Medikamente gegen Stress: Wann kann ein Kind selbst entscheiden? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Medikamente gegen Stress: Wann kann ein Kind selbst entscheiden?

Lesedauer: 6 Minuten

Ist ein Kind noch nicht fähig, ein eigenes Urteil zu fällen müssen Erwachsene über medizinische Behandlungen entscheiden. Doch wann ist ein Kind urteilsfähig? Ein Wegweiser durch den juristischen Dschungel. 

Tim ist begeistert. End­lich ist er Sekschüler! Bald weicht die Freude der Ernüchterung: Die neue Lehrerin ist min­destens so streng wie sein Fussball­trainer. Zuspätkommen wird mit Putzdienst im Schulhaus bestraft.

Laszlo geht neu ans Gymi und hat am zweiten Schultag seinen Zeitplan mit 14 Prüfungen bis zur Notenab­gabe erhalten. Er schluckt zweimal leer: «Da muss ich wohl durch, die Matur gibts nicht gratis.»

Lirida schläft abends schlecht ein, kommt am Morgen nicht aus dem Bett, klagt über Kopfweh und muss jeden Tag vom Vater in die Schule begleitet werden, damit sie es über­haupt dorthin schafft.

Drei Beispiele von Jugendlichen, die zeigen: Jeder geht anders mit Belastungen, Erwartungsdruck und Stress um.

Wann sind Kinder überfordert?

Schlaflosigkeit wie im Fall von Lirida kann ein Zeichen für Über­forderung sein. Wie in Teil 1 unserer Serie beschrieben, wirkt sich Stress negativ auf unsere Gesundheit aus. Jüngere Studien zeigen, dass Jugend­liche dazu tendieren, Signale des Körpers wie Kopfweh, Gewichtsveränderungen, Hautausschläge und Haarausfall zu verharmlosen: «Ach, das ist nur eine strenge Phase, eine Prüfungsphase halt, dafür gönne ich mir jetzt mal ein Cupcake.» Oder: «Ich bin eben einfach ein Adrenalin­junkie.» Mit anderen Worten: Es gibt eine Tendenz, aus andauernder Überforderung und Überlastung eine neue Normalität zu konstruie­ren.

Wer ist Schuld am ständigen Druck?

Schauen wir uns zur Beant­wortung dieser Frage erst einmal die Gesetzeslage an. Nach Art. 24 und Art. 27 der UN-Kinderrechtskonvention KRK, die in der Schweiz 1997 in Kraft getreten ist, tragen Eltern oder andere Erziehungsberechtigte, Lehrpersonen und medizinische Fachpersonen die Verantwortung für das Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes. Dazu zählen neben der Gesundheitsversorgung auch Ernährung, Bekleidung, Körperpflege, Beherbergung sowie angemessene Freizeit und Erholung.
Im Einklang damit stehen das Erziehungsrecht des Kindes und die Erziehungspflicht der Eltern nach Art. 302 Zivilgesetzbuch (ZGB): Das Kind hat einen Anspruch darauf, erzogen zu werden, damit es sich körperlich und geistig entfalten kann. Es soll gesund leben können, es soll sich wohlfühlen und es soll eine allgemeine und berufliche Ausbildung erhalten.

Die Erziehungspflicht der Eltern geht über den Zugang zur Vermittlung von Schulwissen hinaus.

Es soll ihm aber auch Zugang zu Literatur, Kunst und Medien verschafft werden, und es soll selbstverantwortlich und kompetent in der eigenen Lebensgestaltung werden können. Die Erziehungspflicht der Eltern geht also über den Zugang zur Vermittlung von Schulwissen hinaus und betrifft die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.

Leistungsoptimierung gehört nicht zu den Erziehungspflichten, aber …

Nichts anderes besagt auch das Schulrecht: Nach dem Zürcher Volksschulgesetz (§1 Abs. 3) etwa «strebt [die Schule] die ganzheitliche Entwicklung der Kinder zu selbständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen an. Die Schule ist bestrebt, die Freude am Lernen und an der Leistung zu wecken und zu erhalten. Sie fördert insbesondere Verantwortungswillen, Leistungsbereitschaft, Urteils- und Kritikvermögen sowie Dialogfähigkeit. Der Unterricht berücksichtigt die individuellen Begabungen und Neigungen der Kinder und schafft die Grundlage zu lebenslangem Lernen.»

Fazit: Von Leistungsoptimierung steht nichts in den gesetzlich festgeschriebenen Erziehungspflichten nach ZGB, Volksschulgesetz oder Kinderrechtskonvention. So einfach ist es jedoch nicht, denn die Eltern, die Lehrpersonen und das Kind sind Teile unserer Gesellschaft, die Leistungsoptimierung fordert.
Die Eltern und die Lehrpersonen wollen in der Regel das Beste für das Kind, und unter Umständen möchte auch das Kind von sich aus zu den Besten gehören.

