte Einfluss auf die Familienplanung haben wird respektive haben darf.
Es gibt eine Studie, durchgeführt 2017 an den Universitäten British Columbia und Lund, die zum Schluss kommt, dass eine Person durch Fleischverzicht 0,8 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einsparen könne, mit einem autofreien Leben 2,4 Tonnen. Der Verzicht auf ein Kind würde mit satten 58,6 Tonnen zu Buche schlagen. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse müssten wir auch übers Kinderbekommen neu nachdenken, forderte etwa die Denkfabrik «Club of Rome».
Und zum Schutz des Klimas auf Kinder verzichten?
Oder zumindest keine Grossfamilie gründen. Doch die Zahlen respektive die Messmethodik wurden auch in Zweifel gezogen. Zum Beispiel wurde nicht einberechnet, dass zukünftige Generationen dank der Klimaschutzmassnahmen hoffentlich ökologischer leben werden. Oder dass die Geburtenrate in vielen Industrieländern ohnehin sinkt und Kinder in Entwicklungsländern aufgrund des anderen Lebensstandards einen deutlich kleineren ökologischen Fussabdruck haben.
Es besteht grundsätzlich kein Anspruch auf eine bestimmte Geste der Dankbarkeit.
Beobachten Sie denn einen Trend bei jüngeren Menschen zu weniger Kindern?
Diese Fragen müssten Sozialwissenschaftler beantworten. Mir fällt nur auf, dass verschiedene Generationen unterschiedlich auf die genannten Forderungen reagieren. Die Generation meiner Eltern findet den Gedanken, aus Klimaschutzgründen auf Kinder zu verzichten, eher abstrus; meine Generation kann ihm schon mehr abgewinnen; die Studierenden an der Uni wiederum diskutieren ausgiebig über diese Frage.
Und die sogenannte Klimajugend?
Die entscheidet sich natürlich nicht jetzt für oder gegen Kinder. Aber mit einer gewissen «Zukunftsangst» geht sicher auch die Frage einher, in welche Welt man Kinder entlässt. Andererseits haben vielleicht gerade Eltern einen gewichtigen Grund, sich für eine ökologische Politik einzusetzen – zugunsten einer lebenswerten Zukunft für die Kinder.
Kinderlose nicht?
Das wäre eine grobe Unterstellung. Ich würde es umgekehrt formulieren: Kinder zu bekommen, nimmt einen vielleicht besonders in die Pflicht, sich zumindest Gedanken darüber zu machen, welche Welt wir den kommenden Generationen hinterlassen. Denn Kinder stiften, wie der Philosoph Leander Scholz schreibt, eine «Beziehung zu einer Zukunft», die weit über die eigene Zeit hinausreicht.
Ihr letztes Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» hat für Furore gesorgt. Was hat Sie veranlasst, über dieses Thema zu schreiben?
Zum einen haben wir alle Eltern, und alle fragen sich vermutlich von Zeit zu Zeit, wie sie mit den Ansprüchen der eigenen Eltern umgehen sollen – gerade wenn ihnen an einem guten Einvernehmen mit den Eltern liegt. Zum anderen wurde ich selber Mutter, war dankbar für die Hilfe meiner eigenen Eltern und erlebte, wie sich diese wiederum auch noch um meine Grosseltern kümmerten. Mich begann die Frage umzutreiben, wie wir klug über die Erwartungen, die es in Familien gibt, nachdenken können – so dass Familien glücken und sich alle entfalten können.
Und Sie sind zum Schluss gekommen, dass Kinder ihren Eltern nichts schuldig sind?
Ja, aus verschiedenen Gründen, über die ich im Buch ausführlich nachdenke. Vor allem bin ich der Ansicht, dass der Schuldgedanke nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch nicht zielführend ist. Eltern wollen nicht, dass sich ihre Kinder aus einem Schuldgefühl heraus um sie bemühen, sondern aus einem Interesse aneinander und an der Beziehung zueinander.
Aber sollten wir unseren Eltern nicht zumindest dankbar sein?
