Der Mensch ist ein Kuscheltier - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Der Mensch ist ein Kuscheltier

Lesedauer: 6 Minuten

Berührungen beeinflussen die kindliche Entwicklung entscheidend – Säuglinge können ohne sie nicht überleben. Das Bedürfnis nach Körperkontakt ist allerdings individuell sowie abhängig vom Alter und der Beziehung höchst unterschiedlich.

Ein bisschen Rückenkraulen beim Filmschauen, eine dicke Umarmung zur Begrüssung, beim abend­lichen Vorlesen auf dem Schoss sitzen und am Sonntagmorgen die ganz grosse Kuscheleinheit im elterlichen Bett – Eltern und Kinder suchen ganz instinktiv die Nähe zueinander. Das geschieht gar nicht so sehr aus freien Stücken, wie wir meinen, denn das Bedürfnis nach Körperkontakt und Zuneigung wurde uns von der Evolutionsbiologie in die Wiege gelegt: Der Mensch ist ein Kuscheltier. 

Hautkontakt ist nicht nur für die frühkindliche Entwicklung entscheidend, er sorgt auch später für viele positive Effekte.

Berühren, liebkosen, schmusen, streicheln, massieren und drücken sorgen dafür, dass Kinder sich auf körperlicher und geistiger Ebene gut entwickeln können. Fehlen diese physischen Kontakte, das haben Studien gezeigt, reift das Gehirn nur verzögert. In Untersuchungen mit Rhesusaffen haben Wissenschaftler gezeigt, dass Säuglinge, die gar nicht berührt werden, sterben. Experten gehen davon aus, dass das Gleiche auch für den Menschen gilt. Der Haut-zu-Haut-Kontakt ist nicht nur entscheidend für die frühkindliche Entwicklung, er sorgt auch später im Leben für zahlreiche positive Effekte im Körper. Berührungen helfen nämlich beim Abbau von Stress, sie können Ängste und Depressionen lindern und das Immunsystem stärken. Wer viel berührt wird, geht entspannter durchs Leben. 

«Kuscheln und Körperkontakt sind auch Zeichen von Beziehungsfähigkeit und Beziehung», sagt Regine Heimann, pädagogische Leiterin der Klinik für Kinder und Jugendliche an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. «Wenn Kinder von sich aus kommen und kuscheln möchten, sollten Eltern darauf eingehen.» 

Bestätigung über Hautkontakt

Denn was die Jungen und Mädchen sich damit abholen wollen, ist auch eine Form der Bestätigung, dass da jemand ist, zu dem sie jederzeit gehen können. Egal, ob sie Trost, Halt oder Gemütlichkeit brauchen – es gibt viele verschiedene Anlässe, aus denen heraus Kinder den Kontakt suchen. «Dahinter steckt oft die unbewusste Sorge: Bist du auch wirklich für mich da?», erklärt Heimann. Und Eltern, die dann in den Arm nehmen, über den Kopf streichen oder einfach kurz und fest die Hand drücken, lassen den Nachwuchs wissen: Ja, das bin ich. 
 
Körperkontakt basiert immer auf zwei handelnden Personen, die – und das ist wichtig – ganz natürlich miteinander agieren. Das bedingt, das jeder mal sagen kann: Du, ich bin gerade nicht so in der Stimmung dafür. Eltern dürfen das genauso wie Kinder. Deren Nein zu körperlicher Nähe wiederum sollte von den Erwachsenen bedingungslos akzeptiert werden. «Eltern sollten hier offen sein für Signale», sagt Regine Heimann. «Kinder zeigen ihre Bedürfnisse sehr gut an, und wenn eines eher auf körperliche Abgrenzung bedacht ist, ist das auch absolut in Ordnung.» 

Wie stark der Wunsch nach Streicheleinheiten ausgeprägt ist, hängt zudem sehr mit dem Alter des Kindes zusammen. Kleine Kinder kuscheln noch mit dem ganzen Körper, viele lieben es, an den Füssen oder im Nacken gekrault und fest in den Arm genommen zu werden. Für Teenager ein fast schon gruseliger Gedanke. Sie achten bei Umarmungen gerne auf genügend Abstand zwischen den Akteuren und begnügen sich noch lieber mit einem Schulterklopfen, das anerkennt oder aufmuntert. «Manchmal reicht es dann durchaus, einfach die Hand auszustrecken oder sogar nur einen Blickkontakt zu suchen», sagt Heimann. «Das mag für die Eltern vielleicht in dem Moment nicht genug sein, doch sie respektieren damit, dass dem Jugendlichen ein Körperkontakt jetzt unangenehm oder peinlich wäre, und zeigen gleichzeitig, dass sie aufmerksam sind und Anteil nehmen.» 