Wann liegt eine Kindeswohlgefährdung vor?

Ist also die Gesellschaft Schuld daran, wenn Kinder so viel Stress ausgesetzt sind, dass sie krank werden? Die Gesellschaft besteht bekanntlich aus einer Vielzahl von Individuen – Bürgerinnen und Bürger, Eltern, Lehrpersonen, medizinische Fachpersonen, Trägerinnen und Träger der Bildungs- und Gesundheitspolitik. Sie alle sind den übergeordneten Kindesinteressen verpflichtet, sie alle stehen im Schnittpunkt von Gesundheit, Schule und Familie in der Verantwortung, für den Schutz und das Wohlbefinden der Kinder zu sorgen.

Darüber hinaus ist auch der Staat aufgrund der Verfassung und der Kinderrechtskonvention verpflichtet, Massnahmen zum besonderen Schutz von Kindern zu ergreifen. Ein staatliches Kindesschutzverfahren kommt zum Zuge, wenn Eltern oder andere Erziehungsberechtigte ihren Erziehungspflichten nicht nachkommen können und die Gesundheit des Kindes beeinträchtigt wird.

Das Kindeswohl umfasst gesundheitliche, familiäre Aspekte

Im Falle einer Kindeswohlgefährdung entscheidet die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) anstelle der Eltern. Damit rechtlich von einer Kindeswohlgefährdung gesprochen werden kann, braucht es mehr als Kopfweh – obwohl dies ein erster Hinweis darauf sein könnte, dass etwas nicht stimmt. Eine Kindeswohlgefährdung ist häufig ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die dazu führen, dass ein Kind sich körperlich, psychisch, intellektuell und/oder sozial nicht gesund entwickeln kann.

Für die Beurteilung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, gibt es Leitlinien. Doch unabhängig davon, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht, gilt: Achten Eltern, eine medizinische Fachperson oder auch eine Lehrperson die Gesundheit und die Persönlichkeit des Kindes nicht, kann das Persönlichkeitsrechts des Kindes verletzt sein. Nehmen etwa Liridas Eltern ihre Tochter nicht ernst, wenn sie über Kopfweh klagt, oder wird dem Mädchen gegen ihren Willen ein Medikament verabreicht, verletzt das ihre Persönlichkeitsrechte. Das kann Schadenersatz- oder Genugtuungsforderungen nach sich ziehen.

Nutzen und Risiken abwägen einer ärztlichen Behandlung

Das Kindeswohl umfasst mehrere Aspekte: gesundheitliche, familiäre und soziale. Es existiert aber keine endgültige Definition, denn sie unterliegt dem Wandel der Zeit.

Laszlo findet es offenbar normal, dass er gestresst ist: Wenn alle seine Kolleginnen und Kollegen ebenfalls gestresst sind, empfindet er dies weniger negativ, als wenn er der Einzige in der Klasse wäre. Denselben Effekt zeigen auch neuere Studien zu Mobbing – was aber nicht bedeutet, dass Mobbing heute rechtlich erlaubt wäre.

Zurück zu Liridas Kopfschmerzen: Werden sie erkannt, besprochen und medikamentös behandelt, sodass sich das Mädchen danach besser fühlt und zeigt die Behandlung keine gesundheitlichen Nebenwirkungen, ist rechtlich alles in Ordnung.

Nutzen-Risiko-Verhältnisse sind individuell – je nach Stärke der Beeinträchtigungen und des Leidens.

Bei jeder Behandlung sind Nutzen und Risiken abzuwägen. Wird etwa bei einer dauerhaften und sorgfältig diagnostizierten Aufmerksamkeitsstörung eines urteilsunfähigen Kindes ein Methylphenidat-Medikament verabreicht, welches Nebenwirkungen wie Ticks, Schlafstörung und Gewichtsverlust haben kann, fällt die Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses anders aus – je nachdem wie stark die Beeinträchtigungen und das Leiden des Kindes sind.

Wird ein Kind ohne medizinische Notwendigkeit behandelt, beispielsweise aus ästhetischen Gründen oder damit es bessere Noten schreibt, handelt es sich um eine Leistungssteigerungsmassnahme, sogenanntes Human Enhancement.

Der Begriff steht für medizinische oder biotechnologische Interventionen, deren Ziel nicht primär therapeutischer oder präventiver Art sind, sondern die auf die Verbesserung des Menschen abzielen. Anders als eine Therapie will Enhancement nicht eine Krankheit oder ein Leiden beheben, sondern die geistige oder körperliche Leistungsfähigkeit einer Person steigern.

Wer kann dem Kind wie helfen?

