«Wir können viel tun, damit ein Kind in Würde sterben kann»
Wenn das eigene Kind unheilbar erkrankt, steht das Leben einer Mutter, eines Vaters still. Eva Bergsträsser und Eva Cignacco fordern, diese Familien besser zu begleiten. Die Medizinerin und die Pflegewissenschafterin über Palliative Care, die letzte Zeit im Leben eines Kindes und die Nöte ihrer Eltern.
Frau Bergsträsser, Frau Cignacco, beim Begriff Palliative Care (lat. palliare, «mit einem Mantel bedecken»; engl. care, «Fürsorge, Betreuung») denken viele sofort an Sterbe- beziehungsweise Trauerbegleitung.
Eva Bergsträsser: Das sind mit Sicherheit zwei wesentliche Bestandteile der Palliative Care. Palliative Care umfasst aber weit mehr als die Sterbe- und Trauerbegleitung – nämlich die Lebensgestaltung in den letzten Wochen, Monaten, ja vieleicht sogar Jahren eines Patienten. Das Ziel ist dann, dass das Leben trotz einer unheilbaren Krankheit lebenswert bleibt.
Eva Cignacco: International gesehen kann man sagen, dass der Beizug spezialisierter Palliative-Care-Teams für Familien die Lebensgestaltung dieser Kinder trotz schwerer Krankheit erleichtert. Diese Unterstützung kann Spitalaufenthalte verhindern helfen und auch Therapien vermeiden, die leider nicht mehr zu einer Krankheitskontrolle und Lebensverlängerung führen. Dieser Bestandteil von Palliative Care kommt aber hierzulande in der Kindermedizin häufig noch zu kurz.
Wie meinen Sie das?
Eva Cignacco: Wir haben in einer national angelegten Studie die Krankengeschichten von 149 verstorbenen Kindern untersucht. Wir wollten wissen, wie Kinder an ihrem Lebensende betreut werden. Dabei wurde unter anderem deutlich, dass der überwiegende Teil dieser Kinder im Spital, auf der Intensivstation, statt zu Hause verstorben ist.
Unsere Studie zeigt, dass wichtige Aspekte der Betreuung am Lebensende zu kurz kommen.
Eva Bergsträsser
Eva Bergsträsser: Ausserdem bekamen alle Kinder in den letzten ein bis vier Lebenswochen eine sehr intensive Behandlung mit einer hohen Anzahl von Medikamenten. Viele dieser Medikamente sind notwendig, wie Schmerzmedikamente, aber die Anzahl hat uns überrascht – bis zu 45 Medikamente am Tag wurden verschrieben.
Was schliessen Sie daraus?
Eva Bergsträsser: Dass eine sehr intensive Medizin betrieben wird und dabei wichtige Aspekte der Betreuung am Lebensende zu kurz kommen.
Fühlen sich Ärzte unsicher, wenn es um sterbende Kinder geht?
Eva Cignacco: Unsere Studie deutet darauf hin. Aktiv sein, Therapien durchführen, Medikamente verschreiben hat man als Mediziner gelernt. Um den Sterbeprozess einzuleiten, bräuchte es aber einen Richtungswechsel in der Behandlung.
Dieser Richtungswechsel setzt aber den Moment voraus, in dem klar ausgesprochen wurde: «Ab jetzt gibt es keine Aussicht mehr auf Heilung.» Warum tun sich Mediziner damit so schwer?
Eva Cignacco: Weil sie darin zu wenig Erfahrung haben. Das Palliative, bei dem es wichtig ist, Eltern schlechte Nachrichten zu übermitteln, auch einmal mit den Eltern zu schweigen, wird hierzulande in der Ausbildung zu wenig berücksichtigt. Experten auf diesem Gebiet lassen sich im Ausland ausbilden. Wie Eva Bergsträsser in England.
Eva Bergsträsser: Ich höre auch von Ärzten: «Die Eltern waren noch nicht so weit.» Aber das sollte differenzierter gesehen werden. Vielleicht sind wir selbst noch nicht so weit!
