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«Die kindliche Entwicklung muss nicht der Norm entsprechen»

Lesedauer: 11 Minuten

Entwickelt sich mein Kind normal? Tue ich genug, damit es gut vorankommt? Diese Fragen stellen sich viele Eltern. Wir haben die Entwicklungsexperten Heidi Simoni, Moritz Daum und Oskar Jenni zum Gipfeltreffen und um ihre Meinung gebeten.

Interview: Julia Meyer-Hermann
Bilder: Joël Hunn

Frau Simoni, Herr Daum, Herr Jenni, früher gingen die meisten Eltern davon aus, dass ihre Kinder es später einmal besser haben als sie selbst. Heute fürchten viele Eltern, dass ihre Kinder später keinen guten Job finden werden, wenn sie sich nicht schon von frühester Kindheit an optimal ­ent­wickeln. Denken Eltern inzwischen zu viel über die Entwicklung ihrer ­Kinder nach?  

Heidi Simoni: Grundsätzlich begrüs­se ich es, wenn Eltern heute mehr darüber nachdenken, wie sich ihr Kind entwickelt, welche Persönlichkeit es hat und was es dementsprechend in welcher Phase braucht. Problematisch wird diese Reflexion dann, wenn Eltern dabei die Orientierung verlieren. Die verschiedenen Ratgeber, Anforderungen und ­Ideen, was man tun muss und was man ganz sicher nicht tun darf, ­kreieren teilweise eine grosse Verwirrung und Verunsicherung im Alltag mit Kindern.

Entsteht durch diese Verunsicherung eine Art Überfokussierung auf das Wohl des Kindes?

Oskar Jenni: Überfokussierung … das klingt mir zu negativ. Die meisten Eltern möchten ihre Sache gut machen. Sich um die Zukunft der Kinder Gedanken und auch Sorgen zu machen, ist kein neues Phänomen; das haben frühere Generationen auch schon getan. Neu ist, dass Eltern in der heutigen Zeit die Verantwortung für ihre Kinder alleine, also ohne den Rückhalt einer Grossfamilie, übernehmen müssen, viele Erziehungs- und Bildungsaufgaben leisten sollen, gleichzeitig einer beruflichen Arbeit nachgehen und eine erfüllende Paarbeziehung haben möchten. Die Erwartungen an Eltern sind sehr hoch und führen zu Gefühlen der Sorge, Unsicherheit und bisweilen Überforderung. 

Wir müssen Eltern darin bestärken, ihren Instinkten zu vertrauen und natürlich auf ihre Kinder zu reagieren.

Moritz Daum, Entwicklungspsychologe

Moritz Daum: Aber den Stress, den viele Eltern dabei empfinden, kann man schon als eine Überreaktion auffassen. Der muss raus aus dem System! Es kann nicht sein, dass Eltern nicht mehr natürlich auf die Signale ihrer Kinder reagieren, sondern erst mal in Ratgeber XY nachschlagen wollen, was ein ­Verhalten zu bedeuten hat und wie die ideale Reaktion aussieht. Wir müssen Eltern darin bestärken, ihren ­Instinkten zu vertrauen. ­Reflex­ion sollte nicht dazu führen, alles irgendwie zu akademisieren. 

Viele Elternratgeber sind allerdings alles andere als akademisch und ­liefern im Gegenteil ziemlich konkrete Handlungsanweisungen.  

Daum: Ratgeber gehen immer von einem Norm-Kind aus. Man geht von Norm-Eltern aus, die sich um ein Norm-Kind kümmern, das sich in einer Norm-Situation nicht normativ verhält. Und dafür gibt es dann einen Norm-Ratschlag.

In der Realität ist die Vielfalt aber immens gross: Die Mütter und Väter bringen ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit, in dem, wie sie denken, was sie können, was sie nicht können. Dazu kommt die Vielfalt der Kinder. Das ist ein hochdynamisches ­System! Das ist mit so ganz einfachen Regeln und Tipps, wie sie oftmals in der Ratgeberliteratur übermittelt werden, gar nicht abdeckbar.

Das eine Kind kann schon mit fünf Jahren lesen, ein anderes kann Bücher auch mit acht Jahren noch nicht ­leiden. Das eine Kind fängt jeden Ball, das andere kann im gleichen Alter noch nicht mal werfen. Da denken ­viele Eltern, durch Förderung könnten sie die Entwicklungsunterschiede irgendwie angleichen. Aber wie viel Förderung ist dann sinnvoll?  

