«Wunder» – ein Buch, das Eltern und Kinder begeistert
Kolumnist Mikael Krogerus hat jüngst ein Buch entdeckt, das etwas schaffte, was nicht viele literarische Werke können: Es hat ihn genauso begeistert wie seine Tochter.
Streng genommen gibt es drei Arten von Kinderbüchern. Solche, die Kinder mögen, solche, die Eltern mögen, und solche, die beiden gefallen. Zur ersten Gruppe gehört «Gregs Tagebuch» von Jeff Kinney. Ich weiss nicht, ob Sie mal reingelesen haben, es ist wirklich gut, spricht direkt ins Herz verzweifelter Heranwachsender.
Aber wenn man weiterliest, wird sofort deutlich, wie viel man von der eigenen Kindheit verdrängt hat. Und auch, warum. Anders gesagt, es ist ein gutes Buch, weil es für Kinder und nicht für Erwachsene geschrieben wurde.
Die dritte Gruppe sind Bücher, bei denen man sich auf die Lektüre freut wie auf einen guten Freund.
Zur zweiten Gruppe – Bücher, die Eltern mögen – gehören all jene, in denen die Autoren die Welt «mit Kinderaugen» zu sehen versuchen. Nirgends ist das deutlicher als in Antoine de Saint-Exupérys «Der Kleine Prinz». Es ist zweifellos ein Meisterwerk, aber ich erinnere mich noch gut, wie ich bei dem Satz «Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar» zum ersten Mal die Augen verdrehte.
In dieser Kategorie Bücher geht es oft mehr um eine pädagogisierte Sehnsucht von Erwachsenen nach einem unverdorbenen Ideal-Kindsein; einem quasi-religiösen Zustand, in dem sie die Begegnung mit der komplizierten, verrotteten Wirklichkeit vermeiden wollen und sich lieber auf einem perfekten Planeten fern von allem imaginieren.
Die dritte Gruppe sind Bücher, die Eltern wie Kindern gefallen. Jene Werke also, bei denen man sich auf die Lektüre freut wie auf einen guten Freund, bei denen wir dem Kind vorschlagen: «Noch ein Kapitel, okay?» und nicht umgekehrt. Für manche ist das vielleicht «Harry Potter», für andere «Die rote Zora».
Ich machte jüngst bei «Wunder» von Raquel Palacio (die Verfilmung läuft aktuell im Kino) diese Erfahrung. Erzählt wird die Geschichte des zehnjährigen Auggie Pullman, dessen Gesicht infolge einiger komplizierter Gendefekte derart entstellt ist, dass alle, die ihn sehen, entweder erschrocken wegschauen oder ihn anstarren wie einen Autounfall. Auggie selbst erklärt es dem Leser so: «Wie auch immer Sie sich mein Gesicht vorstellen, es ist vermutlich noch schlimmer.» Jeder Schultag ist für Auggie eine Qual, jede Begegnung eine Überwindung. Mit der Zeit aber lernen seine Klassenkameraden, den Menschen hinter der Maske zu sehen. Auggie erfährt Freundschaft und Zuspruch.
Palacio benutzt zwei sehr kluge literarische Tricks: Erstens sind die Kapitel vorlesefreundlich kurz, zweitens wird Quentin-Tarantino-mässig aus der Perspektive verschiedener Personen erzählt, sodass wir Mobbingszenen aus Sicht des Opfers, des Täters und des Zeugen sehen und somit gezwungen sind, uns ein differenziertes Bild zu machen. Wir malen uns aus, wie es wäre, Auggie zu sein, und wie es wäre, ihn zu sehen. Das klingt furchtbar pädagogisch, und doch war ich erstaunt, wie sehr meine Tochter auf das Buch ansprach – und wie oft ich beim Lesen Tränen in den Augen hatte.
Was ich sagen will: In «Wunder» erfahren wir, was uns in «Der Kleine Prinz» gepredigt wird, nämlich dass man nur mit dem Herzen gut sieht, weil das Wesentliche für die Augen unsichtbar bleibt.