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Eva Bergsträsser: Ja, eines aus der Studie. Eine Mutter von einem Neugeborenen berichtete in einem Interview von ihrem Gespräch mit dem betreuenden Arzt: dass sie das Gefühl habe, dass ihr Kind stirbt. Der Arzt schickte sie nach Hause mit den Worten sie solle sich ausruhen. Es komme schon gut. Zu Hause angekommen, wurde sie vom Spital angerufen. Das Kind war in der Zwischenzeit gestorben. So etwas darf nicht passieren.
Was hätten Sie am Kinderspital Zürich anders gemacht, wenn dieser Fall bei Ihnen passiert wäre?
Eva Bergsträsser: Ich würde die Mutter fragen: «Warum haben Sie das Gefühl, dass Ihr Kind stirbt?» «Wie hat sich das Kind verändert?» Es muss ein Gespräch zustande kommen, an dessen Ende die Aussage der Mutter besser eingeordnet werden kann. Dafür ist es auch wichtig, dass die Betreuungspersonen nicht zu viel wechseln.
Frau Bergsträsser, Sie leiten am Kinderspital Zürich eines der wenigen pädiatrischen Palliative-Care-Zentren der Schweiz. Betroffene Familien aus der Region Zürich haben also Glück gehabt.
Eva Bergsträsser: Unsere Patienten kommen nicht nur aus dem Raum Zürich. Und wenn von mir oder meinem Team betreute Patienten nach Hause entlassen werden, fahren wir in Absprache mit dem Hausarzt und der Spitex auch bis in den Kanton Aargau, um sie zu begleiten. So lerne ich die Familien gut kennen und es entsteht ein Vertrauensverhältnis.
Mir ist wichtig, festzuhalten: Nicht nur der Tod zu Hause ist ein guter Tod.
Eva Bergsträsser
Eva Cignacco: Es ist wichtig, dass die Versorgungskette aufrechterhalte wird, die vom Spital aus gesteuert wird. Das Spital ist die Instanz, die die Familie und das Kind am besten kennt.
Sie fordern, dieses Konzept flächendeckend auszuweiten. Wann werden Sie, Frau Bergsträsser, bei einem Fall hinzugezogen?
Eva Bergsträsser: Für mich ist der Punkt, aktiv zu werden, nicht der Moment der Diagnose, sondern der, in dem sich der Zustand des Kindes innerhalb dieser unheilbaren Krankheit verschlechtert und Kind und Familie mehr Unterstützung benötigen.
Schildern Sie uns einen konkreten Fall?
Eva Bergsträsser: Gerade heute war ich bei einem Kind und seiner Familie, die letzte Woche stationär ins Kinderspital aufgenommen wurde. Das Kind hat eine syndromale, sehr komplexe Erkrankung. Diese Kinder haben oft grosse Probleme, wenn sie eine Luftwegserkrankung bekommen. Wegen einer Muskelschwäche haben sie nicht die Kraft, den Schleim hochzuhusten, und erkranken schneller an einer Lungenentzündung.
Wie gehen Sie weiter vor?
Eva Bergsträsser: Wenn das Kind den akuten Infekt überstanden hat, machen wir einen Termin zu Hause ab. Dann schauen wir, ob bei einer nächsten Erkrankung die Therapie, die es jetzt im Spital bekommt, auch zu Hause stattfinden kann. In Absprache mit der Kinderärztin und der Spitex würde ich diese Versorgung dann zu Hause unterstützen. Das wünschen sich die Eltern.
Vor einigen Monaten ging der Fall eines kleinen Mädchens durch die Medien. Es ist im Kinderspital verstorben.
Eva Bergsträsser: Lara hatte eine Fehlbildung der Speiseröhre, die nach der Geburt zwar operativ behoben werden konnte, aber der gesamte Verdauungsapparat war so krank, dass sie nicht normal ernährt werden konnte. Über vier Jahre wurde sie künstlich ernährt, bis man keine Venenzugänge mehr fand. Aufgrund der schweren, komplexen Erkrankung und der fehlenden Aussicht auf eine Verbesserung oder Heilung wurde entschieden, die Therapie nicht weiter auszudehnen und einen letzten Venenkatheter zu setzen. Hier im Spital. Bei uns ist sie dann auch gestorben.
