30. März 2016
Lesen und lesen lassen
Text: Martina Proprenter
Lesedauer: 4 Minuten
Musik hören, fernsehen und Bücher lesen. Das sind die liebsten Medientätigkeiten von Kindern im Primarschulalter. Tatsächlich hat das Buch keineswegs an Bedeutung verloren. Zumindest für die Kinder, deren Eltern auch lesen.
Die konzentrierte Stille in der Basler Bücherbande weicht einem ohrenbetäubenden Gejohle, als Leiterin Karin Minssen den nächsten Programmpunkt ankündigt: Leseviertelstunde. Sie hat das Wort kaum zu Ende gesprochen, schon rennen die Kinder zu ihr und reissen ihr die Bücher aus der Hand. Sie suchen sich einen ruhigen Platz und fangen an zu schmökern. Livia bricht in Gedanken mit den «Fünf Freunden» zu einer Fahrradtour durchs Katzenmoor auf, David löst gemeinsam mit dem «Tiger Team» Rätsel, und Deja sitzt mit «Ferdinand, der Stier» auf einer Wiese und schnuppert an Blumen.
Leseratten entwickeln sich in der Grundschulzeit
Sind die lesebegeisterten 8- und 9-Jährigen eine Ausnahme? Mitnichten. Die MIKE-Studie hat herausgefunden, dass rund 70 Prozent der 6- bis 13-Jährigen mindestens einmal in der Woche in einem Buch lesen. Freiwillig und in ihrer Freizeit, Schulbücher sind davon ausgenommen. Die Forscher der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) veröffentlichten mit der MIKE-Studie im September vergangenen Jahres die erste repräsentative Studie zur Mediennutzung der 6- bis 12-Jährigen in der Schweiz. Rund 1000 Kinder und 600 Eltern wurden dazu befragt. Trotz digitaler Konkurrenz liegt das Lesen an dritter Stelle der liebsten Medientätigkeiten der Kinder, hinter Musikhören und Fernsehen, aber noch vor Gamen und sogar Handy-Nutzen. 37 Prozent der Kinder lesen in ihrer Freizeit durchschnittlich eine halbe Stunde pro Tag in einem Buch, heisst es im Detailbericht der Studie, 90 Prozent lesen mindestens ab und zu ein Buch in ihrer Freizeit. Damit lesen die Schweizer Kinder deutlich mehr als die deutschen Nachbarn, wo die Mediennutzung schon seit den 90ern regelmässig erhoben wird. Warum ist es überhaupt wichtig, dass Kinder nicht nur in der Schule, sondern auch in ihrer Freizeit lesen? Bereits mit 18 Monaten verfügt das Gehirn über die Fähigkeit, innere Bilder zu erzeugen.
Bilder im Kopf zu erzeugen, fördert die Kreativität. Wer liest oder vorgelesen bekommt, ist daher klar im Vorteil.
Wenn Kinder den Geschichten, Gedichten oder Liedern der Eltern lauschen, passiert das automatisch. Werden Kinder aber durch Filme oder Spiele mit fertigen Bildern zugeschüttet, kann sich die Kreativität nicht vollständig entwickeln. «Zugang zu eigenen Bildern zu bekommen, ist Trainingssache», sagt Karin Minssen. Die Buchhändlerin und Theaterpädagogin leitet die Bücherbande der Bibliothek Basel- West. Spielerisch lernen Kinder bei ihr eigene Geschichten zu entwickeln, imaginieren eigene Welten und bringen diese auch zu Papier. Bei ihr suchen Eltern oft Rat, wenn der Nachwuchs kein Interesse an Büchern zeigt. Minssen: «Meine erste Frage ist dann immer: Lesen Sie selbst?» Denn Eltern seien ihren Kindern die besten Vorbilder und nähmen grossen Einfluss auf die Leselust oder eben auch Leseunlust ihrer Kinder. Die deutsche repräsentative Studie zur «Neuvermessung der Vorleselandschaft » stellte 2013 fest, dass sich zwar 83 Prozent der Eltern für ihre Kinder eine gute Bildung wünschen, aber nur drei Viertel Lesekompetenz und nur die Hälfte der Eltern Lesefreude als wichtige Erziehungsziele ansehen. Die MIKE-Studie hat Eltern auch gefragt, wie oft sie ihren Kindern vorlesen. Rund ein Drittel der Befragten nutzen Bücher, Heftchen oder Comics täglich oder fast jeden Tag gemeinsam mit ihren Kindern, drei Viertel tun dies mindestens einmal pro Woche. Nicht allen Eltern scheint also der Zusammenhang zwischen Vorlesen, Lesekompetenz und der späteren Bildung sowie der Entwicklung der Kreativität bewusst zu sein.
