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Wenn Kinder dauernd streiten

Lesedauer: 5 Minuten

In manchen Familien gibt es sehr häufig Konflikte zwischen den Kindern. Wie sollen Eltern dabei eingreifen? Die folgenden Überlegungen könnten beim Finden eigener Antworten hilfreich sein.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Ein Zusammenleben oder eine Zusammenarbeit mit anderen Menschen ist ohne Konflikte nicht möglich. Das Einzige, was wir uns aussuchen können, ist, wie wir uns verhalten, wenn diese aufkommen.

Einige Menschen sind in Familien aufgewachsen, in denen alle Konflikte unter den Teppich gekehrt wurden, deshalb fehlt ihnen die Praxis, an ihnen zu arbeiten. Andere kommen aus Familien, in denen es ständig Kämpfe und Konflikte gab, die unglücklich machten, weil sie nie gelöst wurden. Diese Menschen sind als Eltern oft geneigt, Konflikte in ihrer Familie zu unterdrücken, weil diese für sie einen Unglücksfall darstellen.

Ein Konflikt entsteht, wenn zwei Menschen gegensätzliche oder manchmal bloss verschiedene Bedürfnisse oder Gelüste haben: Und weil nicht alle Menschen gleich sind, erleben wir jeden Tag Kon­flikte. Dazu stehen wir nicht selten auch im Konflikt mit uns selbst; ein Teil von uns will das eine und ein anderer Teil will etwas anderes.

Manchmal sind unsere Bedürfnisse so verschieden, dass wir uns gar nicht einigen können. Dann kann nur Trauer unsere innere Balance und somit die innere Ruhe wiederherstellen. Nicht zu bekommen, was wir uns am meisten wünschen, stellt gewissermassen eine traurige Niederlage dar. Es kann sich dabei um ein nicht besonders wichtiges Bedürfnis handeln, wobei die Trauer nur als kleine Enttäuschung wahrgenommen wird, oder das Bedürfnis kann so lebensnotwendig sein, dass die Trauer sich überwältigend anfühlt.

Als Kinder hatten viele von uns nicht die Möglichkeit, Trauer zu verarbeiten. Die Erwachsenen unterbrachen uns mit ihrem «Jetzt musst du aber lieb (umgänglich, vernünftig, gross) sein!», «Hör auf, dich so anzustellen!» oder «Lass mich mit diesem Unsinn zufrieden!».

Kinder wurden mit einer Konfliktbereitschaft geboren, aber ohne die Sprache als wichtigstes Verhandlungswerkzeug.

Wir mussten unseren Kummer herunterschlucken und in der Frustration verbleiben. Wir ordneten uns unter, und nach sieben bis acht Jahren Training konnten wir eine vernünftige, liebe, umgängliche oder erwachsene Maske tragen und unsere Eltern konnten sich dafür beglückwünschen, dass wir so harmonisch (und nicht lästig) geworden waren.

Kinder wurden mit einer Konfliktbereitschaft geboren, aber ohne die Sprache als wichtigstes Verhandlungswerkzeug. Wie in der frühkindlichen Entwicklung die Ausbildung der Grobmotorik am Anfang und die Ausbildung der Feinmotorik am Ende kommt, beginnen Kinder ebenfalls damit, Frustrationen und Konflikte sozusagen mit Armen und Beinen auszudrücken.

Kinder ahmen die Eltern nach

Wenn es um die Verarbeitung von Konflikten mithilfe von Sprache geht, lernen Kinder fast ausschliesslich anhand von Beispielen, das heisst von ihren Eltern, die sie nachahmen. Die Kinder lernen von der Vorgehensweise, mit der wir die Dinge angehen. Wenn die Kinder fünf, sechs Jahre alt geworden sind, handeln sie, wie wir handeln, und weil niemand von uns perfekt ist, sind die Kinder es auch nicht.

Selbst wenn kleinere Kinder oft von Armen und Beinen Gebrauch machen, wenn sie sich in einem Konflikt befinden, können die meisten von uns etwas von der Selbstverständlichkeit lernen, mit der sie ihre Bedürfnisse ausdrücken.

Vielen Ehen und Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen würde es bedeutend besser bekommen, wenn alle Parteien die grundlegenden ­Sätze in der persönlichen Sprache verwenden würden: «Ich will», «Ich will nicht», «Ich kann es leiden», «Ich kann es nicht leiden», «Ich will haben», «Ich will nicht haben».