Simoni: In den ersten Lebensjahren lohnt es sich ganz besonders, den Interessen des Kindes nachzugehen. Wenn ein Kind Vertrauen ins Lernen gewinnt und Erfolgserlebnisse bemerkt bei etwas, was es wirklich begeistert, dann wagt es sich auch in Bereiche, die ihm weniger gut liegen. Wenn beispielsweise ein sozial ängstliches Kind Selbstvertrauen in einem Bereich gewinnt, kann es sich gegebenenfalls auf andere Kinder besser einlassen.

Heidi Simoni: «Eltern sollten ein Umfeld schaffen, das neugieriges Erkunden einfach macht.»

Jenni: Entwicklungsunterschiede lassen sich nicht durch Förderung ausgleichen. Kinder gleichen Alters sind nun einmal sehr verschieden. Das bedeutet aber nicht, dass Eltern einfach nur zuschauen müssen. Sie sollen die Interessen der Kinder durchaus unterstützend aufnehmen, offene Fragen stellen und auch Impulse geben, aber immer Freiräume lassen, damit sich die Kinder eigenaktiv entwickeln können. Eine von den Eltern gesteuerte Förderung beeinträchtigt die Lust und den ­eigenen Antrieb des Kindes, zu lernen und sich zu entwickeln. 

Wie funktioniert menschliches Lernen eigentlich, und erlernen Kinder und Jugendliche alles Wichtige nebenbei? 

Simoni: Eltern sollten ein Umfeld schaffen, das neugieriges Erkunden einfach macht. Kinder wollen lernen. Sie sind hochinteressiert, motiviert und sie sind auch hart­näckig, wenn Dinge nicht beim ­ersten Anlauf gelingen. Kleine Kinder bleiben dran, wenn sie etwas entdecken oder lernen wollen. Dieses Selbstkonzept von «Ich kann mir etwas Neues erobern» müssen Eltern unterstützen.  

Eltern müssen immer kritisch reflektieren, ob sie ihrem Kind nicht die eigenen Träume überstülpen.

Oskar Jenni, Entwicklungspädiater

Jenni: Wenn Eltern das Kind beim Lernen unterstützend begleiten, geht es nicht nur darum, möglichst viel Zeit mit den Kindern zu verbringen, sondern aufmerksam dafür zu sein, wann der richtige Moment für Interaktionen mit dem Kind ist. Ich erkläre dies gerne anhand der beiden griechischen Götter Chronos und Kairos: Chronos, der Gott des stetigen Zeitflusses, stellt die Quantität der Zeit dar, Kairos ist der Gott des rechten Augen­blickes, der günstigen Gelegenheit. Manchmal ist Kairos wichtiger als Chronos. Damit man den richtigen Moment erwischt, muss man das Kind lesen und seine Bedürfnisse erkennen können. Und auch akzeptieren, wenn das Kind keine Lust auf Begleitung hat und ein Angebot als unpassend ablehnt.  

Was passiert denn, wenn man ein Kind dennoch zum Tanzen, zum Klavier­unterricht oder zum Zeichenkurs schickt? Beschleunigt oder stört eine Überförderung die Entwicklung?

Jenni: Ich würde da unbedingt auf das Kind hören. Das Erlernen eines Musikinstrumentes ist ein gutes Beispiel: Will das Kind unbedingt Klavier oder Geige spielen, findet aber das Üben nervig, dann soll man es zwar gelegentlich darauf aufmerksam machen, aber nicht insistieren und es zum Üben zwingen. Wenn es keine Lust mehr auf das Instrument hat, wird es in der Folge auch nicht mehr gerne in die Musikstunde gehen. Bleibt es aber dran, dann wird sich irgendwann im Verlauf der Entwicklung der Drang zum Üben verstärken. Als Mutter ­beziehungsweise Vater muss man immer auch kritisch reflektieren, ob man seinem Kind nicht die eigenen Träume überstülpt. 

Oskar Jenni: «Kinder werden nicht durch gezielte Massnahmen beeinflusst, sondern durch die Stimmungen und Haltungen der Bezugspersonen.»

Daum: Wir Eltern müssen am Ende erlauben, den Weg zu beschreiten, den ein Kind wählt, und ihn nicht zu verbauen. Gedanken oder sogar Vorgaben wie «Du sollst nicht Journalistin werden, sondern du sollst Ärztin werden, weil wir als Ärzte erfolgreich sind» sind tatsächlich ein No-Go. Für die Entwicklung der Kinder ist es förderlich, wenn Eltern die Unsicherheit, wie es im Leben ihrer Kinder weitergeht, aushalten und sie machen lassen.