Grenzen respektieren

Die oberste Regel beim Kuscheln lautet: Grenzen respektieren. Die eigenen genauso wie die der anderen. Während in manchen Familien zum Beispiel gerne massiert wird, ist das in anderen überhaupt nicht vorstellbar. Wichtig ist, dass jeder nur Dinge tut, die in der eigenen Komfortzone liegen. Das kann selbst von Person zu Person unterschiedlich – und mitunter für die Betroffenen auch kränkend sein: Wenn ein Bub sich gerne beim Geschichtenerzählen an den Grossvater kuschelt, der Grossmutter aber eine Umarmung verwehrt, dann ist das eben so. Kein Kind sollte zu körperlichen Kontakten gezwungen werden. 

Ein wenig genauer hinschauen sollten Erwachsene, wenn Kinder distanzlos auf alle Menschen zugehen, sie umarmen oder ungefragt auf den Schoss von jemandem klettern. «Das kann schlicht ein Kind mit einem grossen Temperament sein, das sich nichts dabei denkt», sagt Regine Heimann. «Aber es könnte sich auch um ein Alarmzeichen handeln, dass hier vielleicht Bedürfnisse vorhanden sind, die zu Hause nicht erfüllt werden.» 

Eine gute Bindung zu den ­Eltern ermöglicht Kindern, Wissen und Kulturtechniken zu ­erwerben und die komplexen sozialen Regeln zu verstehen.

Das kindliche Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung macht einen entscheidenden Teil der Eltern-Kind-Beziehung aus. Die Kinderärztin Caroline Benz von der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie eine solche Beziehung gelingend gestaltet werden kann. «Zweck dieser Bindung zwischen Eltern und Kind ist primär, das Wohlbefinden des Kindes sicherzustellen», sagt Benz. Darüber hinaus ermöglicht sie den Kindern, Wissen und Kulturtechniken zu erwerben und die komplexen sozialen Regeln unseres Zusammenlebens zu verstehen. Benz ergänzt: «Denn wie schon Goethe sagte: Man lernt nur von dem, den man liebt.» Zu lernen aber ist essenziell, um zu überleben. Deshalb ist es so wichtig, Bindungen aufzubauen. Die Eltern-Kind-Beziehung ist dabei die erste und oft prägendste in unserem Leben, aber auch Beziehungen zwischen Lehrer und Kind oder einem anderen Erwachsenen und Kind sind bedeutsam. 

Streicheln mit Worten

Damit ein Kind sich wohl und geborgen fühlt, müssen zwei Kriterien abgedeckt sein: Zum einen müssen Grundbedürfnisse wie Ernährung, Pflege und Schutz erfüllt werden. Zum anderen gilt es den Wunsch nach Nähe und Zuwendung zu stillen, also die psychischen Bedürfnisse. Das kann über den Körperkontakt und die Kommunikation geschehen. «Je jünger ein Kind ist, umso mehr werden die psychischen Bedürfnisse noch über Hautkontakt erfüllt, zum Beispiel beim Baden, Wickeln oder eben Kuscheln», sagt Benz. Der Teenager, der – siehe oben – nicht mehr in den Arm genommen werden möchte, will lieber diskutieren und sucht das Zwiegespräch. Indem Eltern sich darauf einlassen, verteilen sie ebenfalls Zuwendung: Sie streicheln mit Worten. Entscheidend, sagt Caroline Benz, sei die Qualität im Umgang mit dem Kind, Stichwort Feinfühligkeit. «Eltern sollen für ihr Kind da sein und seine Bedürfnisse angemessen und konsistent befriedigen – mit Berührungen, aber auch im Gespräch.»

Fremdeln zeugt von Nähebedürfnis 

Eine Frage, die Fachleute im Umgang mit Kindern sehr beschäftigt, ist die nach den individuellen Bedürfnissen: Wie viel Geborgenheit braucht dieses und wie viel braucht jenes Kind? Wenn ein Kind stark fremdelt, hohe Trennungsangst zeigt und sehr eifersüchtig auf Geschwisterkinder reagiert, dann sind das klare Hinweise darauf, dass dieses Kind viel Geborgenheit, Streicheleinheiten und Zuwendung braucht. Wie sieht es aus mit einem sogenannt wehleidigen Kind? «Dieses Verhalten scheint zunächst einmal eher negativ besetzt», sagt Benz, «aber wir wissen inzwischen, dass gerade diese Kinder viel Nähe und Körperkontakt brauchen und jede Gelegenheit wahrnehmen, in den Arm genommen zu werden, wenn sie sich zum Beispiel das Knie aufgeschürft haben, während es für ein anderes völlig okay ist, dass die Mutter da kurz pustet und ein Pflaster draufmacht.» 

