Was tun mit dem imaginären Freund des Kindes?
Viele Kinder haben einen Fantasiegefährten. Psychologen hielten das Phänomen lange für einen Vorboten psychischer Störungen. Heute wird es anders gedeutet.
An der Garderobe im Kindergarten baumelt eine Filzschnur. Das ist die Leine. Noah hat sie da angeknotet, für seinen Fuchs. Während der Vierjährige spielt, bastelt und turnt, sitzt der Fuchs in der Garderobe und wartet. Wenn Noah nach Hause geht, zieht er sich Schuhe und Jacke an und nimmt die Filzleine in die Hand. Während er heimstapft, zieht er sie hinter sich her. Ausser ihm kann keiner den Fuchs sehen.
Das Tier war sein erster unsichtbarer Gefährte. «Er hat Noah überallhin begleitet», erzählt Katrin, seine Mutter. Auch bei den Mahlzeiten war der Fuchs oft dabei – unter dem Tisch, wo dann auch Noah sein Zvieri ass. «Später gab es so ein menschenartiges Ding», erinnert sich seine Mama. «Das war der kleine Nick. Der konnte fliegen, bis unter die Zimmerdecke.» Der imposanteste von Noahs imaginären Freunden aber war ein goldener Feuerdrache von der Grösse eines mittelgrossen Flugzeugs, der die Familie bis in die Ferien begleitete.
Jedes dritte Kind hat einen Fantasiefreund
Fachleute sprechen auch von Übergangsobjekten – Gegenstände wie eine Schmusedecke oder Kuscheltiere, die dem Kind ein Gefühl von Geborgenheit und Halt geben. «Alle Kinder brauchen solche Übergangsobjekte», erklärt Schulte-Markwort.
Die unsichtbaren Begleiter können in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen auftreten.
«Etwa jedes dritte Kind hat zeitweise eine Freundschaft, die nur in seiner Fantasie existiert», sagt auch Inge Seiffge-Krenke von der Universität Mainz. Bis in die 1970er-Jahre befürchteten Wissenschaftler, dass die imaginären Gefährten Vorboten psychischer Störungen seien. Heute weiss man, dass das Phänomen nicht pathologisch ist. «Das sind ganz normale, gesunde Kinder», sagt Seiffge-Krenke. «Die unsichtbaren Freunde sind eine kreative Leistung, die dem Kind in schwierigen Situationen helfen und seine Entwicklung fördern.»
Einsame Einzelkinder
Imaginäre Gefährten können etwa auftauchen, wenn die Eltern sich trennen – aber auch, wenn ein Geschwister geboren wird. So war es bei Noah, der drei Jahre alt war, als sein kleiner Bruder zur Welt kam.
Die US-amerikanische Forscherin Marjorie Taylor von der University of Oregon befragte für eine Studie 152 Kinder und stellte fest, dass Kinder, die Freunde erfinden, meist keine Geschwister haben oder Erstgeborene sind. Beide fühlen sich offenbar oft einsam: Einzelkinder, weil ein Spielgefährte fehlt, und Erstgeborene, weil das neue Geschwisterkind die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht.
Kinder zwischen drei und sieben Jahren haben besonders oft unsichtbare Freunde. Dieser Zeitpunkt liegt in der Entwicklung der Kinder begründet. «Es ist eine Art kognitives Spiel», sagt die Psychologin Seiffge-Krenke, «und damit eine Frage der geistigen Reife.» Kinder lernten auch viel für sich, indem sie mit diesen imaginären Freunden in Austausch treten, so Seiffge-Krenke. Das fördere die soziale Kompetenz.
Ein bewaffneter Alien als Beschützer?
Wenn Füchse und andere Kameraden zur Familie stossen, können Eltern also gelassen bleiben. Dennoch sollten Eltern dem unsichtbaren Gast besondere Beachtung schenken. Ein unsichtbarer Gefährte verrät viel über den Gemütszustand des Kindes.
«Ich wünsche mir Mütter und Väter, die das nicht als Spinnerei abtun», sagt der Kinderpsychiater Schulte-Markwort. «Sie sollten aufmerksam sein und selbst eine Hypothese entwickeln, warum der Gefährte für das Kind gerade jetzt notwendig sein könnte.» Je mehr Platz die Eltern dem Fantasiefreund einräumen, desto schneller verliere der wieder an Bedeutung.
Meist verschwinden die imaginären Freunde von selbst.
Bleibt allerdings ein imaginärer Gefährte über Jahre hinweg an der Seite eines Kindes, sollten sich die Eltern mithilfe von Fachleuten auf die Suche nach dem Grund machen. So wie bei jenem achtjährigen Jungen, an den sich Schulte-Markwort noch erinnert.
«Der hatte einen Alien», erzählt der Kinderpsychiater. «Dieser bewaffnete Gefährte war nur für die anderen bedrohlich und beschützte den Jungen vor der feindlichen Welt.» Weil der Alien partout nicht verschwand, kamen die Eltern mit ihrem Sohn zu ihm in die Sprechstunde. «Der Junge tat sich mit der Realität etwas schwer», sagt Markwort-Schulte. Eine Gruppentherapie half. «Je sicherer der Junge im Kontakt mit Gleichaltrigen wurde, desto weniger brauchte er den Alien.»