Mit Büchern durch die Krise

Bild: Gabi Vogt / 13 Photo
Geschichten sind für Kinder mehr als nur gute Unterhaltung, sie können heilsam sein. Die richtigen Bücher helfen, Entwicklungsschritte leichter zu nehmen und schwierige Situationen besser zu bestehen.
Kinder durchleben die Geschichte eines Buches so intensiv, als wären sie selbst Teil der Handlung.
Die heilsame Wirkung von Büchern ist wissenschaftlich anerkannt
Biblio- oder auch Lesetherapeuten wie Karin Schneuwly nutzen die heilsame Kraft von Sprache und Geschichten ganz gezielt: Sie wählen die passende Literatur aus und bringen dadurch Bewusstseins- oder sogar Heilungsprozesse in Gang. Studien aus Grossbritannien haben gezeigt, dass Patienten mithilfe von Lesetherapie ihre Medikamente reduzieren konnten. Weil lesende Patienten ruhiger und optimistischer sind, begannen Krankenhäuser im 19. Jahrhundert, Bibliotheken einzurichten.
In Skandinavien, den USA und Grossbritannien ist diese Kreativtherapie inzwischen weitverbreitet. Man kann sie an amerikanischen Universitäten studieren. In England können sich Patienten mit leichten Depressionen sogar Bücher auf Rezept verschreiben lassen.
Hierzulande ist diese Form von Therapie noch nicht so bekannt wie Kunst- oder Musiktherapie, aber sie ist eine anerkannte Therapieform, die man erst nach entsprechender Ausbildung ausüben darf. «Aber in gewisser Weise sind auch erfahrene Buchhändler oder Bibliothekare als Bibliotherapeuten tätig», sagt Ella Berthoud, Autorin des Nachschlagewerks «Die Romantherapie für Kinder».
Berthoud glaubt, dass bei Kindern der bibliotherapeutische Ansatz besonders gut funktioniert. «Die Wirkung von Literatur tritt bei Kindern viel unmittelbarer ein als bei Erwachsenen. Kinder durchleben die Geschichte eines Buches so intensiv, als wären sie selbst Teil der Handlung. Sie versetzen sich in die Hauptfigur hinein, meistern gemeinsam bestimmte Anforderungen.»
Ella Berthoud hat in Cambridge zunächst Literatur studiert, sich dann therapeutisch weitergebildet und offeriert nun seit zwölf Jahren Bibliotherapie-Sitzungen an der von Alain de Botton gegründeten Londoner «School of Life». Zu ihr kommen auch viele Eltern und Familien zur Beratung, meist auf Initiative der Eltern. Das Alter ihrer Patienten beginnt bei knapp fünf Jahren. Berthoud fragt die Kinder nach Lieblingsbüchern oder -figuren. Sie fragt nach Freunden, schönen Erlebnissen, Ärgernissen oder Ängsten. Sie berät sich eventuell mit den Eltern. Dann wählt sie aus.
Die Nähe, die beim Vorlesen entsteht, vergisst ein Kind nie
Das Wirkungsprinzip ist oft ganz einfach. Ein angespanntes, lautes Kind braucht vielleicht eine beruhigende Erzählung und ein schüchternes Kind ein Buch, das Mut macht, sagt Schneuwly. Eine Figur wie Pippi Langstrumpf macht vor, dass man ausbrechen und verrückt sein darf, dass die Regeln der Erwachsenen nicht unumstösslich sind. Eine Ronja Räubertochter zeigt, wie man sich seinen Ängsten stellt. Ein aufbrausendes Temperament bekommt in einem Buch über Wutmonster sein eigenes Verhalten gespiegelt. Der Effekt der Lektüre verblüfft und begeistert die Britin Ella Berthoud immer wieder: «Kinder wachsen innerlich mit den Büchern, die sie lesen.»
Auch meinem damals fünfjährigen Sohn half ein Buch in einer schwierigen Situation. Er war ziemlich nervös vor seiner ersten Übernachtung im Kindergarten. Eine ganze Nacht mit seinen Freunden und ohne seine Eltern: Das war aufregend und beängstigend zugleich. Ein paar Tage vorher setzten wir uns zusammen aufs Sofa, um ein Buch zu lesen, das mir unsere Erzieherin mitgegeben hatte. «Eine Dose Kussbonbons» (von Michael Gay) erzählt von einem kleinen Zebra, das ohne seine Eltern in ein Ferienlager fährt. Wie soll es ohne Gute-Nacht-Kuss einschlafen? Während wir die Geschichte lasen, konnte ich beinahe hören, was mein Sohn dachte: Er war also nicht allein mit seinen Befürchtungen. Und das kleine Zebra hatte die Situation auch durchgestanden.
Als ich meinen Jungen am Morgen nach der Kindergarten-Übernachtung abholte, war er stolz. Er hatte uns vermisst, aber er hatte sich dicht an seinen besten Freund hingelegt – und war eingeschlafen.
