In Erinnerung an Jesper Juul: Das grosse Interview (Teil 1)
Jesper Juul war einer der bedeutendsten Familientherapeuten Europas. Nur wenige wussten von seiner schweren Krankheit. Heute ist er im Alter 71 Jahren gestorben. Mit uns sprach er im Dezember 2017 über seine Kindheit, seine Arbeit nach dem Schicksalsschlag. Es war eines seiner letzten Interviews. Dieses möchten wir heute ihm zu Ehren noch einmal publizieren.
Odder südlich von Aarhus im Osten Dänemarks. Eine Kleinstadt mit knapp 12’000 Einwohnern. Einzige Sehenswürdigkeit: die Odder-Kirche von 1150 n. Chr., die älteste Gemeindekirche des Landes. Jesper Juul wohnt in einem Backsteinhaus im dritten Stock. Die Besucher gelangen über eine Aussentreppe nach oben. Auf der Dachterrasse stehen Kräuterbeete. An der grauen Wohnungstür ist ein Schild angebracht: Jesper Juul.
Die Tür öffnet sich automatisch. Jesper Juul rollt in seinem elektrischen Rollstuhl heran. Der Familientherapeut lebt allein. Die Wohnung ist rollstuhlgängig, hell, aufgeräumt, modern. Parkett, kaum Möbel, viele Dachschrägen. Auf dem Esstisch liegen Medikamente, an einer Wand hängen Bilder von seinen Enkelkindern. Jesper Juul kann nicht am Tisch arbeiten. Er hat sich ein Tablett auf den Schoss gelegt. Darauf ist sein Notebook. So schreibt er seine Bücher und Kolumnen.
Es ist kurz nach 18 Uhr. Die Medikamente wirken und machen Jesper Juul müde. Er hat Mühe, sich zu konzentrieren. Trotzdem hört er aufmerksam zu, beantwortet geduldig unsere Fragen. Erzählt von seiner Hoffnung auf weniger Schmerzen. Und seiner Idee, seinen 70. Geburtstag im nächsten Frühjahr mit vielen Freunden zu feiern.
Herr Juul, für viele Eltern sind Sie Europas bedeutendster Pädagoge, eine Art Übervater der Erziehung. Wie fühlt sich das an?
Es ist nichts, was ich anstrebe. Als ich 1975 mit Familien zu arbeiten begann, hat niemand über Erziehungsmethoden gesprochen. Deshalb unterscheidet sich mein Ansatz auch von jenen der anderen Experten. Meine Gedanken entspringen der Ansicht, dass nicht ich, sondern die Millionen Mütter und Väter auf der Welt die besten Experten für ihre Kinder sind. Sie verdienen diesen Titel mehr als ich.
Also all jene, die Ihren Rat suchen und Ihre Bücher kaufen.
Sie sind es, die täglich ihr Bestes geben. Genau deshalb interessieren mich die rein intellektuellen Debatten über Erziehung nicht. Wir sind alle grundverschieden. Wir sind von unserer eigenen Geschichte, von unserer Herkunftsfamilie, von Konventionen, Kultur und Gesellschaft beeinflusst. Stellen Sie in einer Familie eine Kamera auf und beobachten Sie die Eltern, wenn sie jeweils allein mit ihren Kindern sind. Sie werden staunen! Nicht einmal innerhalb der Familie ist man sich über Erziehung einig, selbst wenn man dieselben Wertvorstellungen hat und sich auf der gleichen intellektuellen Ebene befindet. Wie soll man da allgemeingültige Ratschläge geben?
Man bezeichnet Sie auch als Familienflüsterer.
Diese Bezeichnung mag ich. Ich verstehe sie als ein Kompliment.
Für einige klingt sie provokativ.
Mein Ding ist die Provokation. Darin, glaube ich, bin ich erfolgreich. Ich provoziere, weil ich mir erhoffe, dass Erzieher und Eltern so über den eigenen Tellerrand blicken und eine andere Perspektive einnehmen können. Im Englischen nennt man dies «out of the box»-Denken.
Ich provoziere, weil ich mir erhoffe, dass Erzieher und Eltern so über ihren Tellerrand blicken.
Sie bedauerten Kinder, die von ihren Eltern nach dem juulschen Gedankengut erzogen würden, sagten Sie in einem Interview. Warum?
Weil ich stark der Meinung bin, dass zwischen zwei Menschen, die sich in einer liebesbasierten Beziehung zueinander befinden, keine intellektuelle Methode stehen soll. Auch keine Juul-Methode. Ich möchte gar keine Methode. Ich glaube vielmehr, dass wir spontan im Hier und Jetzt agieren und aus unseren ureigenen Erfahrungen lernen sollten. Wollen wir uns verändern und etwas lernen, müssen wir unser Tun reflektieren und in einen Dialog treten mit den Personen, die wir lieben.
Sie sagten einmal, es sei furchtbar gewesen, Kind zu sein. Was war an Ihrer Kindheit furchtbar?
Furchtbar war, dass weder meine Eltern noch meine Lehrpersonen sich für mich interessierten; dafür, wer ich war und wie ich mich fühlte, was ich dachte und welche Ideen ich hatte. Sie interessierten sich einzig für mein Verhalten – wie ich mit der Aussenwelt agierte und kooperierte.
