Was ist Respekt und wie leben wir ihn aus?
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Was ist Respekt und wie leben wir ihn aus?

Lesedauer: 6 Minuten

Im Umgang miteinander ist Respekt unverzichtbar, er schafft Vertrauen und Sicherheit. Und doch tun wir uns immer wieder schwer damit. Was braucht es, damit wir uns selbst und anderen mit Höflichkeit, Toleranz und Anerkennung begegnen können?

Text: Anja Kalisch-Hinz
Bild: Westend61 / Getty Images

Kennen Sie den Film «Der Club der toten Dichter», der vor 35 Jahren für Furore sorgte? Er handelt von einer Gruppe von Schülern an einem konservativen Jungen-Internat im US-Bundesstaat Vermont. Die Lebenswege der Schüler werden entscheidend beeinflusst, als der charismatische Englischlehrer John Keating (gespielt von Robin Williams) in ihr Leben tritt. Keating lehrt seine Schüler nicht nur Literatur, sondern inspiriert sie dazu, ihr Leben nach dem Motto «Carpe diem» zu gestalten – «Nutze den Tag».

In der Schlüsselszene steigen die Schüler auf ihre Tische und rufen «O Captain! Mein Captain!». Diese Geste symbolisiert ihren tiefen Respekt und ihre Wertschätzung für ihren Lehrer, der sie inspiriert hat, ihre eigenen Wege zu gehen, ihre Träume zu verfolgen, unabhängig zu denken und die traditionellen gesellschaftlichen Normen kritisch zu hinterfragen. Sie verdeutlicht, wie echter Respekt und Anerkennung das Leben und die Perspektiven von Menschen verändern können.

Respekt gegenüber sich selbst und anderen bildet den Kern unseres Zusammenlebens.

Ein menschliches Grundbedürfnis

Das Wort «Respekt» bedeutet im Ursprung «Rückblick, Betrachtung». Die Vorsilbe «re» (wieder) und «specere» (schauen) führen zu einem wesentlichen Grundbedürfnis des Menschen: gesehen zu werden. Respekt gegenüber sich selbst und anderen bildet den Kern unseres Zusammenlebens und stärkt die mentale Gesundheit.

Respekt ist mehr als nur Höflichkeit – er ist die Grundlage für wahre menschliche Verbindung und Wachstum. Respekt ist eine grundlegende menschliche Haltung, die sich durch Wertschätzung, Achtung und Anerkennung gegenüber anderen Personen, der Natur oder Institutionen ausdrückt. Diese Haltung zeigt sich in unserem Verhalten und unseren Worten, indem wir anderen mit Höflichkeit, Toleranz und Anerkennung begegnen.

Respekt hat tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale Miteinander und das individuelle Wohlbefinden. Wenn Menschen sich respektiert fühlen, stärkt dies ihr Selbstwertgefühl und fördert ein positives Selbstbild.

Respektvolle Interaktionen schaffen ein Umfeld des Vertrauens und der Sicherheit, in dem sich Menschen frei äussern und entfalten können. Dies führt zu einer harmonischen und kooperativen Gesellschaft, in der Konflikte konstruktiv gelöst werden können. Zudem fördert Respekt die soziale Verantwortung und das Engagement, da Menschen, die sich respektiert fühlen, eher bereit sind, sich für das Gemeinwohl einzusetzen.

Respektvoller Umgang ist zur Mangelware geworden.

René Borbonus, Kommunikationsexperte

Zwei Grundformen von Respekt

Die Fachliteratur bietet keine einheitliche Definition des Begriffs «Respekt». Allerdings unterscheidet die interdisziplinäre Respect Research Group der Universität Hamburg zwischen zwei Grundformen: dem horizontalen und dem vertikalen Respekt.

  • Horizontaler Respekt bedeutet, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Rang oder Status gleichwertig und anerkannt sind. Er ist das Fundament eines demokratischen Zusammenlebens und beruht auf individuellen Werten und Prinzipien.
  • Vertikaler Respekt beschreibt hingegen die Anerkennung, die jemand für seine Expertise oder besondere Leistungen erhält. Diese Form des Respekts ist hierarchisch und drückt sich in sozialer Anerkennung aus, kann jedoch nicht erlernt oder eingefordert werden.
Respekt: Drei Freundinnen sitzen nebeneinander und lehnen sich aneinander an
Respekt hat tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale Miteinander. (Bild: Johnér Images / Getty Images)

Zeit, bei einem Spezialisten nachzufragen. René Borbonus ist Experte für respektvolle Kommunikation und Bestsellerautor. Er nutzt die Erkenntnisse der Universität Hamburg, um mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den respektvollen Umgang in der Gesellschaft zu fördern.

