«Heute sind wir erwachsen und nicht mehr das hilflose Kind»
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«Heute sind wir erwachsen und nicht mehr das hilflose Kind»

Lesedauer: 5 Minuten

Sie ist öfter konfliktbeladen oder zumindest kompliziert: die Beziehung erwachsener Kinder zur eigenen Mutter. Familientherapeutin Claudia Haarmann über Vorwürfe, deren Ursprung und was helfen kann, verhärtete Fronten aufzuweichen.

Interview: Virginia Nolan
Bild: Joël Hunn / 13 Photo

Frau Haarmann, bei vielen Menschen, die zu Ihnen in die Therapie kommen, liegt die Beziehung zur Mutter im Argen. Wo drückt der Schuh?

Da ist entweder zu viel oder zu wenig Nähe. Auf der einen Seite berichten erwachsene Kinder von kühlen, distanzierten Müttern, die keine Nähe zulassen, kaum je Wärme vermitteln konnten. Auf der anderen Seite höre ich das Gegenteil: dass die Nähe eng wird, weil Mütter immerzu anrufen, ihren Kindern nah und über alles im Bild sein wollen. Das ist ein zunehmendes Phänomen.

Claudia Haarmann ist Buchautorin und Therapeutin mit eigener Praxis in Essen (D). Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. Sie berät Eltern und erwachsene Töchter und Söhne, die von familiärem Kontakt­abbruch betroffen sind. (Bild: Thekla Ehling)

Wie lautet Ihre Erklärung dafür?

Nun ja, Nähe ist schön. Sich umarmen, verbunden fühlen – das ist in der Erziehung erst seit 30, 40 Jahren eine Option. Die Elterngeneration der Nachkriegszeit hat ihre Gefühle heruntergeschluckt. Es galt tüchtig zu sein und anzupacken. Ihre Kinder sind jetzt zwischen 50 und 80 Jahre alt, sie haben früh gelernt, zu funktionieren.

Viele haben sich geschworen, es als Eltern anders zu machen. Nun sind da diese Mütter mit ihrem unerfüllten Wunsch nach Nähe. Es ist wichtig, zu verstehen, wie es zu diesem Bedürfnis kommt – aber genauso, dass es nicht Aufgabe der nächsten Generation ist, einen Mangel zu kompensieren, den die Mutter in sich trägt. Uns kann auch niemand abnehmen, womit wir im Leben hadern.

Haben erwachsene Kinder Mühe mit ihren Gefühlen, werden diese Mängel an die Mutter adressiert. Sie war ja fürs Emotionale da.

Allerdings nimmt die Mutter da häufig den Platz der Schuldigen ein.

Zumindest ist bei meinen Klientinnen das Thema mit der Mutter meist sofort auf dem Tisch. Sie berichten zwar auch von Vätern, die ungerecht, strafend oder lieblos waren. Aber der Stachel sitzt da, wo die Mutter ins Spiel kommt.

Warum?

In ihr hat unser Leben seinen Anfang genommen, und für die meisten war sie die primäre Bezugsperson. Mit ihr lernten wir, uns auf eine andere Person zu beziehen und mit dieser zu kommunizieren, also das Muster, wie wir auf Menschen zugehen und wie vertrauensvoll oder unsicher wir uns dabei fühlen. Die Mutter ist, hiess es früher gemeinhin, fürs Emotionale da. Wenn es später genau da hapert, werden Mängel an sie adressiert.

Es heisst auch: Jede Mutter will das Beste für ihr Kind.

Das würde ich unterschreiben. Abgesehen von wenigen Ausnahmen will jede Mutter ihrem Kind das Beste geben. Doch etwas hindert sie daran. Ich bin überzeugt, dass die Fähigkeit einer Mutter, präsent und liebevoll zu sein, sich aus ihrem eigenen Rucksack speist. Wie viel Halt und Liebe hat sie als Kind bekommen? Was steht ihr an Ressourcen zur Verfügung, wenn sie schwanger ist und später ihr Kind in den Armen hält?

Wenn erwachsene Kinder den Kontakt abbrechen, ist dies Ausdruck höchster Verzweiflung.

Kann sie ihm ein sicherer Hafen sein, eine beständige, innige Beziehung aufbauen – oder absorbieren Sorge, Trauer, nicht aufgearbeiteter Schrecken ihre Energie? Dann werden ihre eigenen Themen im Vordergrund stehen. Hier hat, nun bei der nächsten Generation, das Gefühl von Mangel seinen Ursprung – und die häufig nicht enden wollenden Konflikte zwischen erwachsenen Kindern und ihrer Mutter. Dabei wird die Schuldfrage hin und her geschoben.

Inwiefern?

Während erwachsene Kinder von seelischem Missbrauch oder Einsamkeit berichten, höre ich von deren Müttern immer dasselbe – dass man es doch gut miteinander hatte und sie das Beste wollten. Vor mir sitzen verzweifelte ältere Frauen, die ihre Situation nicht verstehen wollen, es auch nicht können, weil sie kaum Zugang zu sich und ihren Gefühlen haben. Derweil fordern die Kinder, dass die Mutter ihre Verfehlungen eingesteht. Das Problem: So gelingt eine Annäherung nicht.

Warum nicht?