Nicht zu Hause?
Eva Bergsträsser: Ich hatte das angeboten, aber die Familie entschied sich aus verschiedenen Gründen da gegen. Es ist mir wichtig, das festzuhalten: Nicht nur der Tod zu Hause ist ein guter Tod. Aber dann muss man das auch als solches deklarieren: Das Kind ist im Spital, um zu sterben, und nicht, um geheilt zu werden.
Jedes Leben zählt. Unabhängig davon, wie lange es dauert.
Eva Bergsträsser
Wenn dies klar kommuniziert wird, kann sich auch das Pflegepersonal anders verhalten. Die Pflegerinnen und Pfleger haben sich rührend liebevoll um das Mädchen gekümmert. Die halbe Station war auf der Beerdigung.
In dem Moment, in dem Sie zum ersten Mal hinzugezogen werden, ahnen die Eltern doch sicher bereits, worum es geht.
Eva Bergsträsser: Das ist richtig. Laras Eltern haben rückblickend gesagt, dass das ein komisches Gefühl war, zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit mit dem Begriff «palliativ» konfrontiert zu werden und verstehen zu müssen, was das für ihr Kind und für sie als Familie bedeutet. Aber auch, dass sie diese Kontinuität als so positiv erlebt haben. Es war immer die gleiche Person da, die immer wieder den Faden aufgenommen hat. Die einfach mal eine Stunde Zeit hatte, um zuzuhören, oder die ihnen geraten hat, noch einmal zusammen in ein verlängertes Wochenende zu fahren.
Wie ist das für Sie, wenn Sie Eltern sagen, dass es nun keine Hoffnung mehr auf Heilung gebe, sondern es darum gehe, die letzten Wochen, Monate so schön wie möglich zu gestalten?
Eva Bergsträsser: Ich finde das nicht nur schwierig. Es kommt immer darauf an, welche Einstellung man zum Leben hat. Jedes Leben hat einen Anfang und ein Ende. Es gibt auch Kinderleben, die früher aufhören, als sie aufhören sollen. Und das kann genauso einen Sinn machen, wie das Lebensende eines alten Menschen. Diese Kinder hinterlassen wichtige Spuren auf dieser Erde. Wenn man es so sieht, dass das Leben an sich zählt – unabhängig davon, wie lang es ist –, dann kann man vielleicht auch eher darauf setzen, in dieses Leben noch so viel Leben zu füllen wie möglich – statt es um jeden Preis verlängern zu wollen.
Wie reagieren Eltern darauf?
Eva Bergsträsser: Sehr unterschiedlich. Für manche Eltern ist es ein No-Go, dass man so etwas ausspricht. Ich würde dieses Thema auch nie beim ersten Kennenlernen ansprechen. Aber je mehr ich die Familie kennenlerne, desto eher weiss ich, wie ich dieses Tabuthema ansprechen kann, und umso mehr mache ich das auch. Ich weiche diesem Thema nicht aus.
Eva Cignacco: Eltern wollen eine ehrliche, authentische Kommunikation. Im Rahmen unserer Studie berichtete eine Mutter von einem Gespräch mit einer Ärztin, die eine Stunde um den heissen Brei herumgeredet hatte. Sie war drauf und dran zu sagen: «Jetzt sprichs doch aus: Mein Kind wird sterben.» Ärzte, die eine gute Palliativ-Ausbildung haben, können ein solches Gespräch hingegen in einen guten Kontext setzen, einen Kontext, der es Eltern erlaubt, einem solchen Gespräch zu folgen.
Was heisst das?
Eva Cignacco: Man nimmt sich Zeit, schaut nicht auf die Uhr, geht mit den Eltern in einen separaten Raum und erklärt ihnen, was alles gemacht wurde, um dem Kind zu helfen, wie das Kind reagiert hat und warum man denkt, dass beispielsweise ein Therapieabbruch der richtige Weg ist. Man bespricht mit den Eltern die Geschichte, die man bis dahin zusammen geteilt hat, und schaut, wie es weitergeht.