Leseratten entwickeln sich in der Grundschulzeit
Die wichtigste Rolle bei der Leseförderung kommt den Eltern zu. Das ist auch die Erfahrung von Christine Tresch, Fachfrau für Kinder- und Jugendliteratur des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM). In den ersten Lebensjahren werden die Grundlagen für die spätere Entwicklung der Kinder gelegt: Wenn Eltern Reime und Verse vortragen oder Geschichten erzählen, haben Kinder nicht nur viel Spass daran, sondern lernen quasi nebenbei, wie Sätze grammatikalisch richtig aufgebaut sind, lernen neue Sprachformen und literarische Knif fe wie Spannungsbögen kennen. «Kinder können das später wieder abrufen», so Tresch. Haben Kinder die Erfahrung nicht machen können, ist es schwierig, dies später «nachzuholen ». Leseratten entwickeln sich in der Grundschulzeit, lautet das Fazit des Forschungsberichts des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung: Kinder, die viele Kinderbücher kennen, haben einen grösseren Wortschatz und lesen flüssiger. Im Umkehrschluss haben die Forscher aber auch herausgefunden, dass Kinder, denen das Lesen schwerfällt, es entsprechend lieber vermeiden, wodurch es ihnen immer mehr schwerfällt und sie es weiter vermeiden. Ein Teufelskreis. Barbara Schwarz, Leseanimatorin des SIKJM, legt bei ihrer Leseförderung von Vorschulkindern daher besonderen Wert auf eine Atmosphäre, in der es kein Richtig oder Falsch gibt. Durch Spiele oder Bastelarbeiten sollen die Kinder Techniken der Illustration ausprobieren und konkretes Weltwissen sammeln.
Teenies mit Sachbüchern ködern
Je älter die Kinder werden, umso weniger Einfluss haben die Eltern darauf, ob in der Freizeit gelesen wird. Besonders Teenager orientieren sich eher an Gleichaltrigen als an den Eltern. Diese können trotzdem auch Angebote machen: Spielt die Tochter Fussball, freut sie sich vielleicht über ein Fussballtechnikbuch, will der Sohn Rapper werden, könnte er sich für die Biografie eines Rappers interessieren. «Fünf Freunde», «Tiger Team» und «Ferdinand»: Die Bücherauswahl von Livia, David und Deja deckt sich mit Treschs Erfahrung, zu welchen Büchern Kinder besonders gerne greifen. Unter den Top 10 der beliebtesten Kinder- und Jugendbücher, die etwa die deutsche KIMStudie erfragt hat, sind übrigens alle Titel auch in anderen Medien zugänglich. Sie wurden beispielsweise schon verfilmt, es gibt Webseiten zu ihnen, Blogs oder Fanfiktion. «Das ist ein Phänomen, das die ältere Generation so nicht erfahren hat», sagt Tresch. Kinder läsen gerne das, was ihre Freunde lesen, oder eben auch Geschichten, die sie von anderen Medien her kennen.
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Tipps für Eltern
Den einen Tipp, der bei allen Kindern zum Erfolg führt, gibt es nicht. Christine Tresch vom SIKJM ermuntert Eltern:
- ihren Kindern Bücher zur Verfügung zu stellen, die ihnen Spass machen: ob eigene Bücher oder aus der Bibliothek.
- Kindern auch während der Schulzeit weiter vorzulesen und sie beim Lesenlernen zu unterstützen. Denn Lesen ist eine äusserst anspruchsvolle Tätigkeit, die nicht von jedem Kind gleich schnell erlernt wird.
- Kindern vorlzuesen und sie auch selbst lesen zu lassen: die Buchreihe «Erst ich ein Stück und dann du» ist zum Beispiel so aufgebaut, dass anspruchsvolle Textstellen (für Eltern) und leichtere (für Kinder) sich abwechseln. Dies sollte lustvoll und spielerisch geschehen, ohne Schule zu spielen.
Die beliebtesten Kinderbücher in der Schweiz (Stand Januar 2016)
- Gregs Tagebuch 10 – So ein Mist (Jeff Kinney)
- Heidi – Das Buch zum Film (Dorothee Haentjes- Holländer)
- Star Wars – Das Erwachen der Macht, illustrierte Enzyklopädie
- Schellen-Ursli (Alois Carigiet / Selina Chönz)
- Ostwind 3 – Aufbruch nach Ora (Lea Schmidbauer / Kristina Magdalena Henn)
- Bibi & Tina – Mädchen gegen Jungs (Bettina Börgerding / Wenka von Mikulicz)
- Das Zürich Wimmelbuch (Matthias Vatter)
- Schellen-Ursli – kleine Ausgabe (Alois Carigiet / Selina Chönz)
- Gregs Tagebuch 9 – Böse Falle! (Jeff Kinney)
- Geissbock Charly findet Heilkräuter – ein Duftbuch (Roger Rhyner)
Der Schweizer Buchhandel lässt die Hitparadenlisten von GfK Entertainment erstellen. Aufgenommen werden Bücher, die in einer gewissen Anzahl von Buchabverkaufsstätten und Händlern in der Schweiz verkauft wurden.