«Der Strafvollzug beachtet die Bedürfnisse der Kinder noch viel zu wenig»
Kinder haben Rechte. Diese gelten, auch wenn ein Elternteil eine Freiheitsstrafe verbüsst . Eine neue Studie zeigt, dass die Schweiz da noch vieles verbessern könnte. Studienleiter Patrik Manzoni spricht über die aktuelle Situation betroffener Kinder und wo es am meisten hapert.
Herr Manzoni, Sie haben herausgefunden, dass es in der Schweiz nicht einmal eine Statistik zur Anzahl Kinder mit inhaftiertem Elternteil gibt. Woher kommt dieses Desinteresse am Kindswohl?
Eine gute Frage. Man hatte die Rechte der Kinder bis vor wenigen Jahren offenbar schlicht nicht auf dem Radar. Was sich sagen lässt: In der Schweiz ist der Strafvollzug kantonal geregelt. Einen nationalen Konsens gibt es nicht. Das mag eine Erklärung dafür sein. Wie wir in unserer Studie aufzeigen konnten, existieren schweizweit gravierende Unterschiede.
Was hat Sie am meisten überrascht?
In den letzten zehn Jahren hat sich zwar einiges getan, doch die Heterogenität allein im Strafvollzug, das heisst unter den rund hundert Anstalten in der Schweiz, ist weiterhin frappant. Sie reicht von engagierten Anstalten wie dem bernischen Frauengefängnis Hindelbank bis hin zur Mehrheit der Anstalten mit wenig bis keinerlei Sensorium für das Kindswohl. Es gibt weder einheitliche Regelungen noch Minimalstandards. Kurz: Der Strafvollzug beachtet die Bedürfnisse der Kinder noch viel zu wenig.
Das Thema ist komplex. Schauen wir uns die Lücken der einzelnen Stationen mit Blick auf das Kindswohl kurz an. Also Verhaftung, Strafprozess, Strafvollzug. Wo hapert es da jeweils?
Verhaftungen finden in der Regel am Morgen in aller Früh statt. Also wenn die Leute meist noch schlafen. Nun stellen Sie sich Polizisten vor, die den Vater oder die Mutter im Pijama aus dem Schlaf reissen und abführen. Das kann für Kinder traumatisierend sein.
In gewissen Gefängnissen sind Telefonanrufe unbeschränkt möglich, in anderen nur je zehn Minuten an drei Tagen die Woche.
Bei der Verhaftung sollte daher unbedingt im Vorfeld abgeklärt werden, ob Kinder involviert sind und wenn ja, sollten entsprechend geschulte Personen, wie etwa Sozialarbeitende, zur Betreuung der Kinder vor Ort miteinbezogen werden.
Wie sieht es beim Strafprozess aus?
In der Untersuchungs-Haft sind die Kontaktmöglichkeiten am geringsten und wenn, dann aus juristischen Gründen etwa wegen der Verdunkelungsgefahr nur hinter Scheiben. Angehörige wissen oft gar nicht, wo der verhaftete Elternteil überhaupt untergebracht ist oder dass sie einen Antrag auf Besuch stellen könnten. Der verhaftete Elternteil wird in der Regel nicht proaktiv danach gefragt, ob er Kinder hat und Kontakt zu ihnen wünscht.
Der Elternteil, statistisch gesehen zu 90 Prozent der Vater, verbringt seine Haftstrafe nun im Gefängnis. Wie steht es um die Kontaktmöglichkeiten?
Auch hier sind die Unterschiede gross. Von wöchentlich bis zwei Mal pro Monat, insgesamt zwischen vier und acht Stunden pro Monat. An gewissen Orten sind Telefonanrufe unbeschränkt möglich, an anderen nur je zehn Minuten an drei Tagen die Woche. Auch Videocalls sind in manchen Anstalten möglich, in anderen gar nicht. Ebenso können Besuchszeiten flexibel sein oder statisch.
Was beschäftigt Kinder beim Strafvollzug am meisten?
Viele betroffene Kinder sorgen sich um das Wohl ihres Elternteils. Für kleinere ist es schwierig, sich ein Bild vom Gefängnis zu machen. Wie sieht es dort aus? Hat der Vater ein Bett und genug zu essen oder liegt er – wie es in Filmen oft gezeigt wird – bei Wasser und Brot in einem Kerker auf nacktem Steinboden?
In der Westschweiz und im Tessin gibt es Unterstützungsangebote für Kinder. In der Deutschschweiz praktisch keine.
Im Kopf eines Kindes können Schreckensszenarien entstehen, die es zusätzlich ängstigen. Da wäre es hilfreich, wenn der Vater ein Bild oder ein kurzes Video schicken könnte und zeigen: «Hier schlafe ich, hier arbeite ich. Es geht mir gut.» Das könnte helfen, den ohnehin grossen Stress zu reduzieren.
Und was passiert, wenn das Kind gar keinen Kontakt zum inhaftierten Elternteil wünscht?
Das wird selbstverständlich respektiert. In einigen Fällen haben die Eltern – ob noch zusammen oder getrennt – keine gute Beziehung mehr zueinander. Eine Anlaufstelle könnte die Ängste und Sorgen der Kinder auf neutralem Boden abholen, ohne den Einfluss des jeweiligen Elternteils. Im Fokus steht wie gesagt das Kindswohl.
Die 54 Artikel der UNO-Kinderrechtskonvention beruhen auf vier Grundprinzipien. Diese sind in den folgenden Artikeln verankert:
Das Recht auf Gleichbehandlung.
