Was setzt Kinder unter Druck? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Was setzt Kinder unter Druck?

Lesedauer: 7 Minuten

Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Stress: Was beeinflusst das Wohlbefinden eines Kindes negativ? Und was können Eltern, Lehrer und Ärzte tun, damit sich ein Kind unbelastet und gesund entwickeln kann? 

Elke H. sitzt mit ihrer 11-jährigen Tochter Sarah im Wartezimmer des Kinderarztes. In den letzten Wochen und Monaten hatte Sarah immer wieder Kopfschmerzen, musste teilweise zu Hause bleiben und konnte nicht in die Schule gehen. Zuletzt waren auch Schlafstörungen dazugekommen. Jetzt ist die 42-Jährige verunsichert und will endlich Klarheit, was mit ihrer Tochter los ist.

Der Kinderarzt wird Sarah wenig später untersuchen, nach einer medizinischen Ursache forschen. Er wird das Mädchen aber auch nach ihren Ernährungs-, Schlaf- und Mediengewohnheiten fragen. Und ob sie Stress habe in der Schule oder im Freundeskreis. Der Kinderarzt weiss: Neben den klassischen Infektions- und Kinderkrankheiten kommen zunehmend Kinder und Jugendliche mit stressbedingten und psychosomatischen Beschwerden in seine Praxis.

Nicht nur körperliche Ursachen kommen infrage.

Für Sarahs Kinderarzt kommt neben den möglichen körperlichen Ursachen auch ein seelisches Ungleichgewicht infrage, welches das Unwohlsein auslöst. Oder auch eine psychische Störung, die körperliche Beschwerden zur Folge hat – wie eine Depression, eine Essstörung oder AD(H)S. Aus diesem Grund wird der Arzt neben den körperlichen Beschwerden auch die Lebensumstände und mögliche Stressoren abfragen – bei Sarah und bei ihren Eltern.

In unserer recht kopflastigen Medien- und Leistungsgesellschaft stehen nicht nur die Kinder unter Druck. Auch viele Eltern erleben durch die berufliche und private Doppelbelastung Stress. Die Unzufriedenheit der Eltern – die wichtigsten Bezugspersonen – wirkt sich negativ auf das Familienklima aus und stresst auch die Kinder. Besonders Alleinerziehende sind davon betroffen; meist sind sie beruflich stark eingespannt, für ein zufriedenes Familienleben fehlt zur Unterstützung und Balance häufig der Partner. Alleinerziehende – und ihre Kinder – leiden deshalb besonders häufig unter gesundheitlichen Problemen.

Schon Jugendliche zeigen Burnout-Symptome

Für Michael Schulte-Markwort, Kinder- und Jugendpsychiater an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, ist Stress ein krank machender Faktor, der in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Junge Menschen seien dem täglichen Stress aus Schule, Hausaufgaben, anspruchsvollen Hobbys oder Leistungssport nicht mehr gewachsen und zeigten körperliche und psychische Symptome bis hin zum Burnout.

Gemäss einer Studie der deutschen Krankenkasse AOK aus dem Herbst 2013 hatte jedes fünfte Kind in Deutschland stressbedingte gesundheitliche Beschwerden, die von Unwohlsein, Schwindel und Benommenheit über Nervosität, Gereiztheit und Kopfschmerzen bis hin zu Bauchschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafstörungen reichten.

Die Uni Bielefeld ermittelte 2015 in einer Studie, dass knapp 20 Prozent der Kinder ein hohes Stresslevel haben, einer Studie der WHO zufolge fühlen sich knapp 20 Prozent der Kinder zwischen 11 und 17 Jahren infolge eines tatsächlichen oder gefühlten Leistungsdrucks überfordert und erschöpft. Die Folge: Kinder leiden häufiger an Krankheiten und entwickeln Symptome, die normalerweise eher stressbedingt bei Erwachsenen anzutreffen sind. 

Leiden die Eltern an einer Erkrankung, können die Kinder ebenfalls krank werden.

Doch es sind nicht nur gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Erwartungen, die zu seelischen Belastungen führen. Hinzu kommen Konflikte in der Partnerschaft der Eltern oder gar psychische Erkrankungen der Mutter oder des Vaters. Kinder leiden darunter und können selber krank werden.

Entwicklungsstörungen durch zu viel Medienkonsum?

Auch die intensive Nutzung digitaler Medien kann laut einer Studie der Rheinischen Fachhochschule Köln zu Entwicklungsstörungen bei Kindern führen. Möglich sind demnach Fütter- und Einschlafstörungen bei Babys, wenn die Eltern während der Betreuung parallel Medien nutzen, Sprachentwicklungsstörungen bei Kleinkindern und Konzentrationsstörungen im Primarschulalter. Für die 2017 publizierte Studie waren 5573 Eltern und deren Kinder zum Umgang mit digitalen Medien befragt worden.