Gibt es denn überhaupt Entwicklungsschritte, die man aktiv fördern muss?  

Daum: Den Spracherwerb eines Kindes kann man gut fördern. Es hilft, wenn man viel mit dem Kind redet und das Kind viel in Interaktionen reden lässt. Das ist eine wichtige Grundlage für ­vieles, was später kommt. Sprache hat einen wichtigen Einfluss auf ganz viele verschiedene Faktoren. ­Schule basiert auf Sprache. Wir prägen unsere Beziehungen durch Sprache.

Simoni: Das ist aber weniger eine gezielte Förderung, sondern man lässt das Kind die Lust an der Kommunikation und Sprache im Dialog entdecken. 

Ein chronisch feindseliger Streit der Eltern verunsichert und ängstigt Kinder zutiefst.

Heidi Simoni, Entwicklungspsychologin

Jenni: Nein, eine aktive Förderung ist nicht nötig. Kinder werden nicht durch gezielte Massnahmen beeinflusst, sondern besonders durch die Stimmungen und Haltungen der Bezugspersonen. Sie entwickeln sich auch durch Beobachten und Nachahmen. Wichtig ist einfach ein verlässliches, verfügbares und liebevolles Umfeld.

Also reicht es aus, die ­Kinder an den alltäglichen Abläufen des Lebens teilhaben zu lassen.

Daum: Kinder brauchen Angebote. Ein reichhaltiges Umfeld. Sprache ist ein Aspekt. Aber die Kinder sollen sich auch bewegen können, sie sollen ab und zu mal grübeln können, mal raufen dürfen. Und sie sollen Spiele spielen, bei denen sie Regeln einhalten müssen: Zunächst sollen sie das in einfachen Spielen üben, dann in komplexeren Regelspielen, bei denen sie ihre Emotionen auch kontrollieren müssen.

Wenn man eine reichhaltige Umgebung schafft, in der Kinder Selbstwirksamkeit erfahren können, und sei es nur dadurch, dass sie Lust haben, Fussball zu spielen, und dem dann auch nachgehen können, hilft das auch ihrer Entwicklung. Sie ­nehmen sich dann als ein aktives Mitglied ihrer Umwelt wahr, mit der sie inter­agieren. 

Wie erkennt man – bei all den ­individuellen Anlagen – eigentlich eine Entwicklungsverzögerung? 

Daum: Als Eltern ist man ständig mit der Frage konfrontiert: Ist das jetzt noch richtig? Diese Aufmerksamkeit ist sicher wichtig. Denn wenn tatsächlich eine Störung vorliegt, zum Beispiel beim Spracherwerb oder in der Motorik, ist es sehr hilfreich, wenn das früh erkannt wird und dann versucht wird, dem Kind eine fundierte Förderung zukommen zu lassen. Ein Besuch beim Kinderarzt kann im Übrigen auch ungeheuer erleichternd sein! Ich war als junger Vater manchmal beim Arzt, habe gesagt, dass ich was komisch finde, und dann hiess es: «Ist aber ganz normal.» Ich bin dann beruhigt nach Hause gegangen und das Symptom war verschwunden. 

Die Bildschirmzeit ist nicht das Problem, sondern die mangelnde Interaktion mit den Eltern.

Moritz Daum, Entwicklungspsychologe

Jenni: Den Begriff «Entwicklungsstörung» sollte man nur zurückhaltend verwenden. Besonders in der frühen Kindheit ist die Entwicklung ausgesprochen dynamisch. Wir Entwicklungspädiater sprechen lieber von Entwicklungsauffälligkeiten oder Entwicklungsverzögerungen. Eine Störung liegt erst dann vor, wenn ein Kind schwerwiegend beeinträchtigt ist, zum Beispiel in einem Entwicklungstest weit unterhalb der Norm abschneidet. Das trifft nur auf wenige Kinder zu, die allermeisten sind im Normbereich. Nicht selten spielen auch falsche Erwartungen des Umfeldes eine Rolle. Wenn beispielsweise Mutter und Vater sehr sportlich sind, dann erwarten sie nicht selten, dass sich auch ihr Kind motorisch besonders gut entwickelt. Tut es das nicht, wird die Bewegungsentwicklung des Kindes als auffällig wahrgenommen. 

