Wie der Störenfried den Unterricht rettet

Musikpädagogin Sibylle Dubs hat für schwierige Situationen im Unterricht Strategien erarbeitet, um angemessen zu reagieren. Doch manchmal gelingt ihr dies nicht. Zum Glück ist dann auf ihre Schülerinnen und Schüler Verlass.
Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied
Seit Jahren sammle ich gute Formulierungen, die ich in meine Unterrichtssprache einbaue. Wenn ich bei einer Kollegin eine Auftragserteilung höre, die es auf den Punkt bringt, nehme ich die Wortwahl in mein Repertoire auf.
Eine solche Trouvaille verwende ich zum Beispiel beim Verteilen von Material. Ich frage die Kinder: «Wenn ich euch die Kiste mit den Shakern zur Selbstbedienung hinstelle, stürzt ihr euch dann wie die Löwen drauf? Soll ich in diesem Fall die Instrumente lieber verteilen?». Je nach Gruppe ist die Antwort ein grinsendes: «Geben Sie uns die Shaker besser einzeln» oder ein selbstbewusstes: «Wir können uns friedlich einen nehmen». So oder so bleibt die Stimmung gut und der Unterricht im Fluss, da sich die Kinder bei der Frage wahrgenommen fühlen und daraufhin Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.
An einer Weiterbildung im Schulhaus kam ein neuer Satz dazu. Der Tag war dem Thema «Traumatisierte Kinder» gewidmet. Verweigern, Ausbrüche oder Konflikte unter den Kindern gehören zum pädagogischen Alltag in der Primarschule und natürlich auch im Musikunterricht. Die Ursachen, warum sich ein Kind auffällig verhält, sind vielfältig und uns nicht immer bekannt. Je überforderter wir in so eine Situation sind, desto mehr Energie kostet sie.
Die Ausführungen der Referentin an diesem Tag waren wertvoll. Es war eine Trauma-Pädagogin, die nicht nur Theoriewissen, sondern auch Beispiele aus ihrer Arbeit präsentierte, die nahe an unserer war. In einem der Berichte aus der Praxis der Trauma-Pädagogin warf ein Kind demonstrativ alle seine Sachen vom Pult. Die Expertin wählte folgende Worte: «Ich weiss nicht, warum du das gemacht hast, aber ich wäre froh, wenn du jetzt weiter an deinem Blatt arbeitest».
Wir sitzen im selben Boot
Diese Reaktionsweise hat nicht nur mir, sondern einigen aus dem Team gefallen und ohne vorgängige Absprache haben wir den Satz im Unterricht angewendet. Als wir das Wochen später merkten und uns bei einem Mittagessen die Episoden erzählten, gab es einen schönen Moment der Entspannung. Denn wir spürten, wie wir im selben Boot sitzen und manchmal damit hadern, wenn wir in schwierigen Momenten nicht zielführend reagieren.
Doch mit dem Erzählen von verschiedenen «Ich weiss nicht, warum du das gemacht hast, aber ich wäre froh, wenn …» -Geschichten, konnten wir die ganze Thematik mit Wertschätzung gegenüber den Kindern und einer Prise Humor auf den Punkt bringen, ohne dass gleich eine Fallbesprechung nötig wurde. Man hat sich im Team einfach verstanden und das gab mir an dem Tag Kraft für die Weiterarbeit.
Eines Morgens gelang mir der Satz nicht. Es war ein grauer Novembertag, der nach einem magischen Moment im Unterricht rief. Ich hatte noch elektrische Rechaud-Kerzen vom Vorjahr und legte diese in eine Trommel. Weisse und blaue Tücher umrandeten und bedeckten die Überraschung stimmungsvoll.
Ich freute mich auf die strahlenden Gesichter, wenn ein Kind gleich die Kerzen enthüllen durfte und ich das Lied «Hambani Kahle – das Licht erleuchtet die Nacht» anstimmen würde. Die Kinder kamen herein und setzten sich gespannt um die Installation. Ich liess feierlich per Knopfdruck die Läden runter, das Geheimnis wurde gelüftet und ich setzte zum Ukulelen-Spiel an.
Die Kinder erschraken über meine Reaktion. Es herrschte absolute Stille.
Die Kurve gekriegt
Und dann krachte es hinten beim Fenstersims. Ich dachte spontan an Reto* als Verursacher, denn der Junge schaffte kaum eine Lektion ohne massive Störung. Aber Reto sass neben mir. Es war Miguel, der in der Stifteschachtel kramte und dabei etwas runterwarf. Wieso merkte er nicht, wie er mit dem Gelärme die Stimmung störte? Und überhaupt, warum sass er nicht wie alle anderen im Kreis um die Kerzen, die um ihr letztes bisschen Batterie flatterten? Ich wurde laut. «Ich kann nicht verstehen, warum du das machst!», hörte ich mich keifen. Die Kinder erschraken über meine Reaktion. Es herrschte absolute Stille.
«Ähm, ich kann verstehen, warum er das macht», meldete sich Reto und sah mich mit erklärendem Blick an, als wollte er mir die Lösung einer Rechenaufgabe sagen. Ab diesem Satz musste Matti, der Klassenprimus und auch Freund von Reto, loslachen. Aus tiefstem Herzen. Und ich und die ganze Gruppe lachten mit.
Denn wie im Teamzimmer, haben wir auch hier die Situation dank treffender Worte verstanden: derjenige, der sonst der Chef im Stören war, hat sein Expertenwissen zum Thema und darüber hinaus seine Solidarität zu einem anderen Kind bekundet. Reto hat es geschafft, dass wir die Kurve kriegten und niemand mehr ausgeschlossen war. Wir formierten uns nochmals neu um die Lichter und sangen gemeinsam: «Hambani Kahle, das Licht erleuchtet die Nacht.»
Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.
Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.
Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.
*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.