Ein Ergebnis der Studie lässt besonders aufhorchen: 70 Prozent der unter Sechsjährigen spielen täglich eine halbe Stunde mit dem Smartphone der Eltern. Als Folge der intensiven Nutzung von digitalen Medien leiden diese Kinder vermehrt an motorischer Hyperaktivität sowie an Konzentrations- und Sprachentwicklungsstörungen. Dies lässt sich auch in der Gruppe der 8- bis 13-Jährigen feststellen, wenn digitale Medien länger als 60 Minuten täglich konsumiert werden.

Kinder müssen vom geplanten Lebenskonzept abweichen dürfen – ohne Angst vor Konsequenzen. Bild: Alamy
Kinder müssen vom geplanten Lebenskonzept abweichen dürfen – ohne Angst vor Konsequenzen. Bild: Alamy
Andere Studien belegen den Zusammenhang von erhöhtem Genuss von Süssgetränken und Süssigkeiten und erhöhtem Body-Mass-Index (BMI). Solche statistischen Zusammenhänge belegen zwar keine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Medienkonsum und Entwicklungsstörungen oder anderen gesundheitlichen Folgen. Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit einer altersangemessenen Medienkompetenz und ein massvoller Umgang sind aber sicher empfehlenswert.

Besser, als ein Smartphone-Verbot auszusprechen, ist es, den Kindern den richtigen Umgang mit den Geräten beizubringen. «Mit der vorschnellen Verordnung von Ergo- und Sprachtherapie allein lassen sich die Gefahren nicht abwenden», sagt der Kinderarzt Uwe Büsching vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der ebenfalls an der Untersuchung beteiligt war. «Gerade wenn das Verhalten oder die Entwicklung auffällig ist, sollte immer auch ein unangebrachter Umgang der Eltern wie der Kinder mit Medien in Betracht gezogen werden.»

Muss die digitale Medienkompetenz gefördert werden?

Künftig sollten daher die Früherkennungsuntersuchungen um eine dem Alter des Kindes entsprechende Medienberatung ergänzt werden. Denn es gibt Hinweise, dass ein erhöhtes Risiko besteht, den Umgang mit digitalen Medien nicht kontrollieren zu können, wenn eine digitale Medienkompetenz nicht frühzeitig erlernt wird.
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Die Schule könnte neben dem Elternhaus ein Ort sein, an dem solche Kompetenzen vermittelt werden. Zurückliegende Reformen haben sich aber eher daran orientiert, was Kinder fürs spätere Berufsleben brauchen, und weniger daran, was Kinder brauchen, um sich optimal entwickeln zu können. So wird der Druck auf die Kinder erhöht und der Stresspegel steigt – für Kinder und Eltern. Zunehmende Verunsicherung bei den Eltern und folglich steigende Anmeldezahlen für Abklärungen, Fördermassnahmen und Therapien sind die Folge.
Ein weiterer Faktor, der Kinder krank machen kann und sich darüber hinaus negativ auf ihre Entwicklung und ihre Bildungschancen auswirkt, ist Armut. Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus haben laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts zwei- bis dreimal häufiger einen schlechten allgemeinen Gesundheitszustand. Sie sind häufiger psychisch oder verhaltensauffällig, übergewichtig oder sogar adipös, sie treiben weniger Sport und ernähren sich ungesünder.

 Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus haben häufiger einen schlechten allgemeinen Gesundheitszustand.

Eine Kinderarmutsstudie der Bertelsmann-Stiftung kommt zum Ergebnis, dass das Aufwachsen in Armut auch in westlichen Ländern mit hohem Wohlstand häufig mit psychosomatischen Symptomen wie Einnässen, Schlafstörungen, Bauch- und Kopfschmerzen, Unkonzentriertheit, Nervosität oder depressiven Symptomen einhergeht.

Eine Studie der Universität Bochum zeigte 2015 bei Kindern im Kindergartenalter, dass ein Aufwachsen in Armut die Entwicklung von Kindern beeinträchtigt. Bei Fünf- bis Sechsjährigen, deren Familien von staatlicher Grundsicherung leben, fanden sich mehr als doppelt so häufig Defizite in der Entwicklung als bei Kindern, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen: Sie spre­chen schlechter Deutsch, können schlechter zählen, leiden öfter unter Konzentrationsmängeln, sind häufiger übergewichtig und verfügen über geringere Koordinationsfähigkeiten.

Resilienz stärken – wie geht das?

Die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen, mit Stress oder ungünstigen Entwicklungsbedin­gungen umgehen zu können, ist sehr unterschiedlich. An der genetischen Grundausstattung eines Menschen lässt sich nichts ändern.

Doch aus der epigenetischen For­schung ist bekannt, dass auch Umweltfaktoren sehr wohl einen Einfluss auf die Gesundheit von Kindern haben können. Das bedeu­tet, dass es bereits in der Schwanger­schaft wichtig ist, starken oder anhaltenden Stress zu vermeiden. Aktuelle oder in der Vergangenheit liegende belastende Lebensereignis­se oder ungünstige Bedingungen, aber auch Schutzfaktoren wirken sich wesentlich auf den Entwick­lungsverlauf eines Kindes aus.

