«Moderne Nomaden»: Familienalltag im Wohnmobil
Merken
Drucken

«Moderne Nomaden»: Familienalltag im Wohnmobil

Lesedauer: 4 Minuten

Autorin Debora Silfverberg reist mit ihrem Mann und den zwei Teenagertöchtern seit vier Jahren durch Europa. Warum viel Nähe nicht unbedingt weniger Freiheit bedeutet und was es dafür braucht.

Text + Bilder: Debora Silfverberg

Kurz vor der Corona-Pandemie haben mein Mann und ich unsere Jobs gekündigt, die Wohnung verkauft und mit unseren zwei Töchtern (damals zehn und zwölf Jahre alt) eine Reise durch Europa begonnen. In der neunteiligen Serie «Das Glück reist mit» schreibe ich über unsere Erlebnisse und den Alltag unterwegs im Wohnwagen.

Vier Jahre später spielt sich unser Familienleben noch immer grossteils unterwegs ab, mittlerweile in einem Wohnmobil Namens Daisy. Zu viert auf 15 Quadratmetern. Wie ist dies möglich, ohne dass wir uns die ganze Zeit die Köpfe einschlagen oder vor lauter Platzangst das Weite suchen wollen? Vielleicht liegt darin bereits eine Antwort. Wir suchen das Weite. Bloss tun wir dies gemeinsam. 

Herzlich willkommen bei der neuen Serie «Moderne Nomaden». Ich freue mich, Sie ein Stück weit in unser Leben als reisende Familie mitzunehmen.

Konflikte sofort lösen

Wir streiten uns nicht sehr oft. Auf jeden Fall reiben wir uns seltener aneinander als in unserem alten Leben. Sich auf die Nerven zu gehen, hat bei uns wenig mit räumlicher Nähe zu tun. Irritationen entstanden früher meist durch Zeitdruck oder unerfüllte Erwartungen.

Heute verpasst keiner einen Zug oder kommt zu spät, wenn er sich nicht beeilt am Morgen. Der Haushalt hält sich auf so kleinem Raum in Grenzen. Bei zwei Minuten wischen entsteht kein Streit darüber, wessen Aufgabe es gewesen wäre. Hausaufgaben gibt es schon lange nicht mehr.

Nichtsdestotrotz bedeutet ein gemeinsames Leben auf engem Raum, dass wir Konflikten nicht aus dem Weg gehen können. Unterschwellige Spannungen oder unausgesprochener Ärger fliegen schnell auf. Oder, wie meine ältere Tochter kürzlich sagte: «Wir haben keinen Platz für Elefanten im Raum.» 

Wir hatten noch nie so viel Raum wie jetzt, den eigenen Interessen nachzugehen.

Töchter wie Sonne und Mond

Ist das nicht anstrengend, so eng aufeinander, die ganze Zeit? Wie können Teenager in dieser Familie eine eigene Identität und Individualität entwickeln? Wir hatten noch nie so viel Raum wie jetzt, den eigenen Interessen nachzugehen. Unsere Töchter verbringen zwar sehr viel Zeit zusammen, trotzdem sind sie wie Sonne und Mond.

Sie hören ihre eigene Musik und haben ihren eigenen Kleidungsstil. Die eine steht immer früh auf und geht auch gerne alleine wandern, wenn keiner mit will. Die andere würde am liebsten jeden Tag ausschlafen und widmet sich bevorzugt einem spannenden Buch oder einer Häkelarbeit.

Frei wie der Wind: Unterwegs zu sein, ist Teil der Identität der Töchter geworden.

Schule, lesen, Dokus und Filme schauen, Musik hören, neue Orte besuchen, mit Freunden chatten und telefonieren. All das bringt genügend frische Inputs. Und dann kommen immer wieder Phasen, in denen wir viel Zeit mit Freunden und Verwandten verbringen. 

Zwar fehlt unseren Teenagern vielleicht die Möglichkeit, heimlich Interessantes oder «Verbotenes» auszuprobieren wie vapen oder Alkohol trinken oder sich ein Tattoo stechen lassen, wie meine Freundin damals mit sechzehn. Trotzdem empfinde ich meine Kinder alles andere als angepasst. 

Unser Lebensstil ist für uns als Paar die beste Anti-Midlife-Crisis-Pille.

Paarbeziehung als Basis 

Die Basis unseres Familienlebens liegt in unserer Paarbeziehung. Im Theaterstück «Bunbury» des irischen Schriftstellers Oscar Wilde nimmt eine Protagonistin Paare hoch, die ihr gemeinsames Glück öffentlich zur Schau stellen: «Sie waschen ihre saubere Wäsche in der Öffentlichkeit», spottet sie.