Über Ihre Mutter äusserten Sie sich so: «Sie war wie viele Mütter, sie dachte nur an sich und nie daran, was für diesen Jungen gut wäre.» Das klingt sehr hart.
Meine Mutter gehörte zu einer Generation, in der Mütter zu ihren Kindern eine viel engere Bindung hatten als zu ihren Männern. Diese Frauen kamen emotional zu kurz, waren ausgehungert nach Zuneigung und Liebe. Unter anderem deshalb wurden ihre Kinder zu ihren engsten Verbündeten. Diese Beziehungen zwischen Müttern und Kindern waren aber oft auch befrachtet mit Erlebnissen und Emotionen, die in die Erwachsenenwelt gehörten und nicht in die Kinderwelt.
Sie haben einen erwachsenen Sohn, Nicolai. Was haben sie ihm mitgegeben?
Ich habe gerade kürzlich mit ihm darüber geredet. Er sagt, das Wichtigste sei für ihn gewesen, dass seine persönliche Integrität immer unangetastet geblieben sei und er seine Persönlichkeit habe frei entfalten können. Da bin ich mit ihm gleicher Meinung. Ich habe nicht versucht, ihn nach meinen Vorstellungen zu erziehen.
Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn?
Wir haben eine enge, aber entspannte Beziehung. Wir sind beide eher introvertierte Menschen. Wir lieben es zusammenzusitzen, zu kochen und zu schweigen. Wir können stundenlang zusammen sein und keiner sagt ein Wort.
Welchen Erziehungsstil haben Sie vertreten, eher partnerschaftlich oder antiautoritär?
Als wir eine Familie gründeten, waren meine Frau und ich uns einig, dass wir das patriarchale Familienkonzept für uns nicht wollen. Ich war vielleicht der Erste oder mindestens einer der wenigen Väter, der die Geburt des eigenen Kindes im Gebärsaal miterlebte. Das war eine sehr lehrreiche und prägende Erfahrung für mich! Sicher hatte meine Entscheidung, als Vater zu Hause zu bleiben, damit zu tun.
Sie sind zu Hause geblieben?
Als mein Sohn zehn Monate alt wurde, blieb ich tagsüber zu Hause bei ihm. Zwei Jahre lang. Meine Frau studierte damals noch und ging zur Universität. Sie kam gegen 15 Uhr nach Hause. Meine Arbeit in einem Kinderheim begann um 16 Uhr und dauerte bis 23 Uhr.
Was war das für ein Kinderheim?
Dort wurden Kinder platziert – von der Gemeinde oder vom Staat –, die nicht mehr zu Hause bei den Eltern bleiben und auch keine Regelschule besuchen konnten. Sie waren zwischen 9 und 15 Jahre alt und blieben 8 bis 24 Monate.
Sie und Ihre damalige Frau haben Ihren Sohn gemeinsam erzogen. War das für Sie stimmig?
Zum damaligen Zeitpunkt war es stimmig. Aber ich war nie zufrieden mit meiner Vaterrolle.
Ich war als Vater zornig und laut. Diese Jahre waren für mich sehr lehrreich – für meinen Sohn eher weniger, fürchte ich.
Warum?
Ich war ein weicher, vielleicht sogar fauler Vater – in dem Sinne, dass ich viel weniger eingriff, als man das von Vätern erwartet hätte. Ich erkannte, dass Nicolai Dinge für sich selbst herausfand, wenn ich ein paar Minuten wartete. Oder ein paar Stunden. Oder Tage. Ohne meine Besserwisserei entstanden Konflikte gar nicht erst. Ich hatte allerdings auch Angst, dass ich Nicolai schaden könnte. Deshalb war ich sicher manchmal passiver, als ich es hätte sein sollen.
Inwiefern?
Mein Sohn war ein talentierter Badmintonspieler. Er trat auch bei Turnieren an. Doch plötzlich wollte er nicht mehr spielen, weil sein Trainer ihn zu sehr unter Druck setzte. Damals verstand ich seine Gründe. Heute glaube ich, ich hätte ihn stärker überzeugen sollen, weiterzumachen. Aber ich hatte eben Angst, den Druck, den er ohnehin schon gespürt hatte, noch zu verstärken.
Wie haben Sie Ihren ganz persönlichen «Erziehungsstil» gefunden?
Wie alle Eltern: nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Also die Methode, bei der so lange zulässige Lösungsmöglichkeiten ausprobiert werden, bis die gewünschte Lösung gefunden wird. Oder sich die eigene Sicht auf das Ganze verändert hat. Fehlschläge gehören dazu. Was bei uns noch hinzukam, war der Wunsch, es besser zu machen als die Generation vor uns.
Gibt es etwas, das Sie heute als Vater anders machen würden?
Ich würde in den ersten Jahren weniger tyrannisch sein.
Wie meinen Sie das?
Wenn wir in den ersten drei bis vier Jahren mit unseren Dickköpfen aneinandergeraten sind, habe ich meinen Sohn hart am Arm gepackt. Ich war auch zornig und laut. Diese Jahre waren für mich sehr lehrreich – für Nicolai eher weniger, fürchte ich.
Lesen Sie auch Teil 2 des grossen Interviews. Darin verrät Jesper Juul, warum Erziehung seiner Meinung nach nicht funktioniert und was sein grösster Wunsch ist.