«Kinder wissen in der Regel, womit sie zu kämpfen haben»
Wenn Kinder nicht das gewünschte Verhalten an den Tag legen, wird schnell von einem «Problem» gesprochen. Dabei ist es laut dem finnischen Psychiater Ben Furman hilfreicher, eine Fähigkeit zu definieren, die es für das Kind zu lernen gilt.
Herr Furman, Sie sind der Erfinder von «Muksuoppi», auf Deutsch «Ich schaffs» – einer Erziehungsmethode, die zu einem regelrechten Bildungshit wurde. Erzählen Sie uns, worum es da geht.
Der Kerngedanke von Muksuoppi oder dem sogenannten Fähigkeitsdenken basiert auf der Idee, dass man sich nicht auf die Schwierigkeit konzentriert, die das Kind hat, sondern auf die Fähigkeit, die es erlernen muss, um die Schwierigkeit zu überwinden. In der Praxis geht es erst mal darum, das Wort «Problem» durch das Wort «Fähigkeit» zu ersetzen.
Das klingt ein wenig banal.
Ich weiss, wir denken: «Wir tauschen ja bloss ein Wort aus!», aber dadurch entsteht eine angenehmere Art, über die Situation zu sprechen. Wenn Eltern oder Lehrpersonen sich Sorgen über das Verhalten eines Kindes machen, verwenden sie oft eine problemorientierte Sprache mit negativ besetzten Wörtern – das Kind habe eine «schlechte Impulskontrolle» oder «störe».
Solche Problembeschreibungen sagen nicht viel über die tatsächlichen Schwierigkeiten des Kindes aus. Wenn man aber benennen kann, was das Gegenteil des Problems ist, lässt sich einfacher definieren, welche Fähigkeiten das Kind erlernen könnte. Und das verändert etwas Grundlegendes.
Was genau verändert sich?
Als ich die Methode vor über zwanzig Jahren zusammen mit den Sonderpädagoginnen Sirpa Birn und Tuija Terävä in einem Kindergarten für verhaltensauffällige Kinder entwickelte, bekam jedes Kind anstelle eines «Problems» oder einer Diagnose eine eigene «Fähigkeit», die es erlernen wollte und die es zudem auch selbst benannt hatte.
Es macht Kinder stolz, wenn sie an ihren Fähigkeiten arbeiten können.
Jedes Kind hatte also ein eigenes Poster an der Wand, auf dem geschrieben stand, an welcher «Fähigkeit» das Kind diese Woche arbeitet. Das Interessante war: Die Kinder waren ein bisschen stolz darauf. Sie erlebten ihre Situation plötzlich nicht mehr als Störung, sondern als Aufgabe. Zudem stellten sie fest: Alle Kinder haben ja eine «Fähigkeit», die sie erlernen müssen, ich bin nicht allein, ich bin nicht anders.
Ich verstehe das noch nicht ganz. Sagen wir, die Diagnose ist ADHS, steht dann auf dem Poster: «Fähigkeit: ADHS»? Oder wenn ein Kind andere Kinder mobbt, dann steht da: «Fähigkeit: Mobbing»? Wie soll man darauf stolz sein?
Nein, nein, es geht nicht darum, die Diagnose als Potenzial umzudeuten, die Schwierigkeiten sind ja real. Es geht darum, eine Fähigkeit zu erkennen, die die Kinder erlernen können, um mit ihrer Situation vielleicht ein bisschen besser klarzukommen.
Bleiben wir beim Beispiel ADHS. Nehmen wir an, mein Kind hat die Diagnose bekommen und ich möchte es im Sinne des Fähigkeitsdenkens unterstützen.
Dann würde ich empfehlen, diese Diagnose erst einmal beiseitezulegen und sich auf die ganz konkreten Schwierigkeiten zu konzentrieren, mit denen das Kind konfrontiert ist. Man nimmt beispielsweise ein Blatt Papier und schreibt alle Dinge auf, mit denen das Kind Mühe hat. Danach schaut man bei jedem einzelnen Punkt, was die Fähigkeit wäre, die das Kind erlernen könnte, um besser damit klarzukommen.
Anders gesagt: Helfen Sie dem Kind mit einer ADHS-Diagnose genau so, wie Sie ihm helfen würden, wenn es keine solche Diagnose erhalten hätte. Sprechen Sie mit ihm darüber, welche Fähigkeiten es besser beherrschen will, um sich das Leben leichter zu machen. Kinder mit einer ADHS-Diagnose haben aber in der Regel mehrere Herausforderungen – es lohnt sich also, eher mit einer leichteren Aufgabe zu beginnen, einer Fähigkeit, bei der das Kind motiviert ist und bei der es am ehesten Fortschritte macht.
