«Eltern haben einen geringen Einfluss auf den Schulerfolg»
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«Eltern haben einen geringen Einfluss auf den Schulerfolg»

Lesedauer: 8 Minuten

Wenn Kinder in die Schule kommen, sollten Eltern wie Lehrer ihre Erwartungen an die Möglichkeiten des Kindes anpassen, fordert Kinderarzt Oskar Jenni. Denn Kinder sind unterschiedlich weit entwickelt. Ein Gespräch über individualisierten Unterricht, Schulpsychologen und Lernprobleme.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Marvin Zilm / 13 Photo

Herr Jenni, Kinder treten hierzulande mit sechs Jahren in die Schule ein. Auf welchem Entwicklungsstand sind sie in diesem Alter? 

Der Entwicklungsstand ist, wie in jedem Alter, sehr unterschiedlich. Ich würde sagen auf dem eines viereinhalb bis siebeneinhalb Jahre alten Kindes.

Können Sie uns das erläutern?

Wenn eine Lehrerin eine erste Primarklasse mit 20 sechsjährigen Kindern vor sich hat, unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um bis zu drei Jahre. So steht beispielsweise ein Junge, nennen wir ihn Ruben, auf dem Entwicklungsstand eines Siebenjährigen und kann bereits Schreiben, während die gleichaltrige Mara mit einem Entwicklungsalter von fünf Jahren weit davon entfernt ist.

Man muss das Kind so annehmen, wie es ist, und es seinem Entwicklungsstand entsprechend fördern.

Zusätzlich ist auch ein und dasselbe Kind nicht in allen Bereichen gleich weit entwickelt. Das heisst, Ruben mag in seinen schriftlichen Fähigkeiten auf dem Stand eines Siebenjährigen sein, sein Sozialverhalten entspricht aber eher dem eines Fünfjährigen. Die Norm ist, dass ein Kind Stärken und Schwächen hat. Wie wir Erwachsenen auch.

Professor Oskar Jenni ist Kinderarzt und leitet seit 2005 zusammen mit Bea Latal die Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich. Er ist verheiratet und Vater von vier schulpflichtigen Kindern.
Oskar Jenni ist Kinderarzt und leitet seit 2005 zusammen mit Bea Latal die Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich. Er ist verheiratet und Vater von vier schulpflichtigen Kindern.

Wann ist ein Kind also schulreif? 

Der Begriff Schulreife orientiert sich am Kind. Man schaut aufs Kind und fragt, ob es sprachlich, kognitiv, in seinem Sozialverhalten, der Selbständigkeit, im Arbeitsverhalten und in seinen motorischen Kompetenzen so weit ist, den Schulalltag zu meistern. Ob das Kind aber eingeschult werden soll, hängt auch von anderen Faktoren ab, beispielsweise von der Schule, in die es kommen wird. Welches Leitbild vertritt diese Institution? Wie steht es um die Erfahrung der Lehrpersonen? Die Klassengrösse? Passt das Profil des Kindes in diese Schule oder nicht? Das ist die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssten …

… was aber nicht der momentanen Praxis entspricht.

Stimmt, aber diese Art der Individualisierung wäre kindgerecht. Es geht darum, sicherzustellen, dass die Eigenheiten des Kindes mit den Anforderungen der Umwelt und in diesem Fall mit denjenigen der Schule übereinstimmen. Man muss sich einfach bewusst sein: Kinder sind in ihrem Wesen sehr unterschiedlich, und man muss diese Variabilität zwischen Kindern akzeptieren, das Kind so annehmen, wie es ist, und es seinem Entwicklungsstand entsprechend fördern.

Die heutige Bildungspolitik geht nicht vom Kind aus, sondern wird von ökonomischen Interessen geleitet.

Sie sprechen damit den individualisierten Unterricht an.

Individualisierter Unterricht ist eine Herausforderung und gerät dadurch, dass Bildung ständig getestet, standardisiert und evaluiert wird, unter Druck. Die heutige Bildungspolitik geht nicht vom Kind aus, sondern wird von ökonomischen Interessen geleitet. Bildung wird als eine der wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen und Erfolgsfaktoren eines Landes verstanden. Und dieser Rohstoff gilt es aktiv und gezielt zu fördern. Das steht im Widerspruch zur Individualisierung.

