Bye-bye, Mutterinstinkt!

Es ist eine gängige Annahme, dass Frauen biologisch zur Fürsorge prädestiniert sind. Was sagt die Wissenschaft dazu?
Mütter sind von Natur aus die fürsorglichsten Bezugspersonen und wissen instinktiv, was ihr Kind braucht. Die Binsenweisheit vom Mutterinstinkt ist «eine Geschichte, die historisch über viele Jahrhunderte aus patriarchalen Überzeugungen, aber auch aus fehlenden wissenschaftlichen Alternativen fortgeschrieben wurde». Das schreiben Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner in «Mythos Mutterinstinkt». In ihrem Buch tragen die Journalistinnen Erkenntnisse aus der Hirnforschung zusammen, die zeigen: Der Mutterinstinkt lässt sich nicht nachweisen. Respektive scheint er in allen Menschen angelegt zu sein – und zwar als Fürsorgeinstinkt.
Beispielsweise beziehen sich die Autorinnen auf Studien aus Spanien, den Niederlanden und den USA. Diese zeigen, wie uns das weibliche – oder vielmehr: das elterliche – Gehirn die Fürsorge für ein Neugeborenes erleichtert. So fanden Forscherinnen heraus, dass die Schwangerschaft die graue Masse im weiblichen Gehirn temporär schrumpfen lässt. Dabei handelt es sich um ein Finetuning der Hirnstrukturen, das Frauen ermöglicht, Fürsorgeverhalten zu lernen.
Für eine starke Bindung zählt nicht das Geschlecht, sondern einzig, wie oft und wie intensiv sich eine Person um das Kind kümmert.
In Folgestudien mit Vätern zeigte sich: Solange die Partnerin schwanger war, fanden bei ihnen keine strukturellen Veränderungen des Gehirns statt. Wohl aber nach der Geburt des Kindes. Dann nahm auch bei den Vätern das Volumen der grauen Masse ab. Was ihnen, genau wie den Frauen, offenbar hilft, auf die Bedürfnisse des Babys eingehen und sich mit diesem verbunden fühlen zu können.
Eine Studie offenbart Erstaunliches
Schon lange ist bekannt, dass die Amygdala – ein mandelförmiger Kern in der Gehirnmitte, der an der Entstehung von Emotionen beteiligt ist – bei Frauen nach der Geburt besonders aktiv ist. Diese Tatsache wurde lange als Beweis dafür herangezogen, dass Frauen darauf programmiert sind, unvergleichbar starke Gefühle für ihr Kind zu empfinden.
Ob der Effekt nur bei Müttern auftritt, wollten Forscher und Forscherinnen aus Tel Aviv 2014 wissen. An ihrer Studie beteiligten sich heterosexuelle Vollzeitmütter mit neugeborenem Kind, heterosexuelle Väter, die die Säuglingspflege mehrheitlich den Frauen überliessen, sowie homosexuelle Vollzeitväter, deren Baby oft nicht ihr leibliches war. Forscher filmten die 90 Probanden mehrmals mit ihren Kindern und zeigten ihnen anschliessend die Aufnahmen. Ein Kernspintomograf zeichnete währenddessen die Gehirnaktivität der Beteiligten auf.
Die Erzählung vom Instinkt produziert unglaublich hohe Ansprüche an Mütter.
Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner, Buchautorinnen
Wie erwartet reagierte die Amygdala der Mütter stark, die der heterosexuellen, seltener in die Kinderpflege involvierten Väter weniger. Dafür waren bei ihnen jene neuronalen Bereiche, die kognitive Prozesse steuern, aktiver. «Was den Vätern ermöglichte, die Bedürfnisse des Kindes besser zu erkennen», so die Studienautorinnen und -autoren.
Für die grösste Überraschung sorgten die homosexuellen Väter: Nicht nur zeigte ihre Amygdala die gleiche Aktivität wie die der Vollzeitmütter, ebenso fanden bei ihnen ausgeprägte kognitive Prozesse statt, wie sie bei den heterosexuellen «Wochenendvätern» zu beobachten waren. Bei denen stellten die Forscherinnen zudem Bemerkenswertes fest: Je mehr Zeit die Männer ihrem Säugling widmeten, desto aktiver wurde ihre Amygdala.
Was es für eine starke Bindung braucht
Für die Entstehung einer starken Bindung sei also weder das Geschlecht des Elternteils noch die biologische Verwandtschaft zum Kind entscheidend, bilanzierte das Forscherteam, sondern allein, wie oft und wie intensiv sich eine Person um das Kind kümmere.
Dieser Befund ist nur einer von vielen, die nahelegen: Ein Mutterinstinkt existiert nicht. «Ein Grund zum Jubeln», finden Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner. «Denn die Erzählung vom Instinkt produziert unglaublich hohe Ansprüche an Mütter – und spart all jene aus, die Sorge für ein Kind tragen, ohne es geboren zu haben.»