Perfektionismus: Wir machen keinen Druck!
Welche Einstellung haben Eltern zum Thema Leistung? Und inwiefern geben sie diese an ihre Kinder weiter? Drei Übungen, mit denen sich Mütter und Väter ihre eigene Haltung bewusst machen können.
Den meisten Eltern ist es heute wichtig, ihre Kinder vor unnötigem Leistungsdruck zu schützen. Insbesondere, wenn Kinder unerbittliche Ansprüche an sich selbst stellen und sich Fehler kaum verzeihen können, versichern Eltern rasch: «Also wir machen keinen Druck!»
Dieser Satz fällt in Beratungen so häufig, dass man als Fachperson unwillkürlich hellhörig wird. Meist üben die Eltern auch nicht bewusst Druck auf ihr Kind aus, sondern stehen selbst unter Druck. Diese Gefühle übertragen sich auf das Kind. Es spürt: «Meine Mama und mein Papa möchten alles gut und richtig machen und ja nichts verpassen. Wenn ich ein bisschen nachlasse, machen sie sich gleich Sorgen und werden nervös. Und wenn ich irgendetwas nicht auf Anhieb schaffe oder etwas weniger gut kann, dann halten sie das kaum aus und wollen ‹das Problem› sofort in den Griff bekommen.»
In Beratungen haben wir die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, sich als Elternteil ganz bewusst mit dem Thema Leistung auseinanderzusetzen. Falls Sie bereits beim Wort «Leistung» innerlich zusammenzucken, dann ist die folgende Übungssequenz genau das Richtige für Sie.
Übung 1: Welche Botschaften habe ich in meiner eigenen Kindheit mitbekommen?
Wie wir mit Leistungsanforderungen umgehen, hängt stark von unseren meist unbewussten Prägungen ab. Viele Menschen übernehmen die Haltung, die ihnen von ihren Eltern vorgelebt wurde. Andere schwören sich, dass sie es ganz anders machen werden, und verfallen ins Gegenteil. Wie ist das bei Ihnen?
Nehmen Sie sich kurz Zeit, um Ihre Erfahrungen zu reflektieren: Wann waren meine Eltern wirklich zufrieden mit mir? Habe ich ihre Liebe und ihren Zuspruch die meiste Zeit gespürt? Oder nur wenn ich gut war, vielleicht sogar ausschliesslich, wenn ich etwas Besonderes geleistet habe?
Es braucht Mut, sich damit auseinanderzusetzen, wie der eigene Umgang mit dem Thema Leistung das Kind prägt.
Wie war es für mich, mit einer schlechten Note nach Hause zu kommen? Was habe ich gehört und erlebt, wenn ich etwas nicht geschafft habe, das meinen Eltern wichtig war? Wenn es mir an Mut, Ausdauer, Kompetenz oder Sportlichkeit gefehlt hat oder mein Erscheinungsbild nicht ihren Vorstellungen entsprach? Hatte ich das Gefühl, mir ihre Zuneigung und Aufmerksamkeit verdienen zu müssen? Und was musste ich dafür tun oder wie musste ich dafür sein?
Achten Sie darauf, welche Bilder und Situationen in Ihren Erinnerungen auftauchen. Welche davon haben Sie besonders geprägt? Welche Botschaften klingen vielleicht heute noch in Ihnen nach, obwohl sie Ihnen nicht guttun?
Halten Sie Ihre Eindrücke auf einem Blatt Papier fest.
Übung 2: Wie beeinflusst meine Haltung mein Kind?
Es braucht eine ordentliche Portion Mut, sich damit auseinanderzusetzen, wie der eigene Umgang mit dem Thema Leistung das Kind beeinflusst. Sehen wir uns dazu exemplarisch zwei Botschaften an:
- «In Leistungssituationen muss man gut sein!»
Manche Eltern verdeutlichen ihren Kindern, dass es wichtig ist, stets sein Bestes zu geben. Sie sind stolz auf seine Erfolge und reagieren unterkühlt oder vorwurfsvoll, wenn das Kind die Erwartungen nicht erfüllt. Der Zusammenhang zum kindlichen Perfektionismus ist hier offensichtlich.
- «Oft sind Leistungssituationen gefährlich und moralisch verwerflich!»