Das Fähigkeitsdenken umfasst 15 Schritte. Lassen Sie uns die wichtigsten durchgehen.
Es beginnt alles damit, dass Sie mit dem Kind zuerst über die Fähigkeiten sprechen, die es bereits erlernt hat. Denn die Einsicht, dass es ja schon einiges kann, erfüllt das Kind mit Stolz und schenkt ihm das Selbstvertrauen, sich vielleicht auch auf neue Dinge einzulassen. Dann geht es im nächsten Schritt darum, herauszufinden, welche Fähigkeit das Kind erlernen möchte, welches «Problem» es also gern lösen will. Es ist wichtig, dass das Kind dabei nicht unsere Vorgabe übernimmt, sondern sein Ziel selbst erkennt und benennt.
Können Kinder das?
Wenn Eltern das Verhalten ihres Kindes nicht passt, stellen sie dem Kind oft Warum-Fragen – «Warum hast du dem Kind das Spielzeug weggenommen?» oder «Warum isst du dein Essen nicht auf?», «Warum gibst du mir so freche Antworten?». Kinder wissen aber nicht, warum sie das tun, und sie erleben die Warum-Fragen auch nicht als echte Fragen, sondern eher als eine Form der Zurechtweisung, auf die sie trotzig oder mit Ausreden reagieren.
Was sollte man stattdessen machen?
Eltern oder Lehrpersonen könnten zum Beispiel fragen: «Was findest du, was du lernen solltest?» Wenn man Kinder fragt und ihnen wirklich zuhört, erfährt man in der Regel, dass ihnen klar ist, mit welchem Problem sie zu kämpfen haben. Wenn ein Kind andere Kinder schlägt oder nicht im eigenen Bett schlafen kann oder zu viel Zeit am Bildschirm verbringt, ist ihm das meistens durchaus bewusst, aber es schämt sich dafür und will ungern damit konfrontiert werden.
Kindern ist es für gewöhnlich unangenehm, über problematische Verhaltensweisen zu sprechen. Es ist wahrscheinlicher, dass das Kind mitmacht, wenn Sie mit ihm über Dinge sprechen, die es bereits erlernt hat, und über neue Fähigkeiten, von denen es profitieren könnte, anstatt seine Probleme und Schwierigkeiten zu thematisieren. Kinder sind da nicht anders als Erwachsene.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Nehmen wir einen Klassiker: Wutanfälle. Normalerweise ist das eine Phase, aus der Kinder rauswachsen. Aber bei manchen Kindern dauert diese Entwicklung so lange, dass die Eltern nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Das ist ein Problem. Und die Kinder leiden selbst darunter, sie haben diese Anfälle ja nicht aus Spass, sie können nicht anders, und sie schämen sich dafür.
Eltern hilft es manchmal, die Sache so zu betrachten, dass ihr Kind das nicht aus Böswilligkeit tut, sondern weil ihm eine Fähigkeit fehlt. Die Fähigkeit, die das Kind erlernen müsste, um das zu vermeiden, wäre vielleicht «Selbstbeherrschung».
Ein etwas abstrakter Begriff für ein Kind.
Richtig. Kinder verstehen das nicht, auch Formulierungen wie «besseres Selbstvertrauen» oder «mehr Einfühlungsvermögen» sind vage Konzepte. Deshalb sollten wir versuchen, mit dem Kind darüber zu reden, was es ganz konkret tun könnte, wenn es wütend wird, damit es leichter wieder runterkommen und einem Wutanfall aus dem Weg gehen kann.
Verbünden Sie sich mit dem Kind, indem auch Sie eine Fähigkeit erlernen.
Wir könnten das Kind zum Beispiel fragen: «Was könntest du in Situationen tun, in denen du wütend wirst? Was würde dir helfen, dich ein bisschen zu beruhigen?» Die Herausforderung liegt darin, eine Fähigkeit zu benennen, die das Kind erlernen möchte. Um etwas Neues zu erlernen, muss ein Kind das Gefühl haben, dass das Beherrschen dieser Fertigkeit gewisse Vorzüge mit sich bringt. Sprechen Sie also gemeinsam über den Nutzen – nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für andere wichtige Menschen im Leben des Kindes.
Was ist der nächste Schritt?
