Gymi: «Die soziale Herkunft zählt oft mehr als Intelligenz»
Merken
Drucken

Gymi: «Die soziale Herkunft zählt oft mehr als Intelligenz»

Lesedauer: 4 Minuten

Intelligenzforscherin Elsbeth Stern über den Einfluss der Gene, IQ-Tests und warum an Schweizer Gymnasien nicht die intelligentesten 20 Prozent jeder Altersgruppe anzutreffen sind.

Interview: Virginia Nolan
Bild:  Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo

Frau Stern, was verstehen Sie unter Intelligenz?

Die Fähigkeit zum präzisen und schlussfol­gernden Denken. Intelligenz befähigt uns zum Verständnis komplexer Ideen und zum Problemlösen, zum Lernen durch Instruktion und zum Lernen aus Erfahrung. Sie ist eine stabile Eigenschaft, die wir uns in der Regel von der Jugend bis ins Alter bewahren.

Psychologin Elsbeth Stern (1957) ist ordentliche Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Vorsteherin des Instituts für Verhaltensforschung an der ETH Zürich.
Elsbeth Stern (1957) ist ordentliche Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Vorsteherin des Instituts für Verhaltensforschung an der ETH Zürich.ƒ

Wie stark bestimmen Gene unsere Intelligenz?

Sie spielen eine grosse Rolle. Es gibt nicht das Intelligenzgen per se, vielmehr bestimmt ein ganzes Orchester von Genvariationen unsere geistigen Fähigkei­ten. Alle Menschen bringen solche Gene mit, praktisch jeder kann schlussfolgernd denken – wie gut, hängt von den Genvaria­tionen ab. Wir gehen davon aus, dass Intelligenzunterschiede zu 50 bis 80 Prozent erblich bedingt sind. Diese Aussage wird allerdings oft falsch verstanden.

Inwiefern?

Erzielt ein Kind im IQ­-Test 100 Punkte, würde eine Erblichkeit von 50 Prozent dann heissen, dass es die Hälfte dieser Punkte seinen Genen zu verdanken hat? Eben nicht. Das Missverständnis entsteht, wenn wir diesen Erblichkeitskoeffizienten auf ein Individuum anwenden.

Was sagt er stattdessen aus?

Nicht die Intelligenz eines Individuums ist zu 50 bis 80 Prozent erblich bedingt, es sind Intelligenzunterschiede innerhalb einer Gruppe, welche in diesem Ausmass auf Genvariationen zurückgehen – diese haben dort den höchsten Einfluss, wo viele Menschen von gleich guten Entwicklungs­möglichkeiten profitieren.

Intelligenz ist keine Inselbegabung. Sie dient uns auch im sozialen Umgang.

So ist es auch mit der Körpergrösse: Bei Erwachsenen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, gehen Grössenunterschiede zu fast 100 Prozent auf Genvariationen zurück, weil diese Personen in der Wachstumsphase genügend zu essen hatten. In Entwicklungsländern ist der erbliche Faktor da erheblich kleiner, weil manche Menschen im Kindes­ und Jugendalter nicht ausreichend ernährt wurden.

Die Gene legen also unser Intelligenz­potenzial fest. Welche Rolle spielt die Umwelt?

Sie muss stimmen, damit besagtes Potenzial zum Tragen kommt. Dafür braucht es Eltern, die dem Kind emotional zugetan sind, auf seine Interessen eingehen und ihm von Anfang an viel sprachliche Zuwendung geben. Dabei sollten Eltern selbst eine korrekte Sprache pflegen, darauf sind Kinder angewiesen.

Wie stark lässt sich Intelligenz durch Disziplin kompensieren?

Durch Motivation, Ausdauer und Disziplin, aber auch Selbstvertrauen und Sozialkom­petenz können wir in Schule und Beruf vieles erreichen. Insgesamt sind diese Faktoren aber nicht so wirkungsmächtig wie die Intelligenz.

Auf die allein es für ein glückliches Leben nicht ankommt?

Richtig. Intelligenz betrifft unser geistiges Potenzial und ist damit einer von vielen Bausteinen, die menschliche Kompetenz auszeichnen. Mich stört allerdings, wenn Intelligenz als eine Art Inselbegabung dargestellt wird, die, wie man gerne betont, «im Sozialen» überhaupt keine Rolle spiele. Dass Intelligenz und Sozialkompetenz zwei völlig voneinander unabhängige Eigenschaf­ten seien, ist falsch. Intelligenz setzt geistige Flexibilität voraus, die dient uns auch im Umgang miteinander.

