Wie vermeidet man Kämpfe am Esstisch? Sollen Ihre Kinder beim Einkaufen mitbestimmen dürfen? Die Kinderärztin und Ernährungsexpertin Marguerite Dunitz-Scheer über schwierige Esser, Kinder, die plötzlich abnehmen möchten, und gesundes Essverhalten.
Auf jeden Fall. Das liegt daran, dass wir unsere Intuition und den Alltag in Sachen Esskultur und Kochkultur verloren haben. Einerseits kochen wir weniger oft als jemals zuvor selbst, andererseits messen wir einzelnen Nahrungsmitteln so viel Bedeutung bei wie noch nie. Dieses Pendeln zwischen zwei Extremen zeigt: Uns ist die Normalität beim Essen abhandengekommen.
Das hat viele Gründe. Schauen Sie sich die vergangenen 70 Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg an: Europa hat sich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit in eine Nahrungsüberflussgesellschaft verwandelt. Die Nahrungsmittelindustrie ist notwendigerweise offensiv bis aggressiv. Sie füttert nicht nur die Supermarktregale mit Angeboten, sondern auch unsere Köpfe mit Ideologien und viel zu viel Information. Das führt dazu, dass die Menschen Nahrung als Religions- und Identitätsersatz sehen.
Und ob. Dieses riesige Angebot führt aber auch dazu, dass wir zum ersten Mal in einer Gesellschaft leben, in der die tägliche Beschaffung der Nahrung mit minimalstem Aufwand möglich ist: Tütchen kaufen, aufreissen, warm machen, essen – fertig. Wer nicht will, muss sich überhaupt keine Gedanken ums Essen machen. Dahinter steht der Verlust einer ganzen kulturspezifischen sinnlichen Welt.
«Wer ein gutes Mittelmass bei der Ernährung vorlebt, hat kaum essgestörte Kinder.»
Nein, natürlich nicht. Es sind zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, welche man keinem Einzelnen oder einer Gruppe allein zum Vorwurf machen kann. Als ich in den 60er-Jahren in der Schweiz aufgewachsen bin, ist keine Mutter arbeiten gegangen. Heute bleiben vielleicht zehn Prozent der Mütter daheim. In der Folge hat sich die Kochkultur zu einem Event verändert, der oft nur einmal in der Woche stattfindet. Mama steht am Herd und kocht – das ist eine Ausnahme, nichts Normales.
Ganz unspektakulär: seinen Kindern ein abwechslungsreiches Essen hinstellen und mindestens einmal am Tag kochen. So lernen die Kinder nebenbei, was eine lustvolle und gute Esskultur ist. Und natürlich das Kochen. Aber fragen Sie mal Zehnjährige, wie das bei ihnen zu Hause ist. Die meisten können sich nicht einmal ein Spiegelei braten oder Pasta für sich und ein Geschwisterkind kochen. Später schickt man den Nachwuchs in spezielle Kinderkochkurse. Da wird dann künstlich etwas in ihr Leben hineingebracht, was sie ganz automatisch daheim hätten lernen können.