Wir sollten unseren Kindern so lange wie möglich vorlesen
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Wir sollten unseren Kindern so lange wie möglich vorlesen

Lesedauer: 4 Minuten

Wenn Kinder selbst lesen können, hören wir meist auf, ihnen vorzulesen. Dabei profitieren selbst Teenager von diesen oft innigen Momenten.

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Als meine Tochter in der zehnten Klasse war, sollte sie im Deutschunterricht aus einem Klassiker der Literatur vorlesen. Da zu dieser Zeit Steven Spielbergs «Krieg der Welten» ihr Lieblingsfilm war, musste sie nicht lange überlegen, welches Buch sie für diese Aufgabe aus­wählen würde. Wohlmeinend riet ich ihr davon ab: H. G. Wells’ Roman stamme aus dem Jahr 1898 und besitze einen für ihre Generation zu antiquierten Duktus. Meine Tochter liess sich davon, vermutlich durch eine genetisch bedingte Störrigkeit, nicht abbringen. Doch scheiterte sie bereits am ersten Satz, der mit seinen vielen Einschüben ganze acht Zeilen beanspruchte. Auch mit den nächsten Sätzen kam sie nicht weiter.

Schliesslich schlug ich vor, ihr die ersten Seiten so lange vorzulesen, bis sie ein besseres Verständnis für Wells’ Sprachwelt bekam. «Du willst mir vorlesen?!» Entgeistert starrte mich die damals 15-Jährige an. Letztlich siegte die Not über die Scham, und schon nach 20 Seiten konnte sie alleine weiterlesen und geeignete Stellen für ihren Vortrag markieren. Diese Form des Leseanschubs ist für mich keine neue Erfahrung – sie ist mein Beruf.

In einer rastlosen Medienwelt, die unablässig um unsere ­Aufmerksamkeit buhlt, ziehen Bücher meist den Kürzeren.

Als Kinder- und Jugendbuch­autor bin ich immer wieder auf Lesereise. Dort begegne ich in Primar- und weiterführenden Schulen zahlreichen Schülerinnen von der dritten bis zur zwölften Klasse. Sie alle sind mehr mit Whats­app, Tiktok und Fortnite sozialisiert als mit Büchern. Gerade in Schulen mit vielen Schülern aus sozial schwierigen Verhältnissen ist die Unlust auf eine Lesung besonders deutlich zu spüren.

Trotzdem gelingt es mir, dass zwei Schulklassen 90 Minuten lang zuhören und mitmachen. Und auf meine Frage, wer vorne vor allen anderen einen Dialog zweier sich streitender Mädchen vorlesen mag, melden sich immer gaming-affine Buben, oft mit Migrationshintergrund. Sie lesen nicht gut, aber sie wollen vorlesen und noch wichtiger: Sie trauen sich. Um zu erfahren, wie die Geschichte in dem Buch weitergeht, leihen sie es sich später aus der Bibliothek. Sie sind motiviert, was auch zu Hause gelingen kann.

Auf folgende Punkte kommt es dabei an:

1. Medienvielfalt akzeptieren

Für viele Eltern ist es ein echter Herzenswunsch, dass ihre Teenagerkinder Bücher lesen. Nur reagieren diese darauf oft genervt. Das kann an der Erschöpfung durch die Schule liegen, die starke Anforderungen an sie stellt und sie und ihre Leistungen bewertet. Doch bedeutend schwerer wiegt die Haltung, die Kinder zu Hause erleben: Während das Buch stets als das «gute» Medium bewertet wird, erfahren ihre digitalen Aktivitäten keinerlei Wertschätzung. Wer jedoch bestimmte Medien oder Interessen abwertet, braucht sich dann über die Ablehnung gegenüber Büchern nicht zu wundern. Ausserdem lesen Mädchen und Jungen doch viel; aber eben Texte und Nachrichten auf ihrem ­Handy und nicht das, was Erwachsene für sinnvoll erachten. Neu ist das nicht. Schon früher schlug Kindern Verachtung entgegen, weil sie mit grosser Begeisterung ihre Nase in Comic-Hefte gesteckt haben.