Allerdings sind die Grenzen zwischen medizinisch induzierten Massnahmen und solchen, die es nicht sind, fliessend. Ein Beispiel: Ein verhaltensauffälliges Kind nimmt ein Medikament zu sich, das es aus medizinischer Sicht nicht bräuchte, weil es andere Therapieformen gibt. Das Kind fühlt sich mit dem Medikament aber besser, hat weniger Ausbrüche, wird von den Freundinnen nicht mehr ausgegrenzt und lernt dadurch besser.

Eltern, die ihr urteilsunfähiges Kind vertreten, sollen – in Beratung mit einer medizinischen Fachperson – eine Therapie wählen, welche die zu befürchtenden gesundheitlichen Nachteile bei einer Nichtbehandlung, die in Kauf zu nehmenden Leiden, Schädigungen und Risiken einer Behandlung eindeutig – und auch längerfristig – übertreffen.

Das Recht regelt immer nur den Minimalstandard. Liridas Wohlbe­ finden dient es ohne Zweifel mehr, wenn mit ihr beispielsweise ein Ein­schlafritual gefunden wird, das ihr hilft, sich während der Nacht besser zu erholen.

Eine gute Kommunikation ist zentral.

Fazit: Um herauszufinden, wer dem Kind wie am besten helfen kann, sollten alle beteiligten Akteure – Kind, Eltern, Lehrpersonen, medi­zinische Fachpersonen – miteinan­der kommunizieren und sich alle daran erinnern, dass es zu Hause und in der Schule um eine ganzheit­liche Persönlichkeitsentwicklung des Kindes geht.

Zur Autorin:

Sandra Hotz, Dr. iur., ist Spezialistin für Familien- und Medizin- recht, Rechtsanwältin und Privatdozentin der Universität Zürich sowie «Kinder fördern»- Projektleiterin am Institut für Familienforschung an der Universität Fribourg.
Sandra Hotz, Dr. iur., ist Spezialistin für Familien- und Medizin- recht, Rechtsanwältin und Privatdozentin der Universität Zürich sowie «Kinder fördern»- Projektleiterin am Institut für Familienforschung an der Universität Fribourg.


Zum rechtlichen Begriff Urteilsfähigkeit

Das Bundesgericht hat im Fall einer 13-Jährigen entschieden, dass die medizinische Fachperson nicht auf die Einwilligung der Mutter zur Behandlung der Tochter hätte hören dürfen. Das Mädchen hatte den Eingriff des Osteopathen zur richtigen Positionierung des Steissbeins (durch das Rektum) abgelehnt.

Das urteilsfähige Kind gibt allein die aufgeklärte Einwilligung (Informed Consent) ab, ob es sich um die Behandlung einer somatischen oder psychischen Erkrankung handelt. Das urteilsunfähige Kind dagegen wird von seinen Eltern gegenüber der behandelnden medizinischen Fachperson vertreten. Dabei sind sie dem übergeordneten Kindeswohl verpflichtet. Die Inhaber der elterlichen Sorge entscheiden in gesundheitsrechtlichen Belangen gemeinsam. Hat nur ein Elternteil die elterliche Sorge inne, ist der andere Elternteil über gesundheitsrechtliche Belange des Kindes, welche zugleich die Bildung beeinflussen, grundsätzlich zu informieren.

Auch einem urteilsunfähigen Kind stehen nach Art. 12 KRK aufgrund seines Persönlichkeitsrechts in gesundheitsrechtlichen Angelegenheiten Mitwirkungsrechte zu. Das bedeutet, dass ein Kind in verständlicher Weise über Behandlungsmethoden, -alternativen und Risiken aufzuklären und zu seinen Wünschen anzuhören ist. Wird es nicht genügend einbezogen, liegt eine Persönlichkeitsverletzung vor. Es gibt einige ausdrückliche gesetzliche Ausnahmen. Die Vertretungsbefugnis bei urteilsunfähigen Kindern ist ausgeschlossen in folgenden Belangen (sogenannte absolut höchstpersönliche Rechte):

  • Sterilisation
  • Lebende Organentnahme
  • Genitalbeschneidungen bei Mädchen

In folgenden Behandlungen wird ein Vertretungsverbot der Eltern in Rechtswissenschaft und -politik kontrovers diskutiert:

  • Geschlechtszuweisung und -änderung
  • Enhancement wie Schönheitsoperationen, Neuroenhancement 
  • Schwangerschaftsabbruch
  • Beschneidungen bei urteilsunfähigen Buben aus religiösen Gründen

Buchtipp:

Vera King, Bengina Gemisch, Hartmut Rosa (Hg.) Lost in Perfection Impacts of Optimization on Culture and Psyche, London 2018

Weiterlesen:

Dieser Artikel ist der letzte Teil unserer 6-teiligen Serie WAS KINDER KRANK MACHT aus dem Magazin 10/18.