Herr Borbonus, ist Respekt ein Wert oder eine Haltung?

Aus meiner Sicht ist es beides. In erster Linie ist Respekt ein Wert. Wenn ich diesen Wert für mich annehme, dann entsteht daraus eine Haltung. Und aus dieser Haltung heraus entsteht ein Verhalten, das ein harmonisches Zusammenleben regeln kann.

Abfällige Sprüche, Beschimpfungen, Beleidigungen: Ob in der Politik, in Unternehmen oder auf dem Pausenplatz – das Thema Respekt ist allgegenwärtig. Warum?

Weil wir gerade alle spüren, wie es ist, zu wenig davon zu haben. Die allgemeine Gereiztheit und das Bedürfnis, sich aus Diskussionen zurückzuziehen, sind deutliche Anzeichen dafür. Der raue Ton in Debatten, auf Social Media, in Schulen, in der Politik und sogar im Freundeskreis zeigt, dass respektvoller Umgang zur Mangelware geworden ist. Die Vielzahl an Konflikten und Herausforderungen belasten unsere Beziehungen, heizen den Egoismus an und steigern zeitgleich die Sehnsucht nach Höflichkeit und Wertschätzung.

Verändert sich das Verständnis von Respekt mit dem Lebensalter?

Meine Überzeugung ist, dass sich das grundlegende Verständnis von Respekt – nämlich die Fähigkeit, andere wahrzunehmen und anzuerkennen, unabhängig von Herkunft, Beruf oder Titel – im Laufe des Lebens nicht verändert. Was sich jedoch ändert, ist die Art, wie wir Respekt erleben und ausdrücken.

Warum fällt es einigen Menschen schwer, respektvoll zu sein?

Ich denke, dass die meisten Respektlosigkeiten nicht bewusst geschehen. Menschen sind oft versehentlich unachtsam. Unsere zwischenmenschlichen Beziehungen werden durch Kommunikation geprägt, und es gibt viele Faktoren, die für einen respektvollen Austausch notwendig sind. Ein weiterer Grund für Respektlosigkeit ist unsere Emotionalität. Wenn wir emotional werden, wird unsere Fähigkeit zur Selbststeuerung eingeschränkt.

In solchen Momenten fällt es schwer, klug, ruhig und differenziert zu argumentieren. Emotionen erschweren es, eine respektvolle Haltung beizubehalten. Zudem spielt es eine Rolle, wie uns Respekt vorgelebt wurde und welchen Einfluss die Medien auf uns haben.

Welche Rolle spielt Respekt in der modernen Erziehung und Entwicklung von Kindern?

Es ist unsere Aufgabe, einem Kind in seinen ersten Lebensjahren beizubringen, was es bedeutet, sich selbst und andere zu respektieren. Ich glaube, dass Empathie und genaues Zuhören wesentliche Bestandteile von Respekt sind, die von uns Eltern oft unterschätzt werden. Wenn wir Kinder dazu befähigen wollen, respektvoll zu handeln, ist Empathie der Schlüssel. Dies beginnt bereits bei der Verharmlosung von Erlebnissen unserer Kinder. Oft antworten wir mit Sätzen wie «Ist doch nicht so schlimm! Das schaffst du schon». Das ist zwar gut gemeint, aber wir erkennen dabei die Bedürfnisse des Kindes nicht richtig. Im Grunde genommen ist dieses Wegwischen von Gefühlen schon ein Akt der Respektlosigkeit.

Jeder von uns kann etwas tun gegen Hassrede, Mobbing oder Desinformation.

René Borbonus, Kommunikationsexperte

Für eine Studie der Stiftung Mercator Schweiz wurde vor zwei Jahren 7700 Personen die Frage gestellt, was Kinder aus der Schule fürs Leben mitnehmen sollen. 78 Prozent aller Befragten haben geantwortet: Respekt und Toleranz. Leistung und Disziplin folgten auf Platz 2. Wie beurteilen Sie dieses Ergebnis?

