«Es ist manchmal richtig schwer, ein Kind zu sein»
Viele Konflikte zwischen Eltern und Kindern entstehen rund ums Lernen. Das erlebt auch Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Dierssen so. Er rät Eltern, die eigene Rolle in Bezug auf die Schule erst einmal klar zu definieren.
Herr Dierssen, mit welchen Problemen kommen Eltern mit ihrem Kind zu Ihnen in die Praxis?
Das sind vor allem die schulbezogenen Schwierigkeiten. Das typische Kind, das zu mir kommt, ist acht Jahre alt und ein Junge. Das ist meist Ende der zweiten, Anfang der dritten Klasse. Dann, wenn in der Schule die Anforderungen steigen.
Warum gerade Jungen?
Natürlich tun sich auch viele Mädchen schwer mit dem Lernen. Jungen haben meiner Erfahrung nach aber grössere Probleme mit der sozialen Anpassung. Gerade im Bereich Unaufmerksamkeit ist es oft so, dass wir die Mädchen viel zu leicht übersehen. Die Jungs scheinen schneller an ihre emotionalen Belastungsgrenzen zu geraten und rebellieren gegen das Schulsystem, welches vielleicht nicht immer passgenau ist.
Also bekommen die Eltern Druck vonseiten der Schule.
Richtig. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, ist aber meist die Lernsituation zu Hause. Dann, wenn das Kind seine Hausaufgaben an die Wand pfeffert und es nur noch Streit und Konflikte gibt, suchen die Eltern Hilfe.
Viele Eltern denken, ihr Kind könnte ja, wenn es nur wollte. Meist ist es umgekehrt.
Wie gehen Sie dann vor?
Meine grundsätzliche Haltung ist: Es gibt immer eine Ursache. Viele Eltern kommen mit der Einstellung, dass ihr Kind ja könnte, aber nicht will. Das ist ein naheliegender, aber auch unglaublich wütend machender Gedanke, der Hilflosigkeit auslöst. Eltern reagieren darauf oft mit strafenden oder abwertenden Impulsen: «Du könntest so viel erreichen, du bist nur stinkfaul!» Doch meist ist der Zusammenhang ein anderer. Nicht: Das Kind kann, will aber nicht – sondern: Das Kind will, kann aber nicht.
Wie finden Sie das heraus?
In der Diagnostik haben wir Algorithmen, an denen wir uns entlangtesten: Ist das Kind überfordert? Dem könnte eine kognitive Überforderung zugrunde liegen; das heisst, das Kind ist nicht so intelligent wie der Durchschnitt. Der Grund für die Schwierigkeiten kann aber auch ein anderer sein, angefangen bei einer Weitsichtigkeit, bei Hörproblemen, allgemeinen Gedächtnisschwierigkeiten, Schwierigkeiten beim Wortschatz und so weiter.
Das sind erst einmal Dinge, die sich im gesunden Leistungsprofil als Varianten der Norm zeigen. Infrage kommen aber auch die spezifischen Lernstörungen wie ADHS/ADS (Konzentrationsstörung), Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche) und Dyskalkulie (Rechenschwäche).
Wie viele Kinder in einer Klasse sind von einer Lernstörung betroffen?
Man geht davon aus, dass in Deutschland etwa 5 Prozent der Kinder ein ADHS, 5 Prozent eine Dyskalkulie und 5 Prozent eine Legasthenie haben. Wobei es in der Summe nicht 15 Prozent sind. Es gibt auch Kinder, die doppelt betroffen sind. In der Schweiz dürften die Zahlen ähnlich sein.
Erkennen das die Lehrpersonen?
Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die sehr gut ausgebildet sind und auch in der Schule hervorragendes Testmaterial haben. Aber wenn man ein Kind in der Klasse hat, das als Reaktion auf seine Überforderung in die Verweigerungshaltung geht und rebellisch einfach nicht mitmachen möchte, ist es auch für diese Lehrkraft schwierig.
Wie können Eltern ihr Kind zu Hause unterstützen beziehungsweise mit ihm üben?
Hier ist es ganz wichtig zu differenzieren: Bei einem Kind, das sich am unteren Rand des Normbereiches befindet und nur ein wenig Unterstützung beispielsweise in Mathe oder der Rechtschreibung braucht, kann häusliches Üben fruchten. Bei einem Kind mit einer ausgewachsenen Lernstörung wie Legasthenie ist es eher kontraproduktiv.
Warum das?