Werden die Lehrpersonen ihrer Aufgabe nicht gerecht? 

Ich bin überzeugt, dass viele Lehrpersonen die grosse Vielfalt im Klassenzimmer anerkennen und sich darum bemühen, jedem Kind gerecht zu werden. Auf der anderen Seite haben sie aber ein Bildungssystem im Rücken, das von ihnen verlangt, alle Kinder für die Wirtschaft fit zu machen und zum Beispiel die Leseschwäche, die jeder fünfte Jugendliche bei Schulaustritt zeigt, auszumerzen. Der Druck auf die Lehrpersonen ist enorm.

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind in der Schule Probleme hat? 

Rasch das Gespräch mit der Lehrerin suchen. Ich wünsche mir, dass Lehrpersonen nicht nur Fachdidaktiker, sondern auch Entwicklungsspezialisten sind, dass sie wissen, wie sie mit einer Situation umgehen müssen, wenn ein Kind Probleme hat, über- oder unterfordert ist. Ist ein grosser Leidensdruck da, macht es Sinn, dass Lehrpersonen und die Eltern gemeinsam bei einer Fachperson wie beispielsweise einer Schulpsychologin Hilfe suchen, das Kind abklären lassen und schauen, wo genau die Probleme liegen. Leistungsanforderungen kann man nur anpassen, wenn man weiss, wo das Kind in seiner Entwicklung steht.

Nun beklagen kritische Stimmen einen regelrechten «Abklärungswahn» an unseren Schulen. 

Die differenzierte Abklärung eines Kindes sehe ich nicht als Problem. Mir macht vielmehr der Umstand Sorgen, dass nach einer Abklärung sofort spezifische Therapien eingeleitet werden.

Eltern sollen Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kindes haben und ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche zurückstellen.

Aber das ist doch die logische Folge einer Abklärung.

Nein. Das muss nicht sein. Das Wichtigste einer Abklärung ist, ein möglichst genaues Bild vom Kind zu bekommen, sein Entwicklungsprofil zu verstehen und das Verhalten zu analysieren, um daraus zusammen mit den Lehrpersonen ableiten zu können, welche Strategien dem Kind helfen.

Was heisst das konkret?

Wenn die Lehrerin das Sprachproblem des Kindes erkennt, wird sie nicht zwei Wörter an die Tafel schreiben, gleichzeitig viel dazu erzählen und hoffen, dass das sprachgestörte Kind hinter ihrem Rücken versteht, was sie von ihm erwartet. Vielmehr sollte sie die Aufmerksamkeit dieses Kindes beispielsweise mit visuellen Hinweisen verstärken. Sie sollte es beim Sprechen anschauen und wichtige Informationen mehrfach wiederholen. Die Folge einer Abklärung muss immer sein, das individuelle Profil des Kindes in Passung mit den Anforderungen in der Schule und zu Hause zu bringen.

Ich kann mir aber trotzdem vorstellen, dass sich viele Eltern Sorgen machen, dass ihr Kind in der Schule nicht erfolgreich ist.

Eltern stehen tatsächlich unter einem grossen Druck. Man macht sie heute für den Erfolg ihrer Kinder verantwortlich. Doch die kindliche Entwicklung kann man nicht beschleunigen. 

Können Eltern denn nichts tun?

Eltern sollen Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kindes haben, Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, aber auch Führung und Struktur geben und ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche zurückstellen. Es gilt, zu spüren, was ein Kind bewältigen kann und in welchen Situationen es überfordert ist und Unterstützung braucht. 

Ein Kind, das zu früh eingeschult wird, kann schon früh Misserfolge erleben und den Rückstand nicht mehr aufholen.

Und mehr nicht?