Wir können ganz viel dafür tun, dass das Kind nicht leiden muss.
Eva Bergsträsser
Eva Bergsträsser: In diesem Gespräch darf nicht nur thematisiert werden, was alles nicht mehr getan werden kann, sondern was jetzt zu tun ist: «Wir können ganz viel dafür tun, damit das Kind nicht leiden muss, dass es würdig sterben kann, dass Sie sich verabschieden können.»
Wenn ein Kind in der Familie, im Freundeskreis, der Nachbarschaft stirbt, brauchen die Eltern viel Verständnis und Unterstützung, sagen Eva Bergsträsser und Eva Cignacco. So können Sie laut den Expertinnen helfen:
- Ein unheilbares Kind nach Hause nehmen, verlangt von den Eltern unglaublich viel Engagement. Förderlich wäre ein grosses Netzwerk an Freunden, die sie im Alltag unterstützen: einkaufen, kochen, die Wäsche waschen, die Geschwister zum Spielen einladen, damit die Eltern Zeit haben, mit dem kranken Kind zusammen zu sein und es zu pflegen.
- Haben Sie Mut für diesen Kontakt. Das Schlimmste für die Familien ist, ausgesondert zu werden. Einfach fragen: Wie ist es, kann ich was tun?
- Und erwarten Sie keinen Dank. Ihre Dankbarkeit können Eltern in dieser Situation häufig nicht äussern.
- Trauer braucht Zeit – länger als ein Jahr. Würdigen Sie das.
- Ein No-Go sind Sätze wie diese: «Ihr seid doch noch jung – ihr könnt noch viele andere Kinder bekommen.» Dieses Kind wird durch kein anderes ersetzt. Oder: «Das kann ich mir vorstellen.» Solch existenzielle Krisen kann man sich nicht vorstellen. Schweigen Sie lieber oder sagen Sie: «Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, magst du mir erzählen, wie es für dich ist?»
Das Schlimmste, was einem als Mutter oder Vater passieren kann, ist der Tod des eigenen Kindes.
Eva Bergsträsser: Sie haben natürlich recht. Aber es ist ein langer Prozess, während dessen sich die Eltern mit diesem Gedanken vertraut machen. Manche Kinder sind vier, fünf, ja sieben Jahre in einer palliativen Situation.
Wie lange betreuen Sie diese Familien nach dem Tod?
Eva Bergsträsser: Das ist unterschiedlich. Bei manchen bricht der Kontakt schnell ab, andere rufe ich noch Jahre später an.
Eltern tun sich schwerer mit der Diagnose als die Kinder.
Eva Bergsträsser
Frau Bergsträsser, Sie haben einmal gesagt, dass die Eltern sich schwerer mit der Diagnose tun als die Kinder.
Eva Bergsträsser: Kinder machen sich schnell etwas zu eigen. Ich habe einmal ein zweijähriges Mädchen mit einem bösartigen Tumor im Oberschenkelknochen betreut. Das Bein musste amputiert werden. Natürlich war das damals für die heute junge Frau ein grosser Einschnitt. Aber sie hat es so früh erlebt, dass sie heute damit ganz gut durchs Leben kommt.
Für die Eltern war es anders?
Eva Bergsträsser: Für die Eltern war es schrecklich. Jede Mutter, jeder Vater würde wahrscheinlich sagen: Lieber gebe ich mein Bein her als das meines Kindes. Letztendlich möchte ich aber sagen, dass eine Palliative Betreuung auch etwas sehr Lebensbejahendes haben kann. Kinder haben die Fähigkeit, noch am letzten Tag ihres Lebens am See zu stehen, ein Steinchen ins Wasser zu werfen und sich darüber zu freuen.
Alle Fälle – ausser der der kleinen Lara und zwei weiteren Patientenbeispielen – stammen aus der im Interview erwähnten Studie.