Kinder können aber auch Ängste vor Leistungssituationen entwickeln und neuen Herausforderungen aus dem Weg gehen, wenn sie in einem «leistungsfeindlichen» Umfeld aufwachsen. Insbesondere bei Müttern und Vätern, die früher selbst unter zu hohen Ansprüchen gelitten haben, kann der Wunsch entstehen, das eigene Kind vor jedweder Form von Wettbewerb, Prüfungen, Auftritten und sozialem Vergleich zu schützen. Gerade wenn dahinter die grosse Angst steht, dass das Kind Schaden nimmt, wenn es mal verliert oder etwas nicht schafft, übernehmen Kinder dieses Unwohlsein und die Beklemmung der Eltern.
Da reicht es auch nicht aus, als Eltern stets zu betonen, dass es doch egal sei, wie man abschneidet, zu versichern, dass man sich wegen einer «blöden Prüfung» nicht schlecht zu fühlen brauche, oder über die «unsägliche Leistungsgesellschaft» zu schimpfen: Die Kinder merken trotzdem, wie viel Druck und Stress für die Eltern von solchen Situationen ausgeht.
Nimmt das Kind die Botschaft der Eltern wahr, liegt es nahe, sich zukünftig Leistungsanforderungen jeder Art so gut wie möglich zu entziehen. Das Kind will nichts Neues ausprobieren, bevor es ganz sicher ist, dass es dies kann. Es möchte am Tag der Prüfung zu Hause bleiben und klagt über Bauchschmerzen.
Viele Eltern wollen verhindern, dass sich ihr Kind unter Druck gesetzt fühlt. Aber die eigene Leistung soll ihm auch nicht ganz egal sein.
Oder es äussert ganz klar und vehement, dass es bei diesem ganzen Zirkus nicht mitmacht, und spaziert beim Sporttag betont lässig die Runden ab, um einem Misserfolg zuvorzukommen. Vielleicht versucht es auch, so gut zu sein, dass sich die Eltern auf keinen Fall sorgen müssen.
Wie ist das bei Ihnen? Wie erlebt Ihr Kind Sie, wenn es über eine Prüfung, Noten oder einen sportlichen Wettkampf spricht oder sich mit anderen vergleicht?
Übung 3: Wie sieht ein gesunder Umgang mit Druck aus?
Viele Eltern können sehr genau sagen, was sie nicht möchten. Sie wollen verhindern, dass sich ihr Kind unter Druck gesetzt fühlt, Angst vor Prüfungen haben muss oder gestresst ist. Gleichzeitig möchten sie nicht, dass dem Kind seine Leistungen völlig egal sind und es sich keine Mühe mehr gibt.
Aber was genau wäre die Alternative? Was sind stärkende Botschaften, die uns dabei helfen, in einer Leistungsgesellschaft gesund zu bleiben und Freude am eigenen Tun zu entwickeln? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Die Antworten darauf können sehr persönlich ausfallen. Je klarer es für uns wird, was uns selbst wichtig ist, in welcher Atmosphäre sich unser Kind entwickeln soll und wo wir vielleicht auch bewusst ein Gegengewicht zum gesellschaftlichen Leistungsdenken setzen wollen, desto freier und unabhängiger werden wir und unsere Kinder.
Vielleicht möchten Sie die folgenden Gedanken als Impulse nutzen, um darüber nachzudenken, welche Botschaften Sie Ihren Kindern mit auf den Weg geben möchten?
- Ich darf ehrgeizig sein und in etwas gut sein wollen.
- Ich darf mir eigene Ziele setzen und diese anstreben.
- Sich anzustrengen und Mühe zu geben, ist wichtiger als Erfolg.
- Wenn ich in etwas noch nicht gut bin, kann ich mir eigene, kleinere Ziele setzen.
- Ich darf Hilfe annehmen und muss nicht alles alleine schaffen.
- Es muss mir nicht alles leichtfallen. Oft lernt man genau dann am meisten, wenn einem etwas schwerfällt.
Kein Mensch muss immer und überall gut sein.
- Ich darf enttäuscht sein, wenn mir etwas misslingt – meine Eltern hören mir zu und trösten mich, ohne mir meine Gefühle abzusprechen.
- Auf lange Sicht sind Beharrlichkeit und Übung wichtiger als Talent. Ich darf auch stolz sein, wenn ich an etwas dranbleibe und mich nicht entmutigen lasse.
- Ich darf auch mal faul sein und das Minimum machen, wenn mir etwas nicht wichtig ist oder mich nicht interessiert. Kein Mensch muss immer und überall gut sein!
- Wenn ich von aussen bewertet werde – egal ob es sich um eine Note, Kritik oder Lob handelt, dann bin ich mir bewusst, dass das nur eine Momentaufnahme und die Sichtweise einer einzigen Person ist. Ich darf selbst entscheiden, was ich mir davon zu Herzen nehme und wo ich anderer Ansicht bin.