Generell ersetzt eine Bibliotherapie keine Psychotherapie bei einer schwerwiegenden Störung, aber sie kann unterstützend wirken.
«Selbst Kinder, die etwas Traumatisches erlebt haben – wie zum Beispiel eine Flucht – können mithilfe von Literatur eine Sprache für ihr Erleben finden, die ihre Eltern oftmals nicht haben», sagt Karin Schneuwly. Die Lesetherapeutin hat eine Zeit lang an einem Schulhaus mit Kindern aus verschiedensten Ländern gearbeitet und dort auch die Erfahrung gemacht: «Als es um Geschichten aus der jeweiligen Heimat ging, hörten die Kinder sich gegenseitig zu. Literatur fördert auch die Toleranz für Andersartigkeit.»
Das Lesen muss Vergnügen machen
Kinder und Jugendliche haben ein gutes Gespür dafür, welches Buch sie in welcher Situation brauchen könnten.
Mir ging es jedenfalls als 11-Jähriger so mit der Figur von «Gretchen Sackmeier». Sie hatte Modellcharakter für mich. Ich verfolgte wie Gretchen litt, wie sie sich aufrappelte und schliesslich mit sich und den schwierigen Umständen zurechtkam. Sie half mir damit. Ich tat es ihr gleich.
In gewisser Weise investierte ich mein Taschengeld in das erste Coaching meines Lebens. Habe ich der Buchhändlerin jemals gesagt, wie gut ihre Wahl mir getan hatte? Vermutlich nicht. Aber ich habe in ihrem Laden noch sehr viele Bücher gekauft.
Wichtige Bücher für junge Leser
Mein Kind
…ist ängstlich/tut sich mit Neuem schwer
Leon Lionni: «Swimmy». Beltz & Gelberg 1963, 32 Seiten, ca. 24 Fr., ab 5 Jahren.
Der kleine schwarze Fisch Swimmy entdeckt das weite Meer. Als er einem Schwarm ängstlicher roter Fische begegnet, zeigt er ihnen, wie man zusammen mutig ist.
John Green: «Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken». Hanser 2017, 288 Seiten, ca. 30 Fr., ab 14 Jahren.
Aza leidet unter einer Angststörung. Trotzdem will die 16-Jährige ihre beste Freundin unterstützen, wächst über sich hinaus und sucht mit ihr nach einem verschwundenen Milliardär.
…hat keine Freunde/findet schwer Anschluss
Anne Holt: «Zwei kunterbunte Freundinnen. Das Chaos wohnt nebenan». Oetinger 2013, 128 Seiten, ca. 19 Fr., ab 6 Jahren.
Maibritt ist schrecklich schüchtern, ihre Nachbarin Märzbritt frech, abenteuerlustig und laut. Trotzdem werden die beiden Freundinnen.
Raquel J. Palacio: «Wunder». Hanser 2013, 381 Seiten, ca. 29 Fr., ab 12 Jahren.
August ist seit seiner Geburt so oft am Gesicht operiert worden, dass er erst in der fünften Klasse eine Schule besucht. Erst fällt er wegen seines Aussehens auf und muss furchtbare Hänseleien ertragen, dann erkennen die Kinder seinen Mut und seinen Witz.
…möchte nicht in die Schule
Axel Scheffler/Agnès Bertron: «Frau Hoppes erster Schultag». Beltz & Gelberg 2019, 32 Seiten, ca. 12 Fr., ab 5 Jahren.
Henriette Hoppe, die neue Lehrerin, ist vor ihrem ersten Schultag so nervös, dass sie sich am liebsten verstecken würde! Prompt verschläft sie, vergisst, ihr Nachthemd auszuziehen und hat furchtbares Herzklopfen Es wird trotzdem ein wunderbarer erster Schultag.
Anna Gavalda: «35 Kilo Hoffnung». TB bei Ars Edition 2007, 85 Seiten, ca. 9 Fr., ab 12 Jahren.
Der 13-jährige David ist nicht gerade ein Musterschüler. Zwei Mal ist er schon sitzen geblieben und keine Schule der Gegend möchte ihn mehr aufnehmen. Nur sein Opa Léon weiss, dass David viel mehr kann, als er glaubt – wenn er nur will.
…erlebt eine Trennung/Änderungen im Familienalltag
Finn-Ole Heinrich: «Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich». Hanser 2019, 176 Seiten, ca. 13 Fr., ab 10 Jahren.
Maulinas Welt ist aus den Fugen geraten: Sie muss die Trennung ihrer Eltern verdauen, einen Umzug schlucken und sich an einer neuen Schule zurechtfinden. Das ist nicht leicht, und Maulina ist wütend! Eine besondere Heldin – trotzig und voller Fantasie.
Alexandra Maxeiner/Anke Kuhl: «Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten». Klett Kinderbuch 2013, 32 Seiten, ca. 27 Fr., ab 5 Jahren.
In diesem Bilderbuch finden sich alle Formen des Familienlebens. Ein heiterer Zugang zur Neuordung des Alltags.
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