Die Gesellschaft geht von einem veralteten Entwicklungsmodell aus, das sagt, dass das Kind von aussen gesteuert werden kann. Dabei ist Entwicklung ein ausserordentlich komplexer Prozess, der vom Kind aus in engem Zusammenspiel mit der Umwelt gesteuert wird. Entwicklung ist eine Mischung aus dem, was das Kind selbst mitbringt und was ihm die Umwelt bereitstellt. Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, dass der elterliche Einfluss für eine erfolgreiche Schulkarriere eher gering ist.

Das hört sich entlastend an.

Ja, ob ein Kind erfolgreich ist, hängt von ganz vielen Faktoren ab. Von den Eigenschaften, die das Kind selbst mitbringt, vom Umfeld, das wir bereitstellen, und von den Vorbildern. Das sind Treiber der Entwicklung, die eine grosse Rolle spielen. Als Eltern hat man wenig Einfluss darauf, diese aktiv und gezielt zu beeinflussen und zu steuern.

Also sollten Eltern sich früh überlegen, in welchem Schuleinzugsgebiet sie mit ihren Kindern leben wollen?

Das ist keine Garantie, dass es gut kommt. Es gibt Faktoren, die man im Vorfeld nicht beeinflussen kann. Wie ist die Lehrperson? Wie ist die Klassenzusammensetzung? Gibt es viele schwierige Kinder, die die Aufmerksamkeit der Lehrperson beanspruchen? Fragen, die man nicht zuverlässig beantworten kann. Da plädiere ich für Gelassenheit der Eltern.

Dann kann man als Eltern im Vorfeld gar keinen Einfluss nehmen?

Einen gewissen Einfluss auf den Schulerfolg haben Eltern bei der Wahl des Einschulungszeitpunktes. Wenn das Kind in der Entwicklung oder in seinem Verhalten verzögert ist, dann rate ich, lieber etwas zuzuwarten. So hat das Kind noch Zeit, weitere Entwicklungsschritte zu machen, und es kommt gestärkt in die Schule. Ein Kind, das zu früh eingeschult wird, kann schon früh Misserfolge erleben und den Rückstand nicht mehr aufholen. Es gibt eine Reihe von Studien, die belegen, dass eine zu frühe Einschulung Grund für späteres Schulversagen beziehungsweise schlechtere Leistungen sein kann.

«In den ersten zwei Schuljahren sollte die Leistung des Kindes nicht im Vordergrund stehen», empfiehlt Oskar Jenni den Eltern.

Der erste Schultag ist ein grosses Ereignis im Leben, wer erinnert sich nicht daran? Man sollte das mit seinem Kind entspannt besprechen. Welchen Schulthek wollen wir kaufen? Wie ist der Schulweg? Mit wem kommst du in eine Klasse, wie wird die Lehrerin sein? Ich bin überzeugt, dass die meisten Kinder den Übergang vom Kindergarten in die erste Klasse gut meistern.

Vertrauen wir den Kindern. Sie sind ohnehin viel widerstandsfähiger, als wir denken. Meine Botschaft an die Eltern lautet: In den ersten zwei Schuljahren sollte die Leistung des Kindes nicht im Vordergrund stehen. Es geht darum, das Schulleben kennenzulernen und nicht primär die Leistungsanforderungen zu spüren.

Und was kann ich als Mutter oder Vater dafür tun, dass mein Kind den Spass an der Schule auch über die ersten zwei Jahre hinaus behält?

Wenn Eltern merken, dass ihr Kind nicht klarkommt, ist es falsch, sich auf die Probleme zu fokussieren, sich ständig mit dem Kind hinzusetzen, viel gemeinsam zu lernen und Hausaufgaben zu machen. Es ist dann wichtig, das Gespräch mit den Lehrpersonen zu suchen und schulische Aufgaben an die Schule zu delegieren. Ansonsten geraten Eltern in einen Rollenkonflikt.

Warum das?

Kinder brauchen die Eltern als Bezugspersonen, die ihnen Geborgenheit und Sicherheit geben. Leistungsstress beeinträchtigt diese Beziehung. Eltern kommen oft zu mir und sagen: Die Beziehung zu meinem Kind ist gestört, wir streiten oft, aber nur bei den Hausaufgaben und Schulthemen. Sobald der Schuldruck weg ist, finden wir wieder zu uns.