Die Mutter geht in den Verteidigungsmodus über. Mit der Anerkennung ihrer Unzulänglichkeit müsste sie sich selbst, ihr ganzes Beziehungs- und Familiensystem infrage stellen. Und sich eingestehen, dass das, was sie für ein leidliches Leben hielt, doch nicht so gelungen war. Wenn jemand seinen Kummer gut verschnürt hat, ist es zudem schwer, dieses Paket wieder zu öffnen.

Wie gelingt eine Aussprache eher?

Mit Fragen, die das Leben der Mutter miteinbeziehen: Wie waren ihre Umstände, als ich auf die Welt kam? Was hat sie von ihren Eltern über die Liebe gelernt? Etwas eint alle Mütter, die mit ihren Kindern querliegen: Sie hatten schon zur eigenen Mutter eine schwierige Beziehung. Doch das befreit sie nicht von der Verantwortung, die sie als erwachsene Person für die Atmosphäre, die Beziehungsqualität innerhalb der Familie hat – die tragen nicht die Kinder.

Man kommt als Mutter also nicht umhin, sich selbst zu reflektieren, was die Ursachen, die Hintergründe des Zerwürfnisses sein könnten. Denn man muss schon sehen: Wenn erwachsene Kinder den Kontakt abbrechen, ist dies Ausdruck höchster Verzweiflung.

Wie soll die Mutter also auf das Kind zugehen?

Mit einer anderen Haltung: «Sag mir, was hat dir gefehlt, was hast du mit mir erlebt? Ich höre dir jetzt zu.» Sie setzt voraus, dass die Mutter ernst nimmt, was die Tochter oder der Sohn sagt, dass sie deren Wahrnehmung nicht zurückweist und bereit ist, zu äussern, worauf viele Kinder ein Leben lang warten: «Es tut mir leid.» Das braucht Mut.

Einmal sagte eine Mutter, sie werde dann tagelang weinen müssen. Ich sagte: «Das ist es ja, was fehlt: den eigenen Schmerz und den der Tochter fühlen. Und Worte finden dafür.» Wobei ich bei der jüngeren Generation zuversichtlich bin: Sie spricht aus, worüber früher geschwiegen wurde.

Das Prädikat toxisch wird inflationär gebraucht, Selbstfürsorge mit radikalem Ego-Fokus verwechselt.

Und hat andere Ansprüche an Mütter.

Früher wäre es undenkbar gewesen, Mutter und Vater infrage zu stellen. Das hat sich zum Glück geändert. Wir wissen mehr über die Entwicklung und die Bedürfnisse von Kindern, über die Gesundheit der Psyche und die Bedeutung von Beziehungen. Früher, als die materielle Versorgung des Kindes im Mittelpunkt stand und nicht sein emotionales Wohl, war der Umgang von Müttern mit ihren Kindern unkomplizierter, mit allen Folgen. Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus.

Nämlich?

Mütter verfügen heute über die Bereitschaft, jede Fehlentwicklung auf sich zu nehmen. Ohrfeigt ihr Kind ein anderes, fragt sie sich, was sie falsch gemacht hat. Ist das Kind zu dick oder zu dünn, liegt es an ihrer mangelhaften emotionalen oder kulinarischen Versorgung. Ich denke, das ist die Kehrseite der Entwicklung, über die wir vorhin gesprochen haben. Sie führt zu einer Überpsychologisierung, die unrealistische Erwartungen schürt.

So orientiert sich unsere Vorstellung von guter Elternschaft am Ideal aus der entwicklungspsychologischen Literatur – an nichts Geringerem messen wir Scheitern und Gelingen der Mütter. Die Überpsychologisierung birgt auch eine weitere Gefahr: dass Beziehungen allgemein mit Erwartungen überfrachtet werden.

Wir hegen eine Idee von Mutterschaft, die Mutter und Kind nie aus ihrer Rolle entlässt.

Will heissen?

Seien es toxische Mütter, toxische Partner oder toxische Freundinnen: Dieses Prädikat wird inflationär gebraucht, Selbstfürsorge mit radikalem Ego-Fokus verwechselt. Wer mir nicht guttut, was immer das heisst, wird aussortiert. Als Folge davon nehmen auch Kontaktabbrüche in Familien drastisch zu. Sicher gibt es Fälle, die extreme Massnahmen rechtfertigen. Aber wir müssen lernen, Verantwortung für unser Leben zu übernehmen.

Heute sind wir erwachsen und nicht mehr das hilflose Kind. Wir haben früher etwas vermisst, weil die Mutter nicht in der Lage war, es uns zu geben. Niemand ist perfekt. Das würden wir für alle anderen so gelten lassen, warum nicht für sie? Hier spielt die in unserer Kultur gängige Rollendefinition von Mutterschaft mit hinein. Sie rechtfertigt Erwartungen, die nie ein Ende finden.

Das müssen Sie erklären.

Wir hegen eine Idee von Mutterschaft, die Mutter und Kind nie aus ihrer Rolle entlässt. Indigene Völker Amerikas zum Beispiel haben eine andere Haltung: Du bist Mutter, solange dein Kind dich zum Grosswerden braucht. Ist es erwachsen, bist du aus deiner Zuständigkeit entlassen, erlöschen damit verbundene Ansprüche. Muttersein und Kindsein haben ein Ende, zwei Erwachsene begegnen sich auf neuer Ebene.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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