Wenn eine sichere Bindung fehlt - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn eine sichere Bindung fehlt

Lesedauer: 5 Minuten

Für eine gesunde Entwicklung braucht ein Kind eine sichere Bindung zu einer oder mehreren erwachsenen Personen. Fehlt diese, zieht sich das Kind zurück und hat Mühe, Freundschaften zu knüpfen. Dazu drohen Aufmerksamkeitsstörungen, Aggressionen und Depressionen. Nun heisst es: feinfühlig auf Ängste und Bedürfnisse des Kindes reagieren.

Ein Kind, nennen wir es Robin, fällt mit dem Fahrrad um. Weinend reibt sich Robin das Knie und schaut auf seine Hosen, die beim Sturz zerrissen worden sind. Die Eltern nehmen das weinende Kind in den Arm und trösten es. Schnell lässt es sich beruhigen und fühlt sich ermutigt, einen nächsten Versuch mit dem Fahrrad zu wagen.

Schutz und Trost wirken besonders gut, wenn er von Menschen kommt, mit denen das Kind eine enge Bindung hat. Und sie sind in Situationen wie oben beschrieben sehr wichtig – nicht nur in dieser Situation, sondern für die gesamte kindliche Entwicklung. Bindung bezeichnet eine enge und von starken Gefühlen geprägte Beziehung zwischen einem Kind und seinen Eltern oder anderen ihm nahestehenden Erwachsenen. Sie hilft dem Säugling und Kleinkind, Schutz zu erhalten und sicher betreut zu werden. 

Ein Säugling kann Bindungen zu verschiedenen Erwachsenen aufbauen – nicht nur zu den Eltern.

Ein Säugling kann zu mehreren Erwachsenen Bindungen aufbauen. Bindungspersonen sind meistens die Eltern, die sich in den ersten Lebensjahren intensiv um das Kind kümmern, jedoch können auch Grosseltern oder andere erwachsene Personen wie Pflegeeltern zu Bindungspersonen werden. Wenn der Säugling Angst hat, sucht er Schutz und Sicherheit durch Nähe über Blick- oder Körperkontakt.

Die Bindungsperson ist der sichere Hafen, den das Kind bei Angst oder Bedrohung aufsucht. Nach einer Beruhigung durch diese erlebte Nähe kann das Kind von dort aus die Welt wieder neu erkunden. Der Aufbau einer Bindung wird entscheidend durch die Feinfühligkeit der Bindungsperson beeinflusst – ob sie sensibel auf Äusserungen und Bedürfnisse des Kindes reagiert. 

Die Fähigkeit zur Feinfühligkeit hilft zu erlernen, welche Reaktion auf welches Signal des Kindes ideal ist. Dabei unterscheiden sich diese Signale von Kind zu Kind – ob beim Hungergefühl, beim Bedürfnis nach Körperkontakt, nach Schlaf oder auch beim Wunsch nach gemeinsamem Spiel.

Was Robin hilft

Im Beispiel von Robins Sturz mit dem Fahrrad könnte feinfühliges Verhalten etwa folgendermassen aussehen: Die Bindungsperson beobachtet ihr Kind und nimmt dessen Mimik wahr. Sie schliesst aus dem Lachen und Strahlen vor dem Sturz, dass Robin stolz ist und sich beim Velofahren gut und kompetent fühlt. Dann fällt Robin um und weint. Das Reiben am Knie zeigt wohl Schmerz an, vielleicht auch Frustration. Die Bindungsperson  geht schnell zum gestürzten Kind hin, nimmt es in den Arm und tröstet es. Sie benennt die Situation und wie sich Robin fühlen könnte und gibt dem Kind so Worte für das, was passiert ist.

Robin fühlt sich von seinem Gegenüber verstanden. Die ruhige und wohlwollende Stimme der Bindungsperson und das Trösten beruhigen das Kind. Robin gewinnt die Erfahrung, dass ein Sturz und die damit verbundenen Schmerzen aufgefangen werden, und fühlt sich gehalten. Durch die Ermutigung, weiterzumachen, wird das Kind unterstützt, die Welt weiter zu erkunden, auch nach einem Missgeschick. Robin fühlt sich wieder kompetent.

Sind meine Gefühle bedrohlich?

Ein Kind lernt aber auch vom Verhalten der Bindungsperson, eigene Gefühle wahrzunehmen, sie zu benennen und in Verbindung mit dem Sturz zu bringen. Durch viele solche Erfahrungen lernt es vorherzusehen, wie das Verhalten der Eltern in einer bestimmten Situation sein wird. Ein Kind, das solche oder ähnliche Beziehungserfahrungen macht, wird eine sichere Bindung entwickeln. Als Folge wendet es sich bei Trauer und Stress an seine Eltern und sucht bei ihnen Hilfe und Sicherheit. Kind und Eltern schliessen immer wieder von der Mimik des anderen auf dessen Gefühle und Innenwelt.