Wenn ich mit meinem Kind jeden Tag lerne und es macht immer wieder die gleichen Fehler, ist das für beide Seiten unglaublich anstrengend. Ich nehme dem Kind die Möglichkeit, in dieser Zeit etwas zu tun, das ihm ein gutes Gefühl gibt. Es wird durch dieses Üben nicht besser, sondern frustrierter. Das eigentliche Legasthenie-Training hat eine andere Herangehensweise, verwendet andere Methoden als in der Schule und damit auch zu Hause.
Bei Legasthenie gehört elterliches Üben nicht zu den Schutzfaktoren, elterliche emotionale Fürsorge und Zuversicht dagegen schon; der Glaube, dass das Kind sein Bestes gibt und es einmal ein erfolgreicher, weil glücklicher Erwachsener wird.
Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit viel mit gestörten Eltern-Kind-Beziehungen. In Ihrem Buch «Kinder lieben, auch wenn’s schwierig wird» beschreiben Sie Situationen, die von Machtkämpfen und Ablehnung geprägt sind. Das dürfte auch Eltern von Kindern ohne spezifische Lernstörung im Umfeld von Schule und Lernen bekannt vorkommen.
Das erlebe ich so, ja. Konflikte rund ums Lernen zu Hause entstehen dann, wenn die Eltern das Gefühl haben, dass es nicht gut läuft, sie aber nichts dagegen tun können. Als Folge entsteht meist ein Gefühl der Hilflosigkeit. Hilflosigkeit haben wir als Kind alle erlebt, die wenigsten der heutigen Elterngeneration haben jedoch sinnvolle Strategien im Umgang damit erlernt.
Wir überwinden Hilflosigkeit in der Regel durch Kompetenz. Wenn das Problem damit aber nicht zu lösen ist, wissen wir nicht mehr weiter. Die wenigsten von uns Erwachsenen haben in ihrer eigenen Kindheit einfühlsame Begleitung erfahren, um schwierige Situationen auszuhalten, zu benennen und sich damit zu trösten, dass auch wieder bessere Zeiten kommen.
Es ist ja gar nicht nötig, dass Eltern alle Probleme selbst schultern und lösen müssen.
Mit der Konsequenz, dass viele Eltern mit dieser Hilflosigkeit schlecht umgehen können.
Sie greifen deshalb schnell zu dysfunktionalen Verhaltensweisen wie Strafen, abwertenden Bemerkungen und so weiter. Sätze wie «Wenn ich früher so wenig für die Schule gemacht hätte, wäre aus mir sicher nichts geworden» rutschen einem raus, wenn man hilflos ist. Damit wird man aber Teil des Problems, sprich des Konflikts.
Ich kann durchaus verstehen, wenn ein Vater sich Sorgen macht, weil seine 14-jährige Tochter den ganzen Nachmittag auf Tiktok rumhängt, anstatt für die anstehende Englischarbeit zu lernen. Er denkt sich: Da läuft was in die falsche Richtung, mein Kind soll doch gut ausgebildet sein.
Und dann kommt es zum Streit, weil digitale Medien viel zu verlockend sind, um das Gerät wegen der Englischwörter wegzulegen. Wie könnte der Vater mit dieser Situation besser umgehen?
Er könnte sich fragen: Welche Bedürfnisse hat mein Kind und welches Bedürfnis wiegt gerade schwerer? Das Bedürfnis nach Autonomie, nach Spass und Leichtigkeit, also nach Gaming beziehungsweise Chatten – oder ist es das Bedürfnis nach Bildung und Fürsorge? Er muss sein Kind auch vor Tiktok schützen, das ist eines der Bedürfnisse, die er abdecken muss. Gleichzeitig hat der Vater selbst eigene Bedürfnisse: zum Beispiel seine Hilflosigkeit aufzulösen, sich zurückzuziehen und sich zu entlasten. Das alles unter einen Hut zu bringen, wird ohne Reibung und Verluste nicht gehen. Irgendwo wird es krachen.
Und dann?
Dann sollte er seinen Protest äussern: «Mit deinem Verhalten fühle ich mich nicht wohl, ich bin in einer schwierigen Situation. Ich bin kurz davor, dir das Gerät wegzunehmen und eine andere Lösung zu erdenken, bin mir aber nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.» Aber der Vater muss mit seinen Sorgen auch nicht allein bleiben. Es ist ja gar nicht nötig, dass Eltern alle Probleme selbst schultern und lösen müssen.
Man kann sich als Elternteil den eigenen Eltern, Geschwistern, dem Lehrer des Kindes oder auch dem Sporttrainer anvertrauen: «Ich mache mir Sorgen, bitte schaut mit auf mein Kind.» Wenn ich das Gefühl habe, ich muss das Problem hier und jetzt allein lösen, werde ich mein Kind eher nicht angemessen behandeln. Ich werde stattdessen zu Verhaltensweisen greifen, die es mir ermöglichen, für diesen Augenblick die Hilflosigkeit aufzubrechen.