Der Schlüssel zu allen Fähigkeiten ist aus meiner Sicht das Textverständnis. Ohne die Fähigkeiten zu lesen, zu schreiben und zu verstehen, wäre ich selbst nicht in der Lage, mein Wissen und meine Erkenntnisse zu erweitern. Lesen und Schreiben ermöglichen den Zugang zu Wissen und Erkenntnis, daher stehen sie für mich an oberster Stelle. Es wäre aber wichtig, diese Lerneinheiten durch humanistische Bildungselemente wie Respekt und Toleranz zu ergänzen. Allerdings sehe ich keinen Grund, deswegen die gesamte Schulordnung infrage zu stellen.

Wir bewegen uns immer häufiger im virtuellen Raum. Wie gelingt ein respektvoller Umgang in den sozialen Netzwerken?

Ich bin der Ansicht, dass der virtuelle Raum besser ist, als wir oft denken. Auch ich ertappe mich dabei, ihn in einem zu schlechten Licht darzustellen. Grundsätzlich haben wir mit drei Hauptproblemen zu kämpfen: Hassrede, Desinformation und Verschwörungstheorien. Diese tragen dazu bei, dass der Ton rauer wird, die virtuelle Kommunikation leidet und Menschen Gefahren ausgesetzt sind. Was ich mir wünsche, ist eine Rekultivierung des virtuellen Raums, denn er ist ein Ort, den wir bewohnen und weiterhin bewohnen werden. Unsere Kinder informieren und orientieren sich dort. Daher ist es unsere Aufgabe, diesen Raum genau zu betrachten und uns nicht zurückzuziehen, wenn es anstrengend wird.

Jeder von uns kann etwas tun gegen Hassrede, Mobbing oder Desinformation, auch wenn es unangenehm ist und wir dabei Rückschläge erleiden. Früher haben Erwachsene sofort eingegriffen, wenn es beispielsweise in Jugendtreffs Probleme gab. Sie haben die Beteiligten zur Seite genommen und versucht, das Problem durch Kommunikation zu lösen. Der virtuelle Raum ist heutzutage ein solcher Jugendtreff, in dem unsere Kinder viel Zeit verbringen. Daher sollten wir ihn sehr ernst nehmen, bei Bedarf eingreifen und unseren Kindern auch hier einen respektvollen Umgang vermitteln.

Was raten Sie Eltern?

Beteiligung und echtes Interesse sind entscheidend. Besuchen Sie diese Plattformen, treten Sie mit Ihrem Kind in einen offenen Dialog über seine sozialen Aktivitäten. Hören Sie Ihrem Kind auf empathische Weise genau zu. Geben Sie ihm das Gefühl, dass Sie seine Sorgen ernst nehmen. Kinder brauchen die Sicherheit, dass sie mit den Gefahren, die in der virtuellen Welt lauern, nicht allein sind. Seien Sie mutig und greifen Sie ein, um ein respektvolles Miteinander im digitalen Universum sicherzustellen.

Braucht es Selbstrespekt, um andere respektieren zu können?

Ja, unbedingt. Ich betrachte Respekt als eine universelle Kunst, ähnlich wie Erich Fromm die Liebe beschreibt. Fromm ist überzeugt, dass die Fähigkeit zur Selbstliebe Voraussetzung dafür ist, andere wirklich lieben zu können. Ähnlich verhält es sich mit Respekt. Nur wer sich selbst respektiert, kann die Grundlage schaffen, um andere als gleichwertig anzuerkennen. Mangelt es an Selbstrespekt, wird meiner Meinung nach der respektvolle Umgang mit anderen beeinträchtigt sein. Daher ist es wichtig, unsere Kinder schon frühzeitig in ihrem Selbstrespekt zu stärken.

Respekt – die Serie

Teil 1: Ein unverzichtbares Element des menschlichen Miteinanders

Teil 2: Selbstrespekt – die Grundlage für das respektvolle Kind

Teil 3: Wie redest du eigentlich mit mir?

Wir alle sehnen uns nach Beachtung und Wertschätzung. Der derzeitige Mangel an Respekt ist in vielen Bereichen unseres Lebens spürbar. Was zu Hause beginnt, setzt sich im Klassenzimmer, in Meetingräumen, auf Social Media und schliesslich in politischen Debatten fort. Respektlosigkeit führt zu Vertrauensverlust und erschwert das Zusammenleben sowie die Weiterentwicklung auf allen Ebenen.

Respekt beginnt bei uns selbst. Die Art, wie wir uns selbst respektieren, prägt unsere Haltung und fördert eine Kultur der Wertschätzung und Gleichberechtigung.

Autorin Anja Kalisch-Hinz

Anja Kalisch-Hinz
ist 47 Jahre alt, Psychologin, Lerncoach und Respekttrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern in Kilchberg ZH.

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