Die traditionelle Auffassung von Intelligenz hat auch Kritiker. Diese bezweifeln, dass sich unser geistiges Vermögen allein durch IQ-Tests erfassen lässt.

IQ-Tests sind nicht perfekt. Sie erfassen ausschliesslich unsere kognitiven Fähigkeiten, dies aber ziemlich gut. So gesehen ist die kognitive Intelligenz dasjenige Persönlichkeitsmerkmal, das sich mit Abstand am zuverlässigsten messen lässt. Es gibt viele andere wichtige Fähigkeiten wie Emotionskontrolle oder eben Sozialkompetenz. Bloss: Wie messen Sie die?

Wären die intelligentesten Kinder im Gymnasium müsste ihr Mindest-IQ bei 112 liegen. Etwa ein Drittel bringt diesen IQ aber nicht mit.

So würden wir einen Menschen, der mit Leuten rasch ins Gespräch kommt, als sozialkompetent bezeichnen. Wäre dieser Mensch aber auch der Richtige, um jemandem in Trauer beizustehen? Wie definieren wir nun sozialkompetent? Aber ich weiss schon: Bücher, in denen die Bedeutung der kognitiven Intelligenz relativiert oder bestritten wird, finden grossen Absatz.

Warum?

Intelligenzmessung klingt für viele Menschen bedrohlich. Vielleicht, weil sie denken, sie verfügten selbst nicht über genügend Intelligenz, möglicherweise unterstellen sie den besonders Intelligenten auch Anspruch auf Herrschaft. Daher ist es wenig überraschend, dass Werke wie die des US-Psychologen Howard Gardner so viel Zuspruch erhalten. Gardner geht in seiner Theorie der Multiplen Intelligenz von acht verschiedenen Intelligenzen aus, dazu gehören die Fähigkeit, Wetterphänomene zu deuten, oder die Gabe, die eigenen Gefühle einzuordnen – sprich, da ist für jeden etwas dabei. Demgegenüber werden die kognitiven Fähigkeiten zur Nebensache.

Sie sagen, IQ-Tests könnten – zusätzlich zur Prüfung – auch beim Übertritt ans Gymnasium hilfreich sein.

Ja, in Einzelfällen, aber nicht flächendeckend. Ich denke dabei vor allem an Kinder, die das kognitive Potenzial fürs Gymnasium mitbringen, bei der Aufnahmeprüfung aber Schwierigkeiten hätten, weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.

Zu viele ungeeignete Leute besuchen die Universität, drücken dort das Niveau oder scheitern.

Ihre Forschung legt nahe, dass es in der Schweiz eine nicht unbedeutende Anzahl von Kindern gibt, die über das kognitive Rüstzeug fürs Gymnasium verfügen, dort aber nicht anzutreffen sind.

In der Tat. Die in der Schweiz geltende Maturaquote gibt vor, dass nicht mehr als 20 Prozent aller Kinder aufs Gymnasium sollen – sinnvollerweise wären das die intelligentesten 20 Prozent jeder Altersgruppe. Orientieren wir uns an ihnen, müsste der Mindest-IQ fürs Gymnasium bei 112 Punkten liegen. Unsere Untersuchungen zeigen jedoch, dass bis zu 45 Prozent der Schweizer Gymnasiasten diesen IQ nicht mitbringen.

Warum ist das problematisch?

Weil zu viele ungeeignete Leute die Universität besuchen, dort das Niveau drücken oder scheitern. Oder sie kommen mit Ach und Krach durch und später in berufliche Positionen, denen sie intellektuell nicht gewachsen sind. Leider spielt die soziale Herkunft beim Übertritt ins Gymnasium eine immer grössere Rolle. Gut situierte Familien finanzieren teure Prüfungsvorbereitungskurse und später die Nachhilfe. Es gibt aber auch in sozial schwächeren Familien intelligente Kinder – die stehen allein da. Das ist einer der Gründe, weshalb wir auch die Diskussion um Begabtenförderung etwas differenzierter führen sollten.

Wie meinen Sie das?