Nehmen wir an, der Vater hat es geschafft, in einer guten Art und Weise seine Bedenken zu äussern. Aber damit ist ja immer noch nicht garantiert, dass die Tochter nun lernt. Muss ich das als Vater beziehungsweise Mutter irgendwann akzeptieren und hinnehmen?
Da sind wir an dem Punkt, an dem man sich die Frage stellen sollte: Warum ist es denn so anstrengend für mein Kind? Warum will es nicht? Was sind die Ursachen? Einfach aufgeben, ohne zu wissen, ob ein Problem vorliegt, kann nicht die Lösung sein. Eine 14-Jährige, die noch vor einem Jahr gut war in der Schule, hat wahrscheinlich keine Legasthenie, aber vielleicht eine depressive Phase, über die sie nicht spricht. Vielleicht hat sie Stress, Schlafstörungen, Angst vor der Zukunft oder das Gefühl: «Es bringt alles sowieso nichts.»
Eltern sollten auf ihr Bauchgefühl hören und mit dem Kind sprechen: «Ich habe das Gefühl, es geht dir nicht gut. Ich will keine Grabenkämpfe um das Handy führen. Wir können das hier und jetzt miteinander klären. Wenn das nicht geht, können wir uns von aussen Hilfe holen. Ich werde dich auf keinen Fall damit allein lassen.» Es geht nicht um die Note, sondern um die Ursache, warum sich mein Kind verändert hat.
Die Kinder auf die Nase fallen zu lassen, davon halte ich nicht viel.
Eltern sind oft unsicher, wie weit sie in schulische Dinge eingreifen sollen; ob sie bei den Hausaufgaben helfen, mit den Kindern für Tests lernen sollten – oder ob sie sie das besser selbständig machen lassen.
Das ist meiner Meinung nach eine Frage des Rollenverständnisses: Wie sieht meine Rolle in diesem Schulkontext aus? Ist das meine Aufgabe oder nicht? Das sollte man erst einmal für sich klären und gegebenenfalls mit der Lehrerin besprechen. Wenn dann von der Schule der Auftrag kommt, beispielsweise mit dem Zweitklässler zu Hause das Einmaleins oder Lesen zu üben, würde ich das dem Kind auch so kommunizieren: «Das ist meine Aufgabe als Elternteil, das mit dir zu üben.» Die Kinder «auf die Nase fallen zu lassen», davon halte ich nicht viel. Die Verantwortung für den schulischen Werdegang liegt lange Zeit bei den Eltern, die kann man nicht einfach so abschütteln.
Angenommen, die Lehrerin bittet mich, mit meinem achtjährigen Sohn regelmässig zu Hause Lesen zu üben. Der sagt mir aber jedes Mal: «Keine Lust!»
Dann würde ich ihm sagen: «Oh, jetzt komme ich in eine schwierige Situation, ich kann meine Aufgabe nicht erfüllen und die geht mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf. Dann werde ich immer so nervig, das mag ich selbst nicht.» Wenn für Sie klar ist, dass Üben mit Ihrem Kind Ihre Aufgabe ist und Sie die Bedürfnisse Ihres Kindes verletzen, wenn Sie das nicht machen, würde ich das aushalten und dranbleiben.
Es kann ja sein, dass Ihr Kind in diesen Momenten zwei unterschiedliche Bedürfnisse hat: das Bedürfnis nach Hilfe und nach Autonomie. Und das Bedürfnis nach Autonomie ist nur um eine Nasenlänge stärker und wird deshalb maximal erfüllt, während das andere komplett auf der Strecke bleibt. Wichtig ist dabei aber, dass Sie bei sich und Ihrem Gefühl bleiben. Also «Ich möchte mit dir üben, das ist mir wichtig» anstatt «Du musst jetzt!».
Pandemie, Krieg in Europa, Klimakrise: Seit einigen Jahren nehmen die Krisen zu und damit auch die Sorge vieler Eltern um die Zukunft ihrer Kinder. Was den Druck zusätzlich erhöht.
Das ist absolut nachvollziehbar. Die Aussage, dass sich Eltern heute zu viele Sorgen um ihre Kinder machen, halte ich deshalb für leicht dahergesagt. Das erlebe ich nicht so. Die Sorge vieler Eltern ist nicht unbegründet. Trotzdem möchte ich nochmals betonen, dass es für Kinder extrem wichtig ist, welche Zukunftsbilder ihre Eltern haben. Angenommen, ich habe das Bild im Kopf: Die KI wird den Grossteil der heutigen Berufe überflüssig machen und deswegen muss mein Kind gut in Mathe sein, um später Informatik studieren zu können. Vielleicht wird das tatsächlich passieren. Dieses Zukunftsbild wird mir aber nicht helfen, im Hier und Jetzt angemessen auf mein Kind zu reagieren – die Angst wird mich eher irrational werden lassen.
