Wie digitale Medien die Kindheit transformieren
Das Smartphone wirke als Erfahrungsblocker und habe so weitreichende Folgen für unsere Kinder, schreibt der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt – eine Buchempfehlung.
In der Medienerziehung stehen wir tagtäglich vor neuen Herausforderungen. Weltweit haben das Smartphone und die sozialen Medien die Kindheit umgekrempelt. Und obwohl damit insbesondere für Heranwachsende zahlreiche Probleme verbunden sind, unternehmen die führenden Technologiekonzerne bisher kaum etwas, um die offensichtlich strukturell angelegten Schwächen und Mängel ihrer Angebote zu verbessern.
Weil die Branche auf rasches Wachstum fixiert ist, spielt es für sie offensichtlich keine grosse Rolle, wenn sich Kinder weit unter den vorgeschriebenen 13 Jahren auf sozialen Medien anmelden. Da niemand deren falsche Altersangaben kontrolliert, geraten so besonders junge Kinder in Situationen, die sie bedrängen, belasten und verstören.
Welchen Einfluss haben digitale Medien auf die psychische Gesundheit?
Wenn sie zum Beispiel in dieser Bling-Bling-Filterwelt von Instagram oder Tiktok nach Orientierung suchen, führen die dort verbreiteten, vermeintlich perfekten Bilder oft zu einer tiefen Unzufriedenheit mit dem eigenen, noch im Wachstum befindlichen Körper. Ebenso ist schon lange bekannt, dass pädophil veranlagte Erwachsene die Welt der Games und sozialen Netzwerke zu ihrem persönlichen Jagdrevier erkoren haben.
Die Kernfrage also lautet: Was macht all das mit unseren Kindern?
Eine der dringlichsten Thesen des Autors lautet, dass die suchterzeugenden Inhalte der Konzerne die Kindheit neu verdrahtet haben.
Jahr für Jahr kommen Studien in der Schweiz, aber auch international heraus, die zeigen, welchen Einfluss die digitalen Medien auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben. In seinem neuen Buch nimmt nun der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt über einen längeren Zeitraum die Veränderungen der Kindheit ins Visier, die sich seit der Einführung des Smartphones ergeben haben.
Sein Urteil steht bereits im Titel fest: «Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen». Zugegeben, das klingt sehr reisserisch. Das 448 Seiten umfassende Werk, das in den USA die Bestsellerliste anführte, ist aber unaufgeregt, fundiert und absolut lesenswert.
Haidt lehnt übrigens digitale Geräte und Medien nicht ab. So bezeichnet er sein erstes iPhone sogar als «bemerkenswertes digitales Schweizer Offiziersmesser». Zu diesem frühen Zeitpunkt, das räumt Haidt allerdings auch ein, habe er nicht ahnen können, welches suchtähnliche Verlangen das Gerät auslösen würde. Seiner Meinung nach startete die «Monopolisierung» der Aufmerksamkeit mit dem Beginn der ersten Apps und nahm dann noch mal kräftig Fahrt auf durch die Einführung von Share- und Like-Buttons.
«Radikal neue Form des Heranwachsens»
Eine der dringlichsten Thesen des Autors lautet, dass die suchterzeugenden Inhalte der Konzerne die Kindheit neu verdrahtet haben. Da die «intensivste Phase dieser Neuverdrahtung» in den Jahren von 2010 bis 2015 stattgefunden habe, konzentriert sich Haidt vorrangig auf die Generation Z, die er als «Versuchskaninchen für eine radikal neue Form des Heranwachsens» bezeichnet.
Im ersten Kapitel belegt Haidt mit zahlreichen Studien, Zahlen und Diagrammen, wie Ängste, Depressionen, Selbstverletzungen und auch Suizidversuche unter Kindern und Jugendlichen enorm zugenommen haben; teilweise sogar um das Zweieinhalbfache. Diese besorgniserregenden Befunde bleiben übrigens nicht allein US-Teens vorbehalten, auch hierzulande wurde bereits ein ähnlicher Trend identifiziert.