Selbst unter Geschwistern, so Benz, können sich die Nähe­bedürfnisse stark unterscheiden. Dieser Verschiedenheit müsse Rechnung getragen werden, nicht nur von Eltern, sondern auch von anderen Bezugspersonen wie Lehrerinnen und Lehrern. «Diese erleben es oft, dass manche Kinder immer wieder zu ihnen kommen, den Kontakt suchen, Fragen haben, während andere das nicht tun», sagt Benz. «So bekommt das eine Kind dann vielleicht absolut gesehen mehr Zuwendung als ein anderes. Immer alle, um der Gerechtigkeit willen, gleich zu behandeln, ergibt keinen Sinn: Es gibt schliesslich nichts Ungerechteres, als Ungleiche gleich zu behandeln.»  

Die Nähebedürfnisse von ­Kindern unterscheiden sich stark. Dieser Verschiedenheit muss von Eltern und anderen Bezugspersonen wie Lehrern Rechnung getragen werden. 

Egal ob mit zärtlichen Berührungen, Massagen oder aufrichtig interessiertem Nachfragen: Die Erfahrung «Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst» gehört zu den wichtigsten, die Kinder machen. Der Grundstein wird in den ersten Lebensjahren gelegt, doch auch danach gilt es diese Haltung aufrechtzuerhalten. «Wenn Kinder lernen, dass da immer jemand ist, der verfügbar und verlässlich ist, dann bauen sie daraus ein inneres Arbeitsmodell auf», erklärt Benz. Und das wiederum ist die Basis dafür, dass die jungen Menschen später in der Lage sind, gut funktionierende Beziehungen aufzubauen und zu führen. 

Was passiert im Körper, wenn wir kuscheln?

Kuscheln ist eine gute Sache, sagt Jochen Seufert, Leiter der Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie an der Klinik für Innere Medizin II am Universitäts­klinikum Freiburg. Denn die Prozesse, die dabei im Körper ablaufen, tun uns gut. Zunächst einmal werden beim Kuscheln sogenannte Neurotransmitter aktiv, das sind hormonell aktive Substanzen im Gehirn. Die beiden fraglichen Kandidaten in diesem Fall heissen Oxytocin und Dopamin, besser bekannt als das Bindungshormon und das Glückshormon. 

«Zwar gibt es noch relativ wenig Daten dazu betreffend Kinder, doch wir wissen generell, dass die Ausschüttung dieser beiden Neurotransmitter die menschliche Bindung sowohl zwischen erwachsenen Lebenspartnern als auch in einer Eltern-Kind-Beziehung fördern», sagt Seufert. Dopamin stimuliert bestimmte Hirnareale, die aus der Suchtforschung als Belohnungszentren bekannt sind. Zudem werden Endorphine – schmerzstillende, vom Körper selbstproduzierte Morphine – ausgeschüttet, die ein positives Gefühl vermitteln. 

Das Kind verbindet mit dem Kuscheln also eine angenehme Erinnerung, es wird sozusagen «süchtig» nach dem Körperkontakt. «Kuscheln Eltern mit ihrem Kind, sind zwei Phasen nachweisbar», sagt Seufert. «In der ersten geht aufgrund des entstehenden Wohlgefühls der Puls des Kindes nach oben, dann kommt es zur Entspannungsphase, in der Stresshormone reduziert werden.» Dieser Prozess dauert bei älteren Kindern länger als bei jüngeren. 


Claudia Füssler gehört zu den Menschen mit nicht ganz so ausgeprägtem Kuschelgen – sie vertraut sich gerade im Winter lieber dicken Socken und einer Wolldecke als herzenden Händen an. Dafür nutzt sie den eigenen Tastsinn gerne und massiert regelmässig die schmerzenden Nacken von Freunden.
Claudia Füssler gehört zu den Menschen mit nicht ganz so ausgeprägtem Kuschelgen – sie vertraut sich gerade im Winter lieber dicken Socken und einer Wolldecke als herzenden Händen an. Dafür nutzt sie den eigenen Tastsinn gerne und massiert regelmässig die schmerzenden Nacken von Freunden.


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