Dankbarkeit ist eine zentrale Tugend, deren Wert ich gern betone. Dankbare Menschen sind überdies glücklicher, das zeigen viele Untersuchungen. Aber die entscheidende Frage lautet, ob sich aus der Dankbarkeit ableiten lässt, dass wir unseren Eltern etwas schuldig sind, worauf diese wiederum Anspruch haben. Das scheint mir nicht der Fall. Dankbarkeit lässt sich auf verschiedene Weisen zeigen. Anspruch auf eine bestimmte Geste der Dankbarkeit besteht nicht.
Und umgekehrt? Was schulden denn Eltern ihren erwachsenen Kindern?
Die Frage lässt sich nicht eins zu eins umdrehen, und ich habe noch keine abschliessende Antwort auf sie. Als Mutter beziehungsweise Vater bringt man einen Menschen ins Leben. Das nimmt einen ganz bestimmt in die Verantwortung. Im Idealfall endet diese Verantwortung, weil das Kind selbständig wird und selber für sich sorgen kann – und im Übrigen auch will.
Aber was, wenn dem nicht so ist? Wenn das Kind krank ist und nie ein selbständiges Leben führen kann? Oder wenn es im Erwachsenenalter in eine Krise gerät?
Ich denke nicht, dass man sich als Eltern einfach auf den Standpunkt stellen kann, dass die eigene Verantwortung endet, wenn das Kind volljährig wird. Vielmehr gehört es wohl zum Risiko der Elternschaft, dass wir nie wissen können, ob das Kind seinen Weg finden und gehen kann. Aber natürlich ist es auch eine gesellschaftliche Aufgabe, Eltern zu unterstützen, die durch die Kinderbetreuung über Gebühr belastet werden.
Betrachten wir ein Beispiel: Eine alte Frau ist nicht mehr in der Lage, alleine zu leben, und möchte, dass eines ihrer drei erwachsenen Kinder sie aufnimmt und pflegt. Alle drei sagen nein. Dürfen sie das?
Das hängt natürlich vom Sozialsystem ab, in dem diese Frau lebt. Gibt es die Möglichkeit, die Frau auch in einem Pflegeheim gut unterzubringen, haben Kinder nicht die Pflicht, ihr Leben ganz umzustellen. In einer Gesellschaft, in der es kein hinreichend gutes Sozialsystem gibt, sind Eltern unter Umständen vollkommen abhängig von ihren Kindern. Sie befänden sich dann in einer Notlage, aus der nur die Kinder sie befreien können. Dann ist Nothilfe Pflicht.
Und darf eine Mutter ablehnen, wenn ihre erwachsene Tochter sie bittet, ihre Kinder zu hüten?
Ja. Kinder zu bekommen heisst, Verantwortung für sie zu übernehmen. Für die Kindeskinder sind Eltern aber nicht auch noch verantwortlich. Ich finde im Gegenteil, dass der gesellschaftliche Beitrag der Grosseltern zu wenig gewürdigt wird. Da wird sehr viel Freiwilligenarbeit geleistet, ohne die vieles nicht funktionieren würde!
Barbara Bleisch, Andrea Büchler: Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung. Hanser Verlag 2020, ca. 30 Fr
Sind irgendwann die grösser werdenden Kinder an der Reihe, ihren Grosseltern etwas zurückzugeben?
Das hängt von der Beziehung zwischen Grosseltern und Enkelkindern ab. Ich plädiere im Buch dafür, den transaktionalen Blick gegen einen relationalen Blick einzutauschen. Sprich: Sich nicht zu fragen, was muss ich zurückgeben. Sondern zu fragen: Was bedeutet mir diese Beziehung? Wie kann ich sie pflegen, so dass sie gelingen kann? Beziehungen können nur gelingen, wenn wir sie nähren, in sie investieren – uns aber nicht komplett aufgeben oder verleugnen.
Das gilt eben auch in der Eltern-Kind-Beziehung: Die Beziehung zu unseren Eltern ist unersetzbar, und leichtfertig gibt sie niemand auf. Können Kinder sich jedoch nicht entfalten oder sehen sich in ihren Lebensplänen dauernd gegängelt oder kontrolliert, werden sie sich aus der Familie befreien müssen.