Welche Störfaktoren für eine gesunde, normale Entwicklung gibt es heute?

Simoni: Ein chronisch feindseliger Streit der Eltern oder anderer Bezugspersonen ist wirklich schädlich. Das verängstigt und verunsichert Kinder zutiefst. Ausserdem bindet ständiger Streit so viel Aufmerksamkeit, dass für die Kinder innerlich und äusserlich Raum und Zeit fehlen. Das gilt für ganz kleine Kinder, aber auch für Schulkinder und Adoleszente. 

Viele Eltern fragen sich, ob Handys, Computerspiele und soziale Medien generell der Entwicklung schaden. 

Jenni: Es kommt auf die Dauer und die Umstände der Nutzung an. Wenn sich das Kind überwiegend nur im digitalen Raum bewegt und keine Freude mehr an Aktivitäten mit der Familie oder im Freundeskreis hat, dann ist das in der Tat problematisch.  

Simoni: Wenn ein Kind zwei Stunden mit dem iPad beschäftigt ist und den Rest seiner wachen Zeit hin­gegen aktiv unterwegs ist und draussen mit anderen Kindern spielt, hat das eine fundamental andere Wirkung, als wenn die iPad-Zeit eigentlich die einzige Anregung ist. Ich kenne allerdings auch Eltern, die haben von sich ein so schlechtes Bild, dass sie sogar denken, das iPad und entsprechende Spiele könnten dem Kind mehr bieten als sie selbst.

Daum: Diese mangelnde Interaktion kann daher rühren, dass die Eltern einfach überlastet sind im Alltag. Einige haben aber auch schlicht keine Lust, sich mit dem Kind abzugeben. Die Bildschirmzeit ist nicht das Problem, sondern die mangelnde Interaktion mit den Eltern. Allerdings bringt es auch nichts, wenn ich viel Zeit mit dem Kind verbringe und es dabei ständig anschreie, weil ich so gestresst bin. In dem Fall schaut es besser auf den Bildschirm und lernt was, als dass es diese negative Erfahrung macht.

Wie aber sollen Eltern damit umgehen, dass ihre Kinder auf dem Bildschirm Dinge entdecken können, die ihre ­Entwicklung negativ beeinflussen? Viele Teenager sehen beispielsweise online Pornos, noch bevor sie im ­realen Leben Erfahrungen mit ­Sexualität gemacht haben.  

Simoni: In der Tat können Kinder und Jugendliche im Netz Seiten der Welt entdecken, die sie besser nicht gesehen hätten. Das kann verstörend sein. Bei jüngeren Kindern können altersgemässe Schutzfilter helfen. Aber man sollte nicht versuchen, diese Inhalte älteren Kindern komplett zu verbieten. Das Ausklammern der Realität funktioniert nämlich nicht.

Daum: Es ist sinnvoll, mit seinen Kindern eine vertrauensvolle Basis und Gesprächskultur zu etablieren, die es ihnen dann leicht macht, sich ihren Eltern in heiklen Momenten anzuvertrauen.  

Viele Jugendliche scheuen aber das Gespräch mit ihren Eltern. Soll man proaktiv auf sie zugehen?

Jenni: Auch wenn die Teenager nicht von sich aus den Kontakt suchen, sollte man immer wieder Gesprächsbereitschaft signalisieren. Wir Eltern bleiben auch in der Adoleszenz wichtige Vertrauenspersonen, obwohl neue Beziehungen ausserhalb der Familie immer bedeutsamer werden und die Kinder sich ablösen. So suchen sie den Austausch mit der Mutter oder dem Vater, wenn sie in Schwierigkeiten geraten sind, negative Erlebnisse erfahren haben oder ihre schulische oder beruf­liche Zukunft planen wollen. Da­rum brauchen sie Gelegenheiten für Gespräche und den Rückhalt bei vertrauten Erwachsenen, die aber nicht versuchen sollten, sie in ihrem Denken, ihren Gefühlen und Zielen zu beeinflussen. 

Moritz Daum: «Was für mich gut war und bei mir funktioniert hat, muss nicht das Richtige für die Entwicklung meines Kindes sein.»

