Unsere Lieblingstexte 2023 aus den Kindergarten-Heften
Viermal im Jahr erscheint die Sonderausgabe zum Kindergarten. Die Redaktion hat für Sie jene Texte ausgewählt, die uns besonders berührt, inspiriert und zum Nachdenken angeregt haben.
Ankommen, hineinwachsen und den Übertritt in die Primarschule meistern: Die vier Sonderausgaben «Endlich Chindsgi», «Gut eingelebt», «Fast schon gross» und «Tschüss Chindsgi!» widmen sich jenen Themen, die Eltern und Lehrpersonen besonders beschäftigen. Wir wünschen Ihnen viel Freude mit den Auszügen unserer Best-of-Artikel 2023. Den Link zum vollständigen Artikel finden Sie jeweils am Ende.
1. Endlich Chindsgi
«Eltern sollten vor allem eines: viel mit dem Kind sprechen»
Entwicklungspsychologe Moritz Daum weiss, was es für eine gute Sprachentwicklung braucht, und erklärt, worauf Eltern bei einer mehrsprachigen Erziehung achten sollten.
Herr Daum, im Kindergarten machen viele eine neue Spracherfahrung, wenn sie mit Hochdeutsch in Berührung kommen. Die Frage, ob Lehrpersonen dieses anstelle von Mundart sprechen sollen, birgt Zündstoff. Was meinen Sie dazu?
Im Kindergarten sollen Kinder sich wohlfühlen. Das tun sie, wenn es der Lehrperson ebenso ergeht. Fühlt sich die Lehrperson mit Schweizerdeutsch am wohlsten, soll sie Mundart sprechen. Es ist sicher nicht verkehrt, die Kinder etwas für Hochdeutsch zu sensibilisieren, vielleicht, indem man es einmal pro Woche als Unterrichtssprache wählt. Ich halte aber nichts davon, Lehrpersonen diesbezüglich Vorschriften zu machen. Und: Mundart sprechende Kinder kommen auch ausserhalb des Kindergartens mit Hochdeutsch in Berührung, sei es über Lieder, Fernsehen, Hörbücher oder das Vorlesen.
Mehrsprachigkeit birgt kein Risiko für die Entwicklung. Diese Theorie ist längst widerlegt.
Moritz Daum, Entwicklungspsychologe
Mein unsichtbarer Freund
Mikael Krogerus erinnert sich an seinen imaginären Begleiter durch die Kindergartenzeit und warum dieser so wichtig für ihn war.
Als ich in den Kindergarten kam, hatte ich zwei Probleme. Ich sprach kaum Deutsch (meine Familie ist schwedischsprachig und wir waren erst kurz zuvor umgesiedelt). Und ich kannte keines der anderen Kinder. Aber zum Glück war ich nicht allein. Denn ich hatte meinen unsichtbaren Freund dabei: Lupidi.
Ich weiss nicht, wo er herkam, und auch nicht, warum er diesen Namen trug. Aber er war da. Lupidi war kein wahnsinnig inspirierender Typ; er war auch kein guter Beschützer oder mutiger Draufgänger. Er war es aber, mit dem ich auf dem Nachhauseweg noch einmal die entscheidenden Szenen des Tages durchspielte.
Lange Zeit dachte ich, ich würde ganz anders, wenn ich dereinst erwachsen wäre.
Nie hätte ich gedacht, dass sich lediglich verschiedene Schichten von Erfahrungen ansammeln, wie Schalen um einen Kern, das Innere aber unverändert bleibt: ein Vierjähriger, der allein an einen neuen Ort geht, an dem er niemanden kennt. Begleitet von einem unsichtbaren Freund.
2. Gut eingelebt
Wie wird mein Kind selbstbewusst?
Wir alle sehnen uns danach, vorbehaltlos angenommen und geliebt zu werden – es bildet die Basis unseres Selbstbewusstseins. So entwickelt ein Kind diesen wichtigen Baustein für ein zufriedenes Leben.
Die Saat für unser Selbstbewusstsein wird in unserer frühen Kindheit gelegt. Die ersten Lebensjahre in der Entwicklung eines Menschen sind deshalb so wichtig, weil sich in dieser Zeit seine Gehirnstruktur mit ihren ganzen neuronalen Netzen und Verschaltungen herausbildet. Die Erfahrungen, die wir in dieser frühen Entwicklungsphase mit unseren nahen Bezugspersonen machen, graben sich tief in unser Gehirn ein.
Wird Anerkennung an eine bestimmte Bedingung geknüpft, merkt sich das Kind, dass es nur wertvoll ist, wenn es sich in bestimmter Weise verhält.