Es besteht die Tendenz, dass wir dabei vor allem die zwei Prozent der Hochbegabten im Auge haben. Wir täten jedoch gut daran, den Blick auch auf die erheblich grössere Gruppe der deutlich überdurchschnittlich intelligenten Kinder zu richten, sie machen 15 bis 20 Prozent der Schülerschaft aus. Bemühungen, Potenzial zu fördern, sollten schwergewichtig auch ihnen gelten.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

Alle Artikel von Virginia Nolan

Mehr zum Thema Hochbegabung

Arno ist hochsensibel. (Symbolbild)
Entwicklung
«Inzwischen wissen wir, wie wir Arno unterstützen können»
Der sechsjährige Arno ist hochsensibel. Lange Zeit waren seine Eltern ratlos, weil sie sich sein Verhalten nicht erklären konnten.
Ski-Wochenende in Sörenberg
Advertorial
Ein Ski-Wochenende in Sörenberg
Das Wintersportgebiet Sörenberg trumpft mit herzlicher Gastfreundschaft, Wahnsinnpanorama und attraktiven Preisen!
Schon im Kindergarten lesen und schreiben können
Kindergarten
Wenn das Kindergartenkind schon lesen und schreiben kann
Jedes dritte Kind kann schon vor Schulbeginn kleine Briefchen kritzeln, Zahlen erkennen und Buchstaben lesen. Sollen Eltern das fördern?
Erziehungsmythen Elsbeth Stern
Entwicklung
«Die Schule steckt Kinder zu früh in Schubladen»
Lehr- und Lernforscherin Elsbeth Stern weiss, wem Kinder ihr geistiges Potenzial verdanken und was sie brauchen, um es auszuschöpfen.
Video
Hochbegabte in der Schule: Werdet Lernexperten!
Woran merkt man eigentlich, dass ein Kind hochbegabt ist – wie lässt sich das abklären? Und warum haben hochbegabte Kinder und Jugendliche oft Probleme in der Schule?
Schule
«Auch Hochbegabte müssen lernen, mit Misserfolg umzugehen»
Was brauchen Hochbegabte, um schulisch erfolgreich und zufrieden zu sein? Drei Fragen an Dominik Gyseler, Erziehungswissenschaftler und Experte für Hochbegabte
Familienleben
Zwillinge getrennt auf verschiedenen Schulstufen
Wie es für eine Familie ist, wenn ein Zwillingspaar aus einem Kindergärtner und einem Schüler besteht. Ein Vater berichtet.
Hochbegabung: Kinder auf der Überholspur
Familienleben
Hochbegabung: Kinder auf der Überholspur
Sie lernen schnell und kombinieren messerscharf: Hochbegabte sind Gleichaltrigen in ihren kognitiven Fähigkeiten weit voraus.
Hochbegabung: Zwei betroffene Kinder erzählen aus ihrem Alltag
Familienleben
Zwei hochbegabte Kinder erzählen aus ihrem Alltag
Juri und Ella sind beide hochbegabt. Wie gehen die beiden mit ihrer intellektuellen Hochbegabung um?
Hochbegabung Mythen
Gesundheit
Helle Köpfe, dunkle Aussichten? Drei Mythen über Hochbegabung
Hochbegabte haben es schwer und man sollte sie bald abklären lassen. Über angebliche Verhaltensweisen Hochbegabter existieren zahlreiche Mythen. Wir klären auf.
Coverfilm August 2018 Dossier Hochbegabung
Blog
Hochbegabung und Fortnite: Unsere Themen im August
Fragen Sie sich, ob Ihr Kind hochbegabt ist? Dann sollten Sie das Dossier «Hochbegabung” in unserer August-Ausgabe lesen. Mehr von unserem Chefredaktor.
Hochbegabte Kinder fördern
Gesellschaft
Hochbegabt – na und?
Im Atelier Plus in Arth-Goldau SZ werden hochbegabte Schüler unterrichtet. Sie sind intelligent, wissbegierig und kontaktfreudig – und ganz normale Kinder.
Hochbegabung: Die meisten Eltern fürchten sich vor der Diagnose
Gesellschaft
Hochbegabung: Eine Diagnose zum Fürchten?
Das Thema Hochbegabung ist in der Schweiz noch immer ein Tabu. Darunter leiden Eltern und Kinder, sagt Giselle Reimann.