In der Schweiz lebe eine Gruppe von Jugendlichen, stellt die Zürcher Psychiaterin Dagmar Pauli in einem Interview mit dem «Schweizer Ärzteblatt» fest, «die Symptome insbesondere von Depression, Angst- und Essstörungen aufweist. Diese Gruppe ist in den letzten zehn Jahren stark gewachsen, sodass wir von einer alarmierenden Situation sprechen müssen.»
Haidt teilt in seinem Buch die Kindheit in «spielbasiert» und «smartphonebasiert» ein: «Freies Spiel», schreibt er, «ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung sozialer ebenso wie körperlicher Fertigkeiten. Doch an die Stelle der spielbasierten ist eine smartphonebasierte Kindheit getreten, Kinder und Heranwachsende verlegen ihr Sozialleben und ihre Freizeit auf Geräte mit Internetverbindung.» Wenn Kindern die Möglichkeit fehle, echte Erfahrungen zu machen, dann dürfen wir «Smartphones und Tablets in den Händen von Kindern mit Fug und Recht als Erfahrungsblocker bezeichnen».
In einer weiteren These sieht Haidt nicht alleine die Techkonzerne in der Pflicht, sondern macht auch die Ängstlichkeit der Erziehenden für die fatale Fehlentwicklung verantwortlich. «Während unbeaufsichtigtes Spielen draussen immer stärker eingeschränkt wurde, wurden PCs immer häufiger und boten Kindern eine einladende Möglichkeit, ihre Freizeit zu Hause zu verbringen.»
Ambivalenz der Eltern
Laut Haidt sind «Überbehütung in der wirklichen Welt und Unterbehütung in der virtuellen Welt die Hauptursachen dafür», dass nach 1995 geborene Kinder zur ängstlichen Generation geworden seien. Der US-Psychologe kritisiert vollkommen zu Recht die Ambivalenz der Eltern, die ihre Kinder zwar vor Sexualstraftätern in der Realität schützen möchten, aber genau diese Sorgfalt in den digitalen Aufenthaltsräumen von Kindern und Jugendlichen vermissen lassen.
Im letzten Kapitel stellt das Buch mögliche Lösungen vor, die sich an Eltern, die Techfirmen und die Politik richten. Mitunter gleitet Haidt, der auch als Experte in Moralfragen gilt, dabei in einen pastoralen Ton ab. Es gibt sogar ein Kapitel zum Thema Spiritualität. Nur geht es dann nicht um Religion, sondern um die grundlegenden Werte einer Gesellschaft.
Haidts Buch zeigt auf, dass wir unsere Schwerpunkte in der Erziehung gleichermassen auf die reale und die digitale Welt legen müssen.
Viele seiner Forderungen sind dringlich: So sollen Schulen seiner Meinung nach komplett handyfrei werden, Kinder vor dem 14. Lebensjahr nicht in den Besitz eines eigenen Smartphones gelangen und soziale Medien erst ab 16 Jahren zugelassen werden. Wie realistisch das ist, steht allerdings nicht im Buch. Vor allem aber plädiert Haidt dafür, dass Kindern wieder mehr «unüberwachtes Spiel» und «Unabhängigkeit in der Kindheit» zugestanden wird.
Insgesamt ist «Generation Angst» eine sehr lohnenswerte Lektüre, weil sie solide und nachvollziehbar beschreibt, wie sich die Kindheit in der Smartphone-Ära seit 2010 entwickelt hat. Sie macht deutlich, dass Techfirmen in Sachen Kinderschutz in grosser Bringschuld stehen und die Politik ihnen gegenüber deswegen restriktiver vorgehen sollte. Haidts Buch zeigt aber auch auf, dass wir unsere Schwerpunkte in der Erziehung gleichermassen auf die reale und die digitale Welt legen müssen. Wenn wir für Kinder ein zu sicheres Umfeld schaffen, so heisst es sinngemäss in einem im Sachbuch abgebildeten Cartoon, würden wir sie schlecht auf das wirkliche Leben vorbereiten.
Jonathan Haidt: Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Rowohlt 2024, 448 Seiten, ca. 30 Fr.