Eltern sind nicht an allem schuld
Die Eltern haben nicht immer Schuld, sagt der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster. «Die Schuld der Eltern war das Geschäftsmodell der Psychologie der letzten 100 Jahre, die jedes Drama und jede Verletzung des Menschen aus dem Verhalten seiner Mutter zu erklären suchte», sagt er. Eltern seien da besonders verletzlich: Alles, was bei Kindern schiefläuft, meinen sie auf ihre Kappe nehmen zu müssen. Zu Unrecht! «Erziehung vollzieht sich in einem System.»
Heutige Eltern machen es wirklich gut.
Herbert Renz-Polster, Kinderarzt
Eltern seien weder die allmächtigen «Weichensteller» noch die Magier, die ihren Kindern die Tricks des Lebens beibringen, sondern sie seien Teil eines Ganzen, so Renz-Polster, zu dem auch die Kinder selbst gehörten, die Verwandten, die Freunde, die Schule, die Vereine, ja die ganze Gesellschaft. Denn tatsächlich machen es die heutigen Eltern wirklich gut.
Kindern sollte man ruhig jeden Tag sagen, dass sie aus tiefstem Herzen geliebt werden.
Margarete Killer-Rietschel, Psychologin
«Nicht hauen!» Selbstkontrolle bei Kindern
Sich selbst zu bremsen und seine Emotionen nicht impulsiv auszudrücken: Das will gelernt sein. Der Umgang mit seinen Gefühlen und die Entwicklung dieser inneren Kontrollinstanz sind wichtige Themen im Kindergarten.
Impulskontrolle entwickelt sich im Lauf der Zeit selbst. Man kann das Kind aber unterstützen, sein Potenzial an Selbstkontrolle und Bedürfnisaufschub zu entfalten. Damit Kinder ihre Impulskontrolle trainieren, brauchen sie die Begleitung Erwachsener.
Was Eltern wie Trotz erscheint, ist oft auf die Unreife des kindlichen Gehirns zurückzuführen.
Sie können ihre Bedürfnisse, ihre Eindrücke und ihre Gefühle oft noch nicht ausformulieren, sie reagieren deshalb nicht sprachlich kontrolliert, sondern emotional und körperlich. Daher ist es wichtig, dass Eltern formulieren, was das Kind fühlt. Und nicht nur das: «Wenn Eltern möglichst oft ihre eigenen Eindrücke und Gefühle versprachlichen, lernen ihre Kinder viel über den Zugang zu ihren eigenen Emotionen», sagt Moritz Daum. Der Professor für Entwicklungspsychologie forscht zu der Frage, wie der Mensch überhaupt zu einem sozialen Akteur wird, und untersucht unter anderem, welchen Einfluss die gesprochene Sprache auf die Entwicklung hat.
3. Fast schon gross
«Wir Eltern machen weniger falsch, als wir meinen»
Die Pädagogin und Psychologin Sarah Zanoni plädiert für mehr Gelassenheit in der Erziehungsarbeit und verrät, wie Mütter und Väter auch in Stresssituationen einen klaren Kopf behalten.
Frau Zanoni, in welchen Situationen sind Eltern besonders gestresst?
Das können ganz verschiedene Situationen sein. Viele fordert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Müttern und Vätern wird heute viel abverlangt. Oft sind es Momente, in denen das Kind ein Bedürfnis hat und dieses verbal nicht richtig ausdrücken kann. Es ist müde oder hat Hunger, sagt das aber nicht, sondern quengelt oder fängt mit dem Geschwister Streit an. Der Adrenalinpegel der Eltern steigt. Dabei ist die Lösung oft naheliegend.
Welches ist Ihr persönliches Lieblingsmantra aus Ihrem Buch?
Da gibt es einige. Um eines zu nennen: «Kinder lernen gute Entscheidungen treffen, indem sie Entscheidungen treffen, nicht, indem sie Vorschriften befolgen.» Dieser Satz stammt vom US-amerikanischen Autor Alfie Kohn und er spiegelt auch meine Einstellung wider: Kinder sollen auch eigene Entscheidungen treffen dürfen.
Wir sollten reagieren, wenn unsere innere Ampel von Grün auf Orange springt, und nicht erst bei Rot.