2. Anerkennen, dass Lesen schwer ist

«Nur ein Fünftel aller Jugendlichen gibt an, regelmässig ein Buch zu lesen», heisst es in der aktuellen James-Studie 2022. Auch die aktu­elle Iglu-Studie 2023 bescheinigt etlichen Viertklässlern unzurei­chende­ Lesekompetenzen. Diesem Defizit könnte das Lesen von Büchern erfolgreich entgegenwirken. Aber in einer rastlosen Medienwelt, die unablässig um die Aufmerksamkeit von Kindern und Jugendlichen buhlt, ziehen Bücher meistens den Kürzeren. Im direkten Vergleich zu Romanen haben Filme, Games und soziale Medien keine Hürden. Lesen dagegen ist schwer. Es erfordert ein Zur-Ruhe-Kommen, es braucht ein hohes Mass an Konzentration und verträgt keine Ablenkung. Doch nicht nur Jugendlichen fällt konzentriertes Lesen schwer. Auch das Leseverhalten der Erwachsenen hat sich mit dem Internet stark verändert: die Leseeinheiten im Netz mit ihrem fragmentierten Häppchen-Charakter sorgen dafür, dass auf Dauer unsere Aufmerksamkeitsspanne abnimmt und die Ausdauer für längere Texte oder gar Bücher auf der Strecke bleiben könnte.

3. Vorlesen nicht aufgeben

Wenn Kinder klein sind, lesen wir als Ritual vor dem Schlafengehen vor. Sobald sie selbst lesen können, nimmt das leider langsam ab. Zieht sich aber das Vorlesen bis ins Teenageralter, wird es einen stark prägenden Charakter haben und dringend benötigte Schlüsselkompetenzen für das weitere Lernen und Leben liefern. Das Zuhören – und später auch das eigenständige Lesen – fördert bekanntlich nicht nur die Fantasie und die Wissenserweiterung, sondern auch Konzentration und kritisches Denken. Sogar der Sprachschatz nimmt erheblich zu und verbessert die verbale und schriftliche Präzision beim Formulieren und Argumentieren. Darüber hinaus entfalten Geschichten eine grössere Empathie, da sich Kinder und Jugendliche mit Handlungen und Gedanken der Protagonisten identifizieren können. Dabei behalten sie gleichzeitig eine gesunde Distanz, die sie vor Schaden und plumper Belehrung bewahrt.

4. Gemeinsame Basis finden

Ja, es ist nicht leicht, Pubertierende für das Lesen zu begeistern. Aber vergessen wir nicht: Wir alle lieben Geschichten. Auch Kinofilme oder Serien basieren stets auf einer ­Story. Sie muss nur einen Nerv treffen. Das ist der verbindende Anknüpfungspunkt. Natürlich sollten bei der Auswahl der Lektüre Interessen und Geschmack der Kinder berücksichtigt werden. Auch müssen es nicht immer nur klassische Kinder- und Jugendbücher sein, es dürfen auch schon erste Ausflüge in die Romanwelt junger Erwachsener stattfinden. Abgeschlossene Kurzgeschichten eignen sich hervorragend dazu. Zumindest zu Hause muss der Schweizer Vorlesetag nicht nur einmal im Jahr stattfinden. Zwar ist es kaum notwendig, täglich vorzulesen, aber bitte regelmässig, etwa am Wochenende. Sind Geschichten besonders spannend, warten Jugendliche vielleicht nicht bis zur nächsten Vorleserunde, sondern schnappen sich das Werk, um allein weiterzulesen. Ziel erreicht.

Vorlesen hat nicht nur etwas mit Literatur zu tun, sondern auch mit Beziehung. Da die Pubertät aus einem langen Ablösungsprozess besteht, fühlen sich viele Eltern durch den hohen Freiheitsanspruch ihrer Kinder oft verstossen. Diese brauchen uns aber immer noch sehr, können es nur nicht mehr zeigen. Vorlesen ist da zwar kein Allheil­mittel, aber dieses nahe Beisammensein kann möglicherweise einen wertvollen Beitrag dafür leisten, das weitere Auseinanderdriften zu überwinden. Begreifen dann junge Menschen in der vorgetragenen Lektüre eine Szene oder hintersinnige Anspielung nicht, stecken wir schon mittendrin im Gespräch.

Was Eltern beachten sollten
  • Zum Lesen zwingen bringt nichts.
  • Lesen ist keine Strafe.
  • Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an.
  • Ein Buch alleine zu Ende zu lesen, erfüllt Kinder mit Stolz.
  • Vorbild sein: Viele Eltern, die sich wünschen, dass ihre Kinder Bücher lesen, lesen selbst keine.
  • Wenn ein E-Book-Reader zum Lesen motiviert: Warum nicht?

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

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