Daum: Meine Tochter kam irgendwann nachts um ein Uhr nach ­Hause und war sichtbar aufgewühlt, weil irgendwas mit ihren Freunden schiefgelaufen war. Im Nachhinein hat sie mir gesagt: «Weisst du, Papa, das Gute war, dass du einfach da warst und mich in den Arm genommen hast.» Ich glaube, dass dieses nichtbewertende Dasein für Kinder in dem Alter wichtig ist. 

Kann oder sollte man Jugendliche noch zu Erfahrungen motivieren, die sie skeptisch sehen? Etwa zu einem Auslandsaufenthalt.

Daum: So etwas muss im Dialog geschehen. Wenn ich als Elternteil zu meinem Teenager sage: «Hey du, ein halbes Jahr in den USA, das wäre super für dich», und dann kommt von ihm oder ihr die Erwiderung «Nein, um Gottes Willen», dann wäre es falsch zu sagen: «Du wirst angemeldet und ich bringe dich zum Flughafen.» Man kann aber nachfragen: «Warum denn nicht? Was bräuchte es denn, damit du dich traust?» Denn die Erfahrung eines Auslandsjahrs kann einem Kind durchaus guttun, weil es die Autonomie fördert.

Simoni: Man kann dem Kind auch erzählen, wie man das selber macht in solchen Situationen, in denen man etwas möchte und sich doch nicht traut. Das kann etwas aus­lösen und jemanden Hürden überwinden lassen. Die Auseinandersetzung damit ist wertvoller als der Druck: «Doch, das tut dir gut.» Man darf auch nicht vergessen, dass es Temperaments­unterschiede bei Kindern gibt, wie sie die Welt erkunden und wie sie nächste Schritte machen. Ermutigen ist ­hilfreich, Forcieren kontraproduktiv. 

Zu den Personen
Heidi Simoni, Moritz Daum, Oskar Jenni (v.l.)
Heidi Simoni ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. Sie studierte Psychologie an der Universität Basel und promovierte dort zum Thema «Frühe Entwicklung von Kindern und Familien unter erschwerten Startbedingungen». Seit 2000 ist sie am Marie-Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich tätig, zuerst als Verantwortliche für die Forschung und seit 2007 als Leiterin des Instituts. In dieser Funktion ist sie auch Mitglied der Kinderschutzkommission des Kantons Zürich. Simoni hat einen erwachsenen Sohn.
Moritz Daum ist Professor für Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters am Psychologischen Institut und Direktor des Jacobs Center for Productive Youth Development an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die sozial-kognitive Entwicklung und der Einfluss von Mehrsprachigkeit auf die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten im Kindesalter. Er hat drei Kinder zwischen 12 und 18 Jahren.
Oskar Jenni leitet seit 2005 die Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital ­Zürich und ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsgebieten zählen unter anderem die motorische, kognitive und soziale Entwicklung von Kindern. Seit 2018 ist Oskar Jenni Leiter der «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch». Eines seiner Anliegen ist mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung für die Verschieden­artigkeit von Kindern. Oskar Jenni ist Vater von vier Söhnen zwischen 16 und 24 Jahren.

Was wünschen Sie, worauf Eltern bei der Begleitung ihrer Kinder stärker achten? 

Daum: Es wäre hilfreich, wenn ­normative Vorstellungen immer weniger zum Massstab erhoben würden. Was für mich gut war und bei mir funktioniert hat, muss nicht das Richtige für die Entwicklung meines Kindes sein.  

Simoni: Ich wünsche mir Eltern, die neugierig auf ihr Kind sind. Eine aufmerksame Begleitung hält viele Entdeckungen und Überraschungen bereit. Also interessiert beobachten: Wie geht dieses Kind in die Welt? Was macht es aus? Und wie macht es seine Erfahrungen?  

Jenni: Ich wünsche mir Eltern, die ein Stück weit gelassen, offen, anpassungsfähig, durchaus auch selbstkritisch und sich ihrer Vorbildrolle bewusst sind. Auch empfehle ich, die vielen schönen Momente der Kindheit zu geniessen, denn sie gehen rasch vorbei. Das kann ich aus ­eigener Erfahrung sagen.

Daum: Man darf der Entwicklung des Kindes auch vertrauen. Die Kinder bringen so viel Neugier und Selbstentwicklungstrieb mit, dass das Motto unserer Grosseltern, das in früheren Zeiten oft gebraucht wurde, noch immer passt: Es chunnt­ scho guet. Es kommt gut.

Julia Meyer-Hermann
lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Hannover. Ihre Schwerpunkte sind Wissenschafts- und Psychologiethemen.

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