Wichtig ist, dass die «Fähigkeit» nicht das benennt, womit das Kind aufhören soll, sondern das, was es erlernen kann. Wenn ein Kind sich also häufig prügelt, sollte die «Fähigkeit» nicht heissen: «Ich werde aufhören, mich mit anderen Kindern zu prügeln», sondern vielleicht: «Wenn ich mit anderen Kindern aneinandergerate, will ich lernen, meine Hände in die Hosentaschen zu stecken und wegzugehen.» Ich habe in meinem Buch eine Art Abc von typischen Kinderproblemen aufgelistet, von A wie Albträumen über P wie Perfektionismus bis Z wie Zwangsstörungen. Dazu gibt es jeweils einen Vorschlag, wie man sich der dazugehörigen «Fähigkeit» annähern kann.
Was macht man, wenn Kinder die «Fähigkeit» einfach nicht erlernen?
Ich hatte mal mit einem achtjährigen Kind zu tun, das an den Fingernägeln kaute. Es konnte klar benennen, dass die «Fähigkeit» ja darin bestünde, die Fingernägel wachsen zu lassen. Als Psychiater weiss ich, dass Fingernägelkauen eine Angewohnheit ist, die man nicht einfach so ablegt. Also habe ich ihm vorgeschlagen, damit zu beginnen, erst mal nur den Nagel am linken Daumen wachsen zu lassen anstatt gleich alle zehn.
Wir versuchen also anspruchsvolle Fähigkeiten in kleinen Schritten anzugehen, die dem Kind machbar erscheinen und bei denen es schnelle Erfolgserlebnisse haben kann, die es wiederum dazu motivieren, weiterzumachen. Ein anderes Beispiel: Wenn ein Kind sich ständig mit anderen Kindern streitet, könnte für den Anfang eine kleine Aufgabe darin bestehen, dass es lernt, sich einfach zu anderen dazuzugesellen oder zu fragen: «Darf ich mitspielen?»
Und wenn das Kind keine Lust hat zu lernen? Wie kann ich es motivieren, weiterzumachen, auch wenn es keine Fortschritte beim Erlernen der Fähigkeit erzielt?
Wenn das Kind sich schwertut, etwas zu erlernen – sagen wir, im eigenen Bett zu schlafen –, kann man es zum Beispiel bitten, diese Fähigkeit in einem Rollenspiel zu üben. Im Sinne von: «Okay, du hast es noch nicht gelernt, das ist auch sehr schwer, aber kannst du uns vorspielen, wie es wäre, wenn du es könntest? Wie würdest du dich benehmen, wenn du es gelernt hättest?» Man kann das zum Beispiel filmen und dem Kind zeigen, damit es ein Bild von dem bekommt, was es anstrebt. Aber wir haben einen wichtigen Schritt vergessen: Verbünden Sie sich mit dem Kind, indem Sie ebenfalls eine Fähigkeit erlernen.
Was bedeutet das?
Es fällt Kindern leichter, eine neue Aufgabe in Angriff zu nehmen, wenn zum Beispiel die Eltern oder Bezugspersonen ebenfalls bereit sind, an sich zu arbeiten. Der Schuldirektor einer Primarschule in Finnland wollte dieses Fähigkeitsdenken in seiner Schule einführen. In einer kleinen Rede, die in alle Klassenzimmer übertragen wurde, informierte er über die Methode und sagte: «Ich möchte bei mir selbst beginnen, denn ich habe auch eine schlechte Angewohnheit, ich unterbreche oft Leute beim Sprechen. Ich will besser werden im Zuhören.»
Was geschah dann?
Er ging mit gutem Beispiel voran. Er zeigte den Schülerinnen und Schülern, dass nicht nur sie an sich arbeiten müssen, sondern auch er an sich. Aber da war noch mehr: In den nächsten Wochen bekam er mehrfach Rückmeldung von Kolleginnen und Schülern, dass er tatsächlich besser zuhören würde – und das hat ihn ungemein gefreut. Womit wir beim nächsten Punkt sind: Um Neues zu erlernen, brauchen wir die Unterstützung und Rückmeldung anderer Menschen. Das Kind kann zum Beispiel Helfer ernennen, die es an seine «Fähigkeit» erinnern und es feiern, wenn es selbst dran denkt und Fortschritte macht.
Erfolge feiern: Ist das ein weiterer Schritt in Ihrer Methode?
Ja, aber es geht nicht darum, Geschenke als Belohnung für das Erlernen einer Fähigkeit zu bekommen. Es handelt sich vielmehr um ein Fest oder ein Treffen, bei dem das Kind für seine Leistungen gewürdigt wird und sich bei den Helfern bedanken kann, die es auf seinem Weg begleitet haben. Kinder lieben es, Feste zu planen, und die Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis trägt wesentlich zur Lernmotivation bei.
