Plötzlich war Papi nicht mehr krank, sondern tot
Sechs Jahre nach der Krebsdiagnose stirbt Ingo Conradin, er hinterlässt seine Frau und zwei Kinder. «Reden hat uns geholfen, mit der Trauer umzugehen», sagt Claudia Conradin. «Und weinen.»
Es war ein Satz, der die Welt von Claudia Conradin und ihrem Mann Ingo aus den Angeln hob: «Da ist etwas in Ihrem Kopf, das da nicht hingehört», sagte die Ärztin. Das war Ende Oktober 2004. Doch Claudia Conradin kann sich an diesen Tag erinnern, als wäre es gestern gewesen. Der gemeinsame Sohn Endrik war gerade fünf Monate alt und die bis dahin grösste Sorge des Paares war der für junge Eltern typische Schlafentzug gewesen.
Nun gaben die Mediziner Ingo noch zwei Monate, in seinem Gehirn hatte sich ein bösartiger Hirntumor von der Grösse einer Mandarine ausgebreitet. Claudia Conradin und ihr Mann kämpften – mit Erfolg. Nur noch stecknadelgross war der Tumor, als gut zwei Jahre später Töchterchen Kyra auf die Welt kam. Die Conradins führten ein ganz normales Familienleben mit zwei kleinen Kindern – bis die Krankheit sechs Jahre nach der ersten Diagnose zurückkehrte. Diesmal siegte der Krebs, Ingo starb im November 2011.
Papi hat gerne Quatsch gemacht, es war immer lustig mit ihm.
Kyra
«Das hier», sagt Endrik, der heute vierzehn Jahre alt ist, und wiegt ein Taschenmesser in der Hand, «hat mir mein Papi geschenkt.» Kurz vor seinem Tod wollte Ingo, dass sein Sohn das Messer bekommt, mit dem er ihm so viele Stecken geschnitzt hatte und das auf Reisen immer dabei war.
Sie waren viel gemeinsam unterwegs. Kyra, heute elf Jahre alt, zeigt ein Fotoalbum. Im Kanu, auf dem Berg, drei lachende Gesichter auf dem Campingplatz: Ingo mit seinen Kindern.
«Der Papi hat gerne Quatsch gemacht, es war lustig mit ihm», erzählt Kyra. Sie war knapp fünf Jahre alt, als ihr Vater starb, zum Abschied legte sie ihm Rosen und ein paar selbst gemalte Bilder auf den Bauch. Lange hatte sie ein gerahmtes Bild von Ingo in ihrem Zimmer stehen.
Als vor drei Jahren der Nachbar die Strasse hinunterging, eine Tochter links, eine Tochter rechts an der Hand, ist Kyra richtig wütend geworden. Wie konnte es sein, dass diese Mädchen noch einen Papi hatten, ihrer aber weg war? Bei jedem Schulfest, beim Toben im Garten, abends beim Einschlafen – der Papi fehlt. Was hilft?
«Drüber reden, am besten mit guten Freunden», empfiehlt Kyra. Sie hat das von Anfang an gemacht. Gleich nach dem Tod hat sie allen Erwachsenen berichtet, dass der Leichnam ihres Vaters verbrannt werde. Im Kindergarten haben die Erzieherinnen extra für sie einen kleinen Altar mit einem Foto ihres Vaters und einer Kerze aufgebaut. Wann immer sie traurig war, konnte sie dort hingehen. «Man sollte alle Fragen, die man hat, den Grossen stellen», sagt Kyra, «dann weiss man mehr und hat weniger Angst.»
«Ich will einfach normal behandelt werden»
Das, was Kyra hilft, der Austausch mit Freunden, ist etwas, das Endrik nicht so mag. Als er an seine neue Schule kam, hat er niemandem erzählt, dass sein Vater gestorben ist. «Ich will einfach normal behandelt werden», begründet er diese Entscheidung.
Natürlich hat sich Claudia Conradin Sorgen gemacht. Verdrängte er den Tod? Endrik schüttelt energisch den Kopf. «Nein, ich will einfach nicht mit jedem drüber reden.» Zu Hause erzählt er durchaus von den Erinnerungen an seinen Vater.
Wenn man traurig ist, sollte man traurig sein dürfen.
Endrik
Die beiden haben viel unternommen, waren oft mit dem Rad unterwegs und sind gemeinsam den Grand Prix von Bern gelaufen. Endrik hat seinem Opa damals die Tür aufgemacht, als dieser im November 2011 morgens von der Palliativstation kam: «Opa hat so geguckt, da habe ich gleich gewusst: Papi ist gestorben.»
Es war für alle selbstverständlich, dass die Kinder sich verabschieden konnten. Berührungsängste, erzählt Claudia Conradin, habe es überhaupt keine gegeben. Endrik und Kyra haben ihren toten Vater gestreichelt, ihm einen Abschiedskuss gegeben und einen grossen Plüschigel in den Arm gelegt, der ihnen so gefallen hat.
Plötzlich war Papi nicht mehr krank, sondern tot. Einfach weg. Und er würde nie mehr wiederkommen. Das Unbegreifbare zu begreifen war eine Herausforderung, die die drei übrigen Familienmitglieder ganz unterschiedlich bewältigten. Kyra durchlebte alle Gefühle, war phasenweise sauer auf die ganze Welt und haderte mit ihrem Schicksal. Endrik fand Hilfe bei einer Trauerbegleiterin, die auch mal einfach mit ihm in den Wald ging und viel zuhörte.
Claudia Conradin hat ihre Erfahrungen mit der Krankheit ihres Mannes in sehr anrührenden Zeilen als Buch niedergeschrieben. Mit ihrer Firma «Reality Riders» begleitet sie heute Menschen in vergleichbaren Krisensituationen. Was damals allen geholfen hat: weinen. «Wenn man traurig ist, sollte man traurig sein dürfen», sagt Endrik.
Auch sieben Jahre nach dem Tod des Vaters ist dieser in der Familie präsent. Sie erzählen sich Geschichten von ihm, fragen sich, wie er wohl dieses oder jenes fände. «Man muss sich aber auch auf die schönen Dinge im Leben konzentrieren», sagt Kyra, «und auch wenn es manchmal wehtut: einfach weiterleben.»