«Beim Vorlesen erfahren Kinder, dass sich das Lesenlernen lohnt»
Merken
Drucken

«Beim Vorlesen erfahren Kinder, dass sich das Lesenlernen lohnt»

Lesedauer: 3 Minuten

Leseexpertin Sara Grunauer betont die vielfältigen positiven Effekte des Vorlesens – auch für ein Primarschulkind.

Interview: Evelin Hartmann
Bild: Adobe Stock

Frau Grunauer, warum ist es wichtig, Kindern Geschichten vorzulesen? 

Die meisten Kinder lieben die entspannte, gemütliche Atmosphäre beim Vorlesen und Erzählen. Sie geniessen das Abtauchen in eine Geschichte – egal ob zu Hause auf dem Sofa oder in der Leseecke in der Schule.

Sara Grunauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Lesen der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Bücher und Geschichten in allen Varianten faszinieren sie.

Beim Zuhören lernen Kinder sehr viel: Sie eignen sich einen Fundus an Erzählstoffen, Figuren und fiktionalen Begebenheiten an. Weiter erhalten sie sprachliche Vorlagen und Muster für das eigene Erzählen. Zudem erschaffen sie sich ihre ganz persönlichen Bilderwelten.

Warum spricht man beim Vorlesen auch von Leseförderung?

Zusätzlich zu den literarischen Fähigkeiten, die Kinder erwerben, werden sie durchs Vorlesen auch neugierig gemacht auf diesen versteckten Schatz zwischen zwei Buchdeckeln. Sie können so motiviert werden, selber lesen zu lernen.

Wenn immer möglich, sollte man Kindern so lange vorlesen, wie ein beidseitiges Interesse besteht.

Sara Grunauer, Leseexpertin

Durchs Vorlesen erfahren Kinder, dass sich Mühe und Anstrengung beim Lesenlernen lohnen, sie haben ja erfahren, wie spannend Lektüre sein kann.

Was ist der Unterschied zwischen Vorlesen und Erzählen? 

Beim Erzählen übersetzen Schweizer Eltern häufig Bücher simultan vom Hochdeutschen ins Schweizerdeutsche, weil viele kleine Kinder dies lieber haben. Es ist dann ihre Alltagssprache, die sie nicht nur mühelos verstehen und ihnen vertrauter ist, Schweizerdeutsch birgt auch mehr Nähe zur erzählenden Person.

Im Erzählmodus ist man freier, man kann eine Geschichte auch mal abkürzen. Meist ergeben sich schneller Gespräche über das Gelesene und oft auch weit über den eigentlichen Buchinhalt hinaus. Beim Vorlesen bleibt man der geschriebenen Sprache treu. Dabei kommen Kinder in Kontakt mit genuin schriftlicher Sprache, in welcher Wortschatz und Satzmuster anders sind als beim Erzählen. Zudem machen mit Mundart aufwachsende Kinder so erste Erfahrungen mit dem Hochdeutschen.

Und wenn ein Kind die Geschichte partout nicht auf Hochdeutsch hören will oder sie nicht versteht?

Jedes Kind ist anders. Es gibt Kinder, die stört es nicht, wenn sie nicht jedes Wort einer Geschichte verstehen oder erst beim wiederholten Vorlesen immer wieder etwas Neues lernen. Gestik und Mimik gehören beim Vorlesen dazu, und so hängt das Verstehen nicht allein von der Sprache ab.

Sara Grunauers Bücher-Tipps zum Vorlesen:

  • Die vielen Bände der Serie «Kommissar Gordon» von Ulf Nilsson und Gitte Spee oder für etwas ältere Kinder «Dachs und Rakete» von Jörg Isermeyer.
  • «Ganz oben fliegt Lili» von Julia Willmann, weil sie auch sprachlich begeistert.
  • Ein Buch aus der Sparte Fantasy: «Willodeen» von Katherine Applegate.

Wieder andere halten an der Familiensprache Schweizerdeutsch als Erzählsprache fest und sind nicht bereit zum sogenannten Code-Switching. Ein unnatürlich erzwungener Wechsel vom Schweizer- ins Hochdeutsche oder umgekehrt ist für genussvolle Vorlesestunden eher schädlich. Ein Tipp: Mit einer neuen Geschichte sind Kinder eher offen für eine neue Sprache. So kann Hochdeutsch als Vorlesesprache eingeführt werden.

Es gibt auch Eltern, denen das Vorlesen nicht liegt. Was tun?

Wenn man nicht gerne vorliest, ­sollte man dies besser jemand anderem überlassen: Vielleicht gibt es Grosseltern, eine Gotte oder einen Götti oder eine andere Bezugsperson, die das gerne übernehmen. Auch Hörbücher bieten sich wunderbar zum gemeinsamen Geschichtenerleben an.

6 Vorlese-Tipps
  1. Vorlesen soll allen Beteiligten Spass machen und keinen didaktischen Zwängen unterliegen.
  2. Wählen Sie eine Lektüre, die Vorlesende und Zuhörende interessiert, die spannend ist und Raum bietet für das gemeinsame Erleben. Besonders eigenen sich Vorlesebücher, Bilderbücher, Erstlesebücher oder Kinder- und Jugendbücher, die in kürzere Abschnitte unterteilt werden können, sodass das Vorlesen zu einer «runden Sache» wird.
  3. Wählen Sie altersangepasste Lektüre: Für die ganz Kleinen eignen sich Bilderbücher, später einfache Erstlesebücher, gefolgt von komplexeren Geschichten. Vorgelesenes zu verstehen, fällt den Kindern einfacher, als selber zu lesen. Daher eignen sich besonders auch anspruchsvollere Bücher zum Vorlesen.
  4. Vorlesen schafft Bindung und Bildung, regelmässiges Vorlesen und Erzählen kann ein besonderes familiäres Ritual werden. Schaffen Sie bewusst Zeit und Raum dafür.
  5. Wählen Sie die Bücher gemeinsam mit dem Kind aus. Für Abwechslung oder zusätzliche Spannung sorgen Hilfsmittel wie eine Taschenlampe oder Stofftiere als «Bauchredner».
  6. Vorlesen als Chance zum Nachbesprechen: Lassen Sie Ihr Kind mitreden, flechten Sie immer mal wieder eine Frage in die Geschichte ein, sodass es Raum für Dinge gibt, die das Kind beschäftigen – unabhängig von der Geschichte.

Irgendwann lesen Kinder selber. Wird das Vorlesen davon abgelöst?

Wenn immer möglich, sollte man Kindern so lange vorlesen, wie ein beidseitiges Interesse besteht. Lesenlernen ist ein langer, für viele Kinder anspruchsvoller Prozess. Bekommen Kinder weiterhin vorgelesen, können sie immer wieder erfahren, was Spannendes in Büchern steckt, was überaus motivierend sein kann für das eigene Lesen.

Deshalb ist es wichtig, dass die Geschichte den Kindern gefällt, dass sie beim Vorlesen mitfiebern und in die Buchwelten eintauchen können. Manchmal ergibt es sich, dass Kinder, die bereits lesen können, einen Part des Vorlesens selber übernehmen, dass man sich die Geschichte also gegenseitig vorliest. Es versteht sich, dass solche Situationen besonders viel zur Förderung des Lesens beitragen können.

Weitere Infos zum Vorlesen:

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

Alle Artikel von Evelin Hartmann