Gleichzeitig haben Kinder in diesem Alter sich die Fähigkeit bewahrt, die richtige Tonlage zu den Worten hinzuzufügen. Sie rufen, wenn sie frustriert sind, weinen, wenn sie traurig sind, schimpfen, wenn sie zornig sind. Viele Erwachsene haben diese wertvolle Eigenschaft verloren – zum grossen Nachteil für ihre Le­bensqualität.

Kinder sind der Spiegel, in dem wir uns selbst am deutlichsten sehen.

Die Kinder können von unserem Beispiel lernen. Wie gehen Vater und Mutter vor, wenn sie sich in einem Konflikt miteinander befinden? Wie handeln sie, wenn sie sich im Konflikt mit uns befinden? Sie können von uns lernen, wie man die Sprache zum Bearbeiten von Konflikten benützt.

Sei Vermittler, nicht Richter

Und die Kinder sind wie immer der Spiegel, in dem wir uns selbst am deutlichsten sehen, sie sind eine Inspirationsquelle, um unsere eigene Funktionsweise zu beobachten und zu verbessern. Als Erwachsene können wir Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lehren. Wir können ihnen beibringen, nicht bei Rot über die Strasse zu gehen. Aber was die wirklich wichtigen Dinge im Leben betrifft, sind es oft die Kinder, die uns am meisten beibringen können, obwohl sie dazu «verurteilt» sind, uns nachzuahmen.

Es ist relativ einfach, Anweisungen dafür zu geben, wie man in einen Konflikt eingreift. Man sollte persönlich und wohlüberlegt vorgehen, und man sollte es unterlassen, zu kritisieren oder Partei zu ergreifen.

Überlege dir zuerst, warum du in den Konflikt der Kinder eingreifen willst. Ist es, weil du Konflikte hasst und einen Mangel an Konflikten mit Harmonie und Glück verwechselst? Dann warte einen Augenblick! Oder ist es, weil der Konflikt zu destruktiv, zu verbissen ist? Warte dennoch etwas und sage dann: «Aufhören!», «Stopp!» und rufe es gerne innig aus.

Keine halbherzigen Bemerkungen im Stil von: «Wollt ihr jetzt nicht einmal aufhören. Ich kann das bald nicht mehr aushalten» (jammernd); «Ihr seid auch ganz unmöglich – alle beide. Könnt ihr nicht hören, was man euch sagt?» (anklagend). «Nein, jetzt musst du also Rücksicht darauf nehmen, dass er trotz alledem der Kleine ist!» (kritisierend). «Was stimmt denn nicht mit euch und warum könnt ihr nicht ruhig und in Frieden miteinander spielen?» (machtlos). Wenn der Konflikt gestoppt ist, kann man den Kindern dabei behilflich sein, die richtigen Worte zu finden, die hinter «Scheisskerl», «Idiot» und so weiter stecken.

Die Ursache für ein anhaltend hohes Konfliktniveau findet sich selten bei den Kindern.

Beginne damit, beiden Parteien folgende Frage zu stellen: «Was ist es, das du gerne haben möchtest?» Höre die Antworten sorgfältig an und werte diese nicht. Überprüfe, ob die Kinder jeweils die Antwort des anderen gehört haben, und bitte sie eventuell darum, das Ergebnis der Antworten gegenseitig zu wiederholen.

Bitte den Initiator, zu untersuchen, ob das, was er bekommen möchte, möglich ist. Falls es nicht möglich ist, bitte ihn, seine Reaktion darauf auszudrücken. Dasselbe gilt, falls es möglich ist, das zu bekommen, was er möchte.

Nicht zu sehr einmischen

Vermeide es, den Kindern für ihre Mithilfe zu danken. Beachte stets, dass der Erwachsene lediglich Vermittler und nicht Richter ist. Nach diesem Vorgang ist die Aufgabe des Erwachsenen zu Ende.

In manchen Familien gibt es sehr häufige Konflikte zwischen Kindern; es scheint, als ob selbst der kleinste Zwischenfall einen Anlass zum Streit liefert. Dann zahlt es sich aus, die Familie zusammenzurufen und ein gründliches Gespräch darüber zu führen, was in der Familie vor sich hin schwelt.

Die Ursache für ein anhaltend hohes Konfliktniveau findet sich selten bei den Kindern. Als Eltern sind wir oft von einem unbändigen Drang besessen, uns nützlich zu machen, um zu erziehen. Oft geschieht all die Aktivität mehr unseretwegen als der Kinder wegen.

Falls du es nicht ertragen kannst, wenn die Kinder Konflikte haben, versuche, die Szenerie zu verlassen. Schliess die Tür, geh in einen anderen Raum, geh spazieren! In vielen Fällen lernen die Kinder schneller und besser, je weniger wir uns einmischen.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

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