Risikofaktoren, eine erhöhte Anfälligkeit (Vulnerabilität) und Schutzfaktoren wie eine hohe Widerstandskraft (Resilienz) finden sich beim Kind, bei der Familie, in der Umgebung (Freunde, Kinder­garten, Schule, Beruf ) und in den soziokulturellen und gesellschaftli­chen Bedingungen. Kinder sollen sich bei ihren Eltern sicher und geborgen fühlen.

Feinfühlige – nicht verwöhnende – Eltern leisten einen bedeutsamen Beitrag zur späteren Bindungssicherheit ihres Kin­des. Es ist wichtig, die Bedürfnisse von Kindern ernstzunehmen, ihnen zuzuhören, nachzufragen, offen zu sein für ihre Sorgen und Ideen. Eltern können sich bei Unsicherheit alleine oder gemeinsam mit ihren Kindern beraten lassen. Es ist bes­ser, seine elterlichen Sorgen und Fragen mit dem Partner, Kollegen oder einer Fachperson zu teilen, wenn man mit seinem Latein am Ende ist.

Eine «emotionale Brücke» reduziert das Risiko einer dauerhaften psychi­schen Belastung des Kindes.

Glückliche und zufriedene Kin­der brauchen auch glückliche und zufriedene Eltern. Alleinerziehende sollten sich die Kinderbetreuung teilen, Zeit mit anderen Müttern und ihren Kindern verbringen oder mit einer guten Kollegin in den Aus­gang gehen. 

Getrennt lebende Eltern sollten ein möglichst einvernehmli­ches Miteinander suchen, ihrem Kind eine «emotionale Brücke» zum anderen Elternteil bauen – und möglichst loyal sein. Dies reduziert das Risiko einer dauerhaften psychi­schen Belastung des Kindes beträchtlich.

Eltern stehen in der Pflicht

Wir leben in einer schnelllebigen Welt, die hohe Anforderungen an uns stellt. Die Auswirkungen spüren nicht nur die betroffenen Erwachse­nen. Auch die Kinder leiden darunter – mit Folgen bis hin zu ernsthaf­ten Erkrankungen. Eltern haben hier eine enorme Verantwortung, was den Druck einerseits noch zusätzlich erhöht. Andererseits ist es möglich, die Klippe des erkrankten Kindes zu umschiffen.

Eine ausgewogene Ernährung, die konsequente Teil­nahme an den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und emp­fohlenen Impfungen sowie eine aus­ reichende, dem individuellen Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen angepasste Schlafdauer tragen wesentlich zur Gesundheit bei und können vor krankmachenden Einflüssen schützen.

Gleichzeitig benötigen Kinder und Jugendliche altersentspre­chende Freiheiten, Gestaltungsspielraum, Anregungen und eine gewisse elterliche Gelassenheit. Am Vorbild ihrer Eltern, der Familie und enger Freunde können Kinder lernen, Beziehung erleben, sich austauschen und Grenzen erfahren.

Kinder müs­sen vom für sie geplanten Lebens­konzept abweichen und sich gemäss ihren individuellen Anlagen entwi­ckeln dürfen – ohne Angst vor Kon­sequenzen. Dabei soll nicht aus dem Blickfeld geraten, von wem der Stress und der Leidensdruck ausgeht – sind es wirklich die Kinder selber, oder sind es ihre Eltern, die Schule oder andere, die besorgt sind und auf Abklärungen und Untersuchungen drängen? Und wie gestalten wir die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und Familien?

Hier sind nicht nur die Eltern gefragt, sondern die Gemeinden, die Gesellschaft und die Politik stehen in der Verantwortung, bestmögliche Bedingungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu schaffen.


Bild: fotolia.de


Die Autoren:

Kurt Albermann Dr. med., ist Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) und stv. Direktor des Departements Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Winterthur.
Michael von Rhein PD Dr. med., ist Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie und stv. ärztlicher Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) am Kantonsspital Winterthur.

Buchtipps:

  • Kurt Albermann (Hg.): Wenn Kinder aus der Reihe tanzen. Psychische Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Beobachter Edition, Zürich 2016
  • Remo Largo: Das passende Leben.Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2017

Online-Dossier Burnout

Burnout: Wenn Eltern erschöpft und ausgebrannt sind. Doch auch Kinder und Jugendliche sind immer mehr betroffen. Ursachen, Symptome und Wege aus der Krise, lesen Sie in unserem
Burnout: Wenn Eltern erschöpft und ausgebrannt sind. Doch auch Kinder und Jugendliche sind immer mehr betroffen. Ursachen, Symptome und Wege aus der Krise, lesen Sie in unserem Online-Dossier «Burnout.


Weiterlesen:

Dieser Artikel ist Teil 1 unserer laufenden Serie «Was Kinder krank macht»aus dem Magazin 04/18.

Ausserdem:

  • Burnout: Wenn Jugendlichen alles zu viel wird