Darum geht es mir hier nicht. Ich möchte bloss illustrieren, dass der Zusammenhalt von uns als Eltern ein wichtiges Fundament für unseren Lebensentwurf formt. Wir sind seit über 24 Jahren ein Paar, vier davon unterwegs. Einerseits haben wir sicherlich viel Glück miteinander. Andererseits währt dieses nicht, ohne dass wir etwas dazu beisteuern.

Ein grosser Anstoss, unsere Reise überhaupt zu beginnen, kam von zwei Menschen, die wir vor fünf Jahren kennenlernten. Sie hatten viele Jahre auf einem Boot gelebt und wurden wieder sesshaft, als ihre Tochter drei war. Wenn diese bodenständigen und rationalen Menschen ein Reiseleben führen konnten, können wir das auch, dachten wir. Das Paar ging durch dick und dünn, startete immer wieder gemeinsam neue Projekte. Letztes Jahr trennten sie sich. Sehr plötzlich – für uns. Die Welt war auf einmal nicht mehr dieselbe. 

Das beste Rezept gegen Midlife-Crisis

Könnte uns das auch passieren? Wir sind in einem Alter, wo sich viele Paare trennen oder jemand eine Affäre hat. Die Kinder werden langsam gross. Wenn man morgens gemeinsam aus dem Bett kriecht und sich begrüsst, hält sich das Kribbeln im Bauch in Grenzen – falls überhaupt noch ein Bett geteilt wird. Wars das jetzt?, fragen sich vielleicht manche. Alteingesessene Kommunikationsmuster verhärten sich, Interessen entwickeln sich in verschiedene Richtungen. 

Debora Silfverberg und ihr Mann Nicolas sind seit 24 Jahren ein Paar: «Wir machen uns nicht gegenseitig für das eigene Glück verantwortlich.»

Unser Lebensstil ist die beste Anti-Midlife-Crisis-Pille. Ein mondäner Alltag, in dem die Jahre an uns vorbeiziehen, gibt es nicht. Wir treffen regelmässig gemeinsam neue Entscheidungen, neue Menschen und neue unbekannte Orte. Dabei sammeln wir so viele frische Erfahrungen, dass bei uns kein Gefühl entsteht, etwas Besseres zu verpassen. 

Verantwortung für das eigene Glück übernehmen

Ein weiterer Eckstein in unserer Beziehung ist, dass wir uns nicht gegenseitig für das eigene Glück verantwortlich machen wollen. Hat jemand einen Wunsch oder ein Bedürfnis, soll das verbalisiert werden, und wir versuchen, ihm Raum zu geben. Wir warten nicht darauf und sind enttäuscht, wenn der andere uns den Wunsch nicht von den Augen abgelesen hat. Falls es doch geschieht, freuen wir uns darüber. 

Eine Paarbeziehung pflegen heisst vor allem an sich selber arbeiten.

Auch muss es möglich sein, verschiedene Dinge zu lieben, ohne dass der andere dies persönlich nimmt und auf die Beziehung überträgt. Oder wie der Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick satirisch formuliert: «Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du gern Knoblauch essen». Für mich bedeutet eine Beziehung zu pflegen vor allem auch eines: an sich selber arbeiten.

Ein tröstlicher Gedanke

Es ist eher unwahrscheinlich, dass wir in weiteren vier Jahren immer noch zu viert in einem Wohnmobil unterwegs sind. Der Zahn der Zeit tut seine Arbeit. Alle Kinder werden einmal gross und gehen ihre eigenen Wege. Dabei haben wir keine Eile, sondern vertrauen darauf, dass unsere Kinder die richtigen Schritte zum richtigen Zeitpunkt machen werden. 

Die Töchter werden schon bald flügge: Hündchen Maila bleibt.

Wenn Söhne und Töchter 18 sind, haben Eltern durchschnittlich etwa 90 Prozent der gemeinsamen Zeit aufgebraucht, die sie je mit ihnen verbringen werden. Diese Schätzung ist für mich ein guter Trost, dass wir das Beste daraus gemacht haben.

Debora Silfverberg
hat viele Jahre als Fach- und Leitungsperson in der Familien- und Sozialpsychiatrie gearbeitet. Seit 2020 ist sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in verschiedenen Ländern Europas unterwegs und schreibt als freie Journalistin und Autorin über gesellschaftliche Themen.

Alle Artikel von Debora Silfverberg