Wie gehe ich mit diesen Ängsten um?
Es ist wichtig, an diese machtvollen Bilder heranzukommen, sprich sie mir bewusst zu machen und sie in Relation zur Realität zu setzen und die Angst, die sich hieraus ergibt, zu beruhigen. Auch wenn sich die Zeiten geändert haben: Intelligenz setzt sich bei gesunden Kindern in der Regel durch. Wenn es bestimmte Lernschwierigkeiten gibt, ist es wichtig, diese herauszufinden und die Lernbedingungen anzupassen. Es ist ganz wichtig, diese positiven Zukunftsbilder im Kopf zu behalten. Einmal für mein eigenes Verhalten dem Kind gegenüber und weil ich ihm so signalisiere: Ich glaube an dich und an deine Zukunft.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder, deren Eltern gerne lernen und Neues ausprobieren, das selbst auch tun.
Was wünschen sich denn die Kinder?
Vertrauen und Zutrauen: «Meine Eltern glauben fest daran, dass ich es schaffen werde. Und wenn es mal nicht so gut läuft, dann geraten sie auch nicht unter Druck.» Die vielen Mühen, die die Kinder haben, anzuerkennen, ist oft der Schlüssel. Es ist wichtig, dass endlich auch jemand sieht und benennt, wie schwer es manchmal sein kann, ein Kind oder Jugendlicher zu sein. Das ist wichtig, damit die Kinder eine Sprache dafür finden, dass sie sich verausgabt haben, überfordert, müde sind.
Eltern wollen in der Regel das Beste für ihr Kind und für viele gehört eine möglichst gute Schulbildung dazu. Was macht das mit einem Kind, wenn es unbedingt aufs Gymnasium soll, obwohl es aufgrund seines Leistungsprofils nicht dort hingehört?
Viel. Wir sehen bei uns in der Praxis Kinder, die sich für ihre Eltern oder auch für den Freundeskreis am Gymnasium abarbeiten. Das sind Kinder, die Schule nicht anders kennen, als dass man versucht, Schritt zu halten. Die Schule zu wechseln, beschämt die Kinder. Hier sind die Eltern in der Verantwortung. Wir sagen ihnen dann: «Damit Ihr Kind gesund bleibt, müssen wir sehen, dass es genug Zeit hat für Hobbys, fürs Basteln, Malen und auch mal fürs Nichtstun, für all das, was Ihr Kind gerne machen möchte.»
Oliver Dierssen: Kinder lieben, auch wenn’s schwierig wird. Emotionale Verletzung überwinden, Vertrauen und Bindung stärken. Goldmann 2022, 352 S., ca. 20 Fr.
Woher weiss ich denn, wann es wirklich um mein Kind geht und wann um mich und meine Zukunftssorgen?
Wenn Eltern merken, dass viele Konflikte entstehen, weil sie aus Schuldgefühlen oder Ängsten heraus handeln, sollten sie sich das ehrlich eingestehen. Es ist ja ein Unterschied, ob ich mit Angst auf meinem Bürojob sitze und denke: Die Zeiten werden immer härter, mein Kind muss jetzt Klavier, Schach und Programmieren lernen und möglichst aufs Gymnasium gehen. Oder ob ich selbst vorlebe, dass Lernen, Entwicklung und Wachstum zum Leben dazugehören.
Also Vorbild sein.
Ja. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder, deren Eltern gerne lernen und Neues ausprobieren, das selbst auch tun. Aber es muss natürlich etwas sein, das einem entspricht. Nur die Klavierstunden buchen, damit das Kind es einem nachmacht, funktioniert nicht. Und wenn ich aus meiner Not heraus anfange, an den Hausaufgaben meines Kindes herumzuschrauben, muss ich mir das bewusst machen können: Moment, es geht hier um mein Angstthema und das versuche ich heute Nachmittag mit den Französischwörtern meines Kindes zu klären.
Und wenn die Angst und Unsicherheit beim Kind liegt? Es immer wieder ein «Ich kann das nicht» äussert?
Dann würde ich meinem Kind sagen: «Es ist auch schwer und zum Glück haben wir heute noch genug Zeit, uns das in Ruhe anzuschauen oder Dinge zu tun, die du gut kannst: Skateboardfahren, Klettern, Fussballspielen.» Es ist wichtig, die Kinder vor dieser Überforderung und diesem Ausbrennen zu schützen. Und auch da hilft einem die eigene Zuversicht.