Förderung ist dann wirksam, wenn das Kind in seinen eigenen Aktivitäten unterstützt wird.

Also sind Eltern gar nicht für die Hausaufgaben ihrer Kinder verantwortlich?   

Bei denjenigen Kindern, die keine Probleme mit schulischen Anforderungen haben und die Anforderungen gut meistern, ist es wichtig, Interesse zu zeigen. Aber in dem Moment, in dem es Probleme gibt, ist es wichtig, diese an andere Personen zu delegieren.

Es gibt ja auch Kinder, die ihre schulischen Anliegen mit ihren Eltern teilen wollen.

Darin liegt die grosse Herausforderung für Eltern, nämlich zu spüren, welche Bedürfnisse das Kind hat und diese dann zu fördern. Förderung ist dann wirksam, wenn das Kind in seinen eigenen Aktivitäten unterstützt wird. Dann macht es Fortschritte, fühlt, dass es etwas bewegen kann, selber wirksam ist, und es entwickelt ein gutes Selbstwertgefühl. Wenn man sein Kind immer in denjenigen Bereichen fordert, in denen es Schwächen hat, wird es dauernd Misserfolgserlebnisse haben und ein schlechtes Selbstwertgefühl entwickeln. Ein Kind muss immer mehr Erfolgserlebnisse haben als Misserfolge.

Können Sie ein Beispiel nennen? 

Ich kenne einen Jungen aus meiner Sprechstunde, der mit vier Jahren eine schwere Spracherwerbsstörung zeigte und dessen Eltern ihn täglich mit Förderung gedrillt haben. Jetzt, er ist mittlerweile am Gymnasium, haben die Eltern wieder Kontakt mit mir aufgenommen, da sie wegen der Schwierigkeiten einen Nachteilsausgleich erwirken wollen. (Anmerkung der Redaktion: Notwendige Anpassungen des Unterrichts oder von Prüfungen, um die behinderungsbedingten Nachteile eines betroffenen Schülers auszugleichen.) Ich bin echt erschrocken. Das Selbstwertgefühl dieses Jungen ist minimal, er wirkt depressiv. Man spürt die chronische Überforderung. Und jetzt ist er an einem Ort, der nicht zu seinen Fähigkeiten passt. Ich bin überzeugt, dass er den eingeschlagenen Weg so nicht schaffen wird, trotz maximalem Einsatz seiner Eltern.

Sie selbst sind Vater von vier Söhnen im Alter von 10 bis 18 Jahren.

Sie sind in ihrer Persönlichkeit und ihren Begabungen sehr unterschiedlich. Einer macht beispielsweise eine Försterlehre.

Und das wollten Sie ihm als Akademiker nicht ausreden?

Nein, er geht seinen eigenen Weg und ist glücklich. Er hat einen starken Charakter und liebt die Natur. Nach der Lehre hat er immer noch die Möglichkeit, Weiterbildungen oder sogar die Berufsmatur zu machen, wenn er das möchte. Manche wissen erst dann, was sie wollen, werden später reif. Ich bin da gelassen. In der Schweiz haben wir ein durchlässiges Bildungssystem und die jungen Erwachsenen haben auch später noch Chancen, ihre berufliche Laufbahn zu gestalten. Eine Übereinstimmung von den eigenen Fähigkeiten und den Erwartungen und Anforderungen, welche die Umwelt an uns stellt – das ist ein zentrales Element für unser Selbstwertgefühl, unser Wohl- und Glücksempfinden.

Im Erwachsenenalter können wir dies selbst steuern …

…während Kinder das nicht können. Daher haben wir als Eltern die Verantwortung, eine geeignete Passung, eine Übereinstimmung von Anforderungen und Möglichkeiten für unsere Kinder zu finden und herzustellen. Das ist eine zentrale Aufgabe des Elternseins, und gleichzeitig eine sehr anspruchsvolle.

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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