Kein Kind darf aufgrund seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Sprache, seiner Religion oder seiner Hautfarbe benachteiligt werden. (Art. 2 UNO-KRK)
Das Recht auf Wahrung des Kindeswohls.
Werden Entscheidungen getroffen, die sich auf das Kind auswirken, hat das Wohl des Kindes Vorrang. Dies sowohl in der Familie als auch beim staatlichen Handeln. (Art. 3 UNO-KRK)
Das Recht auf Leben und Entwicklung.
Das Kind soll in seiner Entwicklung gefördert werden und Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben. Es muss vor Missbrauch und Ausbeutung geschützt werden. (Art. 6 UNO-KRK)
Das Recht auf Anhörung und Partizipation.
Das Kind soll seine Meinung zu allen seine Person betreffenden Fragen oder Verfahren äussern können. Seine Meinung soll bei Entscheidungen mitberücksichtigt werden. Dazu gehört auch, dass es altersgerecht informiert wird. (Art. 12 UNO-KRK)
Quelle: https://www.kinderschutz.ch/kinderrechte/uno-kinderrechtskonvention
Zwischen der Deutschschweiz und der Romandie mit dem Tessin bildet sich eine Art Röstigraben. Können Sie das näher ausführen?
In der Westschweiz bietet die Stiftung «Relais Enfants Parents Romands» (REPR) ein fast flächendeckendes Unterstützungsangebot für Betroffene. Im Tessin ermöglicht dies die Anlaufstelle «Pollicino». Beide Organisationen sind auch innerhalb der Strafvollzugsanstalten tätig und organisieren Nachmittage, an denen die Kinder mit ihren inhaftierten Eltern zum Beispiel etwas basteln. In der Deutschschweiz fehlen vergleichbare Angebote praktisch ganz.
Wie nehmen Kinder diese Angebote wahr?
Sie werden sehr geschätzt. Die Kinder können sich beispielsweise mit anderen Kindern austauschen. Daneben gibt es auch Programme, welche die Beziehung zum inhaftierten Elternteil gezielt unterstützen und fördern.
In der Studie werden zehn Verbesserungsvorschläge aufgeführt. Darunter kinderfreundlichere Besuchszimmer. Was heisst das konkret?
Standard in den meisten Gefängnissen ist bis jetzt ein Raum mit mehreren Tischen, an denen sich Inhaftierte mit ihren Angehörigen austauschen können. Es geht manchmal sehr laut zu und her und bietet nur wenig Privatsphäre. Für Kinder hat es ein paar rudimentäre Spielsachen, meist ein paar alte Stofftiere, unvollständige Puzzles oder Farbstifte, die nicht gespitzt sind. Da gäbe es viel Luft nach oben. Zudem sollten auch mehr Familienzimmer geschaffen werden, in denen einzelne Familien für ein paar Stunden ungestört sind. Solche gibt es erst in ein paar wenigen Anstalten.
- Umfassende Sensibilisierung
- Schaffung und Förderung von Kontaktmöglichkeiten
- Kindgerechte Ausgestaltung der Kontaktmöglichkeiten
- Familiensituation und Kinderperspektive berücksichtigen, Kinderinteressen vertreten
- Regelungen, Vereinheitlichung
- Ressourcen, Weiterbildung
- Vernetzung, Austausch, Zusammenarbeit der Akteure
- Anlaufstelle für Angehörige in der Deutschschweiz, nationale Omubdsstelle
- Empfehlungen bezüglich einer schweizweiten Statistik
- Weiterer Forschungsbedarf
Hier gelangen Sie direkt zum Bericht über die Situation von Kindern mit inhaftiertem Elternteil.
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Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?
Es braucht flächendeckende Anlaufstellen für Angehörige in der Deutschsschweiz. Viele sind mit der Situation überfordert. Wie erkläre ich dem Kind das Ganze? Was tue ich, wenn es deswegen in der Schule gemobbt wird? Wie bezahle ich die Miete, wenn der Haupternährer wegfällt? Wie organisiere und finanziere ich den Besuch, wenn der Hin- und Rückweg je zwei Stunden benötigt und die Besuchszeit zwei Stunden beträgt, dafür also ein ganzer Arbeitstag bzw. freier Schultag einberechnet werden müsste?
In Kopenhagen gibt es die Möglichkeit, dass im offenen Vollzug die Familie gemeinsam die Haft vollziehen kann.
Was tue ich, wenn das Kind sich nach dem inhaftierten Elternteil sehnt und der nächste Besuchstag erst in einem Monat stattfinden kann? Wie gehe ich mit Gefühlen wie Wut, Trauer, Angst, Ohnmacht, Scham, Hilflosigkeit um? Darüber hinaus braucht es aber auch eine Sensibilisierung für die Problematik bei allen Fachpersonen und der ganzen Gesellschaft.
Gibt es Länder, von denen die Schweiz in dieser Hinsicht lernen könnte?
Ja, die gibt es. Dänemark ist voraus und hat in den Anstalten Kinderbeauftragte. Im Familienhaus Engelsborg in Kopenhagen gibt es sogar die Möglichkeit, dass im offenen Vollzug die Familie gemeinsam die Haft vollziehen kann.
Das ist eindrücklich.
Aus Schweizer Sicht hört es sich geradezu utopisch an. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich in den nächsten Jahren vieles ändern und zum Wohl der Kinder verbessern wird. Das Bewusstsein dafür wächst mehr und mehr.