«Das Bild perfekter Eltern lässt sich im Alltag nicht erfüllen»
Bilder: Salvatore Vinci / 13 Photo
Wir erzählen
Maël, 37, und Delia, 32, Leuenberger versuchen Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, was von anderen mitunter kritisch kommentiert wird. Der Lehrer und die Erziehungswissenschaftlerin leben mit ihren Kindern Loïn, 4, und Eliv, 2, in Luzern.
«Mit zwei Kindern und ausfüllendem Beruf führt die Zeitnot bei mir oft zu Schuldgefühlen. Ein typischer Moment ist, wenn wir abends alle müde nach Hause kommen: Du hast die Kinder den ganzen Tag nicht gesehen, freust dich auf ein paar gemeinsame Stunden, aber die beiden sind so müde, dass sie möglichst rasch Schlaf brauchen. Wenn du dann die Ruhe geniessen könntest, kommt das schlechte Gewissen, dass die Kinder bei den Grosseltern oder in der Kita fremdbetreut wurden oder dass du am Abend ungeduldig mit ihnen warst.
Doch meine Schuldgefühle fingen schon in der ersten Schwangerschaft an. Ständig hatte ich das Gefühl, mir nicht genug Zeit für das Ungeborene zu nehmen, nicht bewusst genug dabei zu sein. Als ich plante, wieder zu arbeiten, verstärkten sich diese Gefühle. Leute, die anzweifelten, dass es den Kindern damit gut gehen werde, gaben mir das Gefühl, als würde ich meine Rolle nicht richtig ausfüllen. Immer wieder hörte ich: ‹Ich könnte nie so viel arbeiten und gleichzeitig Kinder aufziehen›, ‹Willst du denn nicht mehr Zeit mit deinem Kind verbringen?›, ‹80 Prozent arbeiten? Wer schaut dann zum Kind?› Als wäre nur die Mutter für die Kinderbetreuung verantwortlich. Viele Schuldgefühle ergeben sich sicher aus der Konstruktion der perfekten Mutter – aufgrund von Büchern oder Vorbildern. Man hat dieses Bild der perfekten Eltern, und das lässt sich im Alltag einfach nicht erfüllen.»
Maël:
«Während Delia zwei Tage pro Woche bei den Kindern ist, sind es bei mir nur anderthalb Tage. Ich wäre sehr gerne mehr zu Hause – ein Anspruch, den ich aber zurzeit nicht erfüllen kann. In meinem Freundeskreis bewältigen die meisten Väter Hausarbeit und Erziehung gemeinsam mit den Müttern – und helfen nicht bloss mit. Ich verspüre auch manchmal Schuldgefühle, weil wir überhaupt Kinder haben. Denn eigentlich ist das ja purer Egoismus. Wir bekommen sie, weil wir es schön finden, und lassen sie dann in eine Welt hinaus mit grauenvoller Politik, ungerechten Wirtschaftssystemen und ausgebeuteten Ressourcen.
Trotzdem stehe ich zu meinem Entscheid für Kinder. Denn die Welt ist auch schön; und daran teilzuhaben ist unter dem Strich ein Geschenk. Umso mehr will ich mich für eine sozialere und ökologischere Gesellschaft einsetzen.»
Online-Dossier
Lesen Sie mehr zum Thema Schuldgefühle:
- Schuldgefühle: Ballast auf der Seele
In keiner anderen Beziehung wird so viel Hingabe und Aufopferung erwartet wie in derjenigen zwischen Eltern und ihren Kindern. Wir sorgen, trösten, fördern und stellen uns doch immer wieder die Frage: Tun wir genug? Oder gar zu viel? Hat mein Kind, was es braucht? Wann sind Schuldgefühle berechtigt und wann einfach sozial gelernt – und wie unterscheidet man das eine vom anderen? - «Mit der Trennung wuchsen bei mir die Schuldgefühle»
Benno Roth*, 60, Vater von zwei Töchtern,18 und 20, aus Zug lebt nicht mehr mit der Mutter seiner Kinder zusammen. Um diese schwierige Zeit und die damit einhergehenden Gefühle zu bewältigen, brauchte der Schulleiter professionelle Hilfe. - «Schuldgefühle sind für mich stark mit Mutterschaft verbunden»
Die Sozialarbeiterin Nadja Stadelmann, 41, und der Automobilverkaufsberater Beat Limacher, 42, leben mit ihren Töchtern Luisa Ella, 9, und Joanna Emma, 7, in Wolhusen LU. Da beide arbeiten, werden die Töchter an zwei Wochentagen fremdbetreut. Das hat vor allem bei Nadja Schuldgefühle ausgelöst. - «Es braucht äusserst schwierige Eltern, um Kinder zu verderben»
Der Familientherapeut Daniel Niederberger beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Frage, wie sich Erziehung seit den 1960ern verändert hat. Dabei spielt das Thema Schuldgefühle eine grosse Rolle.