Das Kind nimmt beim Erkunden der Welt immer wieder Blickkontakt auf und liest im Gesicht der Bindungsperson, ob es in Sicherheit oder in Gefahr ist, und sucht so Rückhalt bei ihr. Die feinfühlige Bindungsperson kann die Gefühle des Kindes richtig lesen und benennen. Sie hilft dem Kind, sich in der Welt zurechtzufinden. Eine wenig feinfühlige Bindungsperson reagiert bei Robins Sturz vom Fahrrad und anderen Situationen mit Schimpfen und Zurechtweisungen. Damit erlebt das Kind die Bindungsperson als zusätzlich belastend. Das Kind kann sich in solchen Situationen keinen Schutz holen, um sich zu beruhigen. 

Entscheidend für den Aufbau einer sicheren Bindung ist Sensibilität.

Die Gründe für das Verhalten der Bindungsperson sind verschieden: Entweder sie ist sehr gestresst durch den Sturz, kann kindliche Bedürfnisse ungenügend lesen oder hat vielleicht auch Mühe, zwischen den eigenen Gefühlen und denjenigen des Kindes zu unterscheiden. Mit dem zurechtweisenden Verhalten in einer vom Kind nicht absichtlich verursachten Situation löst sie in ihm Schuldgefühle und Gefühle des Alleingelassenwerdens aus. Wenn sich solche Erfahrungen mit der Bindungsperson über Monate und Jahre wiederholen, entwickelt das Kind eine unsichere Bindung.

Es lernt nicht, unangenehme Gefühle zu benennen, und macht auch nicht die Erfahrung, dass Schmerzen vorbeigehen und ein Sturz mit dem Fahrrad nicht schlimm sein muss. Das Kind fühlt sich einsam und erlebt Schmerzen, Trauer und Frustration als bedrohlich, weil ihm niemand Sicherheit gibt und dadurch vermittelt, dass auch Stürze zum Leben gehören. Denn diese sollen es nicht daran hindern, die Welt zu entdecken und Neues zu erfahren.

Wie bereits festgehalten, ist die Feinfühligkeit der Bindungsperson entscheidend für die Entwicklung einer sicheren Bindung. Es soll aber auch gesagt sein, dass etwa ein schreiender Säugling, der sich stundenlang nicht beruhigen lässt, auch eine sonst feinfühlige Mutter überfordern kann.

Lernen, sich Hilfe zu holen

Dazu gibt es weitere Faktoren, die zu einer unsicheren Bindung führen. Wenn das Verhalten der Eltern unberechenbar ist, kann sich ein Kind nicht mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen befassen, sondern ist dauernd damit beschäftigt, das Verhalten der Eltern einzuschätzen.

Damit wird es in seiner Entwicklung gehindert, es fehlt ihm die Sicherheit eines Hafens, von dem aus es die Welt erkunden kann. Auch Kinder, die Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung erlebt haben, können einen unsicheren Bindungsstil entwickeln. Sie erleben die Welt als Gefahr und sind oft ängstlich. Unsicher gebundene Kinder fühlen sich häufig schlecht und entwickeln Schuldgefühle, als Folge davon ziehen sie sich in sich selbst zurück. 

Wird das Kind in einer nicht absichtlich herbeigeführten Situation zurechtgewiesen, fühlt es sich alleingelassen.

In Gruppen im Kindergarten und in der Schule sind sie rascher überfordert und gestresst und sie haben mehr Schwierigkeiten, Freundschaften aufzubauen. Sie wirken im Alltag oft gedankenverloren und abwesend oder verhalten sich aggressiv. Im Kindergarten- und Schulalter leiden sie häufiger unter Aufmerksamkeitsstörungen.

Dazu können emotionale Probleme wie Depressionen oder Ängste auftreten. Sichere Bindungen prägen das Verhalten des Kindes und dadurch auch spätere Beziehungen. Im Kindergarten- und Schulalter können sicher gebundene Kinder leichter Kontakte mit anderen Kindern knüpfen, Freundschaften aufbauen und aufrechterhalten.

Sie können bei Bedarf Hilfe bei der Lehrperson holen, weil sie gelernt haben, dass Erwachsene ihnen helfen und sie unterstützen. Gute Bindungserfahrungen erlauben dem Kind, sich neuen Aufgaben zu stellen und Neues auszuprobieren. Diese