Kinder sind oft motivierter, anderen etwas beizubringen, als selbst neue Dinge zu lernen.
Der letzte Schritt in Ihrer Fähigkeitstreppe lautet: Bieten Sie dem Kind an, anderen zu helfen. Was hat es damit auf sich?
Das beruht auf der Beobachtung, dass Kinder oft motivierter sind, anderen etwas beizubringen, als selbst neue Dinge zu lernen. Wenn Sie nun Ihrem Kind in Aussicht stellen, dass es wahrscheinlich einem anderen Kind beim Üben der gleichen Fertigkeit helfen kann, ist das vielleicht ein guter Anreiz, dass es sich die Fähigkeit auch selbst aneignet.
Das klingt alles nachvollziehbar. Was sind die Grenzen Ihrer Methode?
Das Fähigkeitsdenken ist kein Wundermittel für jedes Problem von Kindern. Mir fällt aber auf, dass den Kindern die Anwendung Spass macht. Sie lässt sich zudem sehr gut mit anderen Massnahmen und Konzepten kombinieren.
- Ben Furman: Hey, das kannst du! Wie Fähigkeitsdenken Kindern hilft, Herausforderungen zu meistern. Carl-Auer 2023, 191 Seiten, ca. 38 Fr.
- Ben Furman: Lösungsorientiert Schule machen. Wie Unterrichten wieder mit mehr Freude gelingt. Carl-Auer 2024, 107 Seiten, ca. 39 Fr.
Sie sind ursprünglich Psychiater. Wie sind Sie auf die Methode gekommen?
Ich bin in den 1970er-Jahren ausgebildet worden, zu einer Zeit, als das Studium sehr tiefenpsychologisch geprägt war. Mir hat das aber nie so richtig gefallen.
Was störte Sie an der Psychoanalyse?
Sie ist Fantasie. Und sehr langwierig. Ich begann dann, mich für das zu interessieren, was man systemische Therapie nennt. Sie unterscheidet sich vom freudianischen Ansatz im Kern darin, dass es um die Zukunft geht und nicht um die Vergangenheit, um das, was du noch vor dir hast, und nicht um das, was bereits hinter dir liegt. Viele fanden diesen lösungsorientierten Ansatz oberflächlich, pragmatisch, amerikanisch – aber wir hatten erstaunliche Erfolge mit der Methode.
Zum Schluss möchte ich Ihnen ein paar der ewigen Erziehungsfragen stellen. Erstens, was ist der richtige Umgang mit Bildschirmzeit?
Ich habe keine fertige Meinung dazu, wie viel Zeit Kinder an digitalen Geräten verbringen sollen. Aber es geht bei Ihrer Frage ja auch mehr darum, wie man Kinder dazu bringt, eine Aktivität zu beenden, die sie sehr fesselt, von der Sie aber denken, dass sie ungesund ist. Ich würde hierauf antworten: Es ist – meistens – einfacher, das Kind dazu zu motivieren, etwas anderes zu tun, als es zu überreden, mit etwas aufzuhören, was es sehr gerne tut. Das heisst, vielleicht wäre es klüger, wenn Sie nicht versuchen, die Zeit zu reduzieren, die das Kind vor dem Bildschirm verbringen darf, sondern die Zeitspanne zu vergrössern, die das Kind für anderes aufbringt.
Zuhören ist eine der ganz grossen menschlichen Fähigkeiten, die viele Probleme auflösen kann.
Zweitens, warum fällt es Kindern oft so schwer, zuzuhören?
Geht das nur Kindern so? Allen Menschen fällt es doch schwer, zuzuhören. Im Kontext unserer Methode würde ich sogar sagen, dass Zuhören eine der ganz grossen menschlichen Fähigkeiten ist, die viele Probleme auflösen kann. Ich muss an den finnischen Schuldirektor denken, von dem wir vorhin sprachen, der sich vornahm, besser zuzuhören. Das ist, besonders für erwachsene Männer, eine ziemlich tolle Fähigkeit.
Und drittens, woran erkenne ich, ob mein Kind glücklich ist?
Ich bin wie gesagt kein Freudianer, aber vielleicht ist es passend, das Gespräch mit einem Freud-Zitat zu beenden: «Der Mensch ist glücklich, wenn er arbeitet oder wenn er spielt.» Ich glaube, das ist ein guter Ansatz: Solange Ihr Kind spielt, ist es glücklich.