Sarah Zanoni
Das heisst aber nicht, dass Kinder alles entscheiden dürfen und zum Schluss den Familienalltag bestimmen. Aber man weiss aus der Forschung, dass Kinder und Jugendliche, die mitbestimmen dürfen, ein viel besseres Sozialverhalten haben. Dass sie sich in der Gemeinschaft mehr engagieren, sorgsamer mit den Dingen umgehen. Ein Beispiel: Wenn wir als Familie ein neues Sofa kaufen und die Kinder ihre Meinung einfliessen lassen dürfen, was ihnen gefällt und was ihnen wichtig ist, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass sie das ausgewählte Sofa auch später pfleglicher behandeln.
Ich, du, wir – so wird mein Kind sozialkompetent
Schon im zweiten Kindergartenjahr können sich die meisten Buben und Mädchen in andere Kinder hineinversetzen. Trotzdem muss das soziale Miteinander geübt werden. Wie man sein Kind unterstützt, Freundschaften zu schliessen und Konflikte konstruktiv auszutragen.
Zu den sozialen Kompetenzen gehören eine Reihe von Fähigkeiten, die uns dabei helfen, Beziehungen zu gestalten und in einer Gemeinschaft zusammenzuleben. Welche davon im Kindergarten und später in der Schule besonders gefördert werden sollen, ist schweizweit im Lehrplan 21 festgelegt.
Kinder schnappen wichtige Fertigkeiten im Alltag auf, auch wenn diese gar nicht explizit vermittelt werden.
Demnach sollen Kinder nach und nach lernen, sich an Regeln zu halten, sich in andere einzudenken und einzufühlen, Rücksicht zu nehmen, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren und geltend zu machen, aber auch mal zu warten, mit aufkommendem Frust umzugehen, Gefühle zu regulieren und Konflikte zu lösen. Kinder sollen entdecken, wie sie Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen und ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten einschätzen können.
4. Tschüss Chindsgi!
«Kinder können sich nicht über ihr Potenzial hinaus entwickeln»
Kinderarzt Oskar Jenni sagt, dass jedes Kind einzigartig ist und sich in seinem Tempo entwickelt. Wir sollten die Unterschiede anerkennen, statt sie als störend zu betrachten.
Herr Jenni, «jedes Kind ist anders». Was meinen Entwicklungsexperten genau mit einer solchen Aussage?
Ich meine damit, dass jedes Kind einzigartig ist und über viele verschiedene Facetten verfügt. Diese sind beim einzelnen Kind nicht alle gleich ausgeprägt und entwickeln sich unterschiedlich schnell. So kann etwa ein Erstklässler in seinen kognitiven Fähigkeiten bereits auf dem Stand eines Achtjährigen sein, in seinem Sozialverhalten aber auf dem eines jungen Kindergartenkindes.
Warum entwickeln sich Kinder so unterschiedlich?
Die Verschiedenartigkeit entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel zwischen der genetischen Anlage und der Umwelt. Die Anlagen bestimmen dabei ein maximales Entwicklungspotenzial, das ein Kind bei günstigen Lebensbedingungen verwirklichen kann. Sind die Umweltbedingungen ungünstig – wenn zum Beispiel die Eltern psychisch krank sind –, dann wird unter Umständen nur der untere Grenzbereich ausgeschöpft. Grundsätzlich gilt, dass sich Kinder nicht über ihr individuell angelegtes Entwicklungspotenzial hinaus entwickeln können.
Aktive Förderung durch die Eltern beeinträchtigt die kindliche Lernbereitschaft.
Zutrauen vermitteln statt Noten überbewerten
Nach dem Übertritt in die Primarschule bekommt ein Kind irgendwann die ersten Noten. Welche Bedeutung diese haben, hängt nicht zuletzt von der Einstellung der Eltern ab.
Wir Erwachsene haben es in der Hand, wie sich die Kinder zum Zeugnis stellen und ob wir das Zeugnis und die Noten zum Mass aller schulischen Dinge machen.
Um es gleich klar zu sagen: Das sollten wir auf keinen Fall tun! Denn Noten und Zeugnisse taugen nicht als Motivationsgrundlage für das Lernen der Kinder in der Schule. Kinder sind motiviert zu lernen, weil dies die Natur des Menschen ist, ganz besonders in den jungen Jahren.
Vor allem in den ersten Schuljahren muss das Fördern im Vordergrund stehen – eigentlich immer.
Kinder lernen in der Schule ausserdem noch, weil das Umfeld es will, weil man in der Schule eben lernt und nicht zuletzt, weil es oft auch Freude bereitet. Es ist darum eine der Hauptaufgaben der Schule und von uns Lehrpersonen, die Kinder zu fördern, sie in ihrem Lernen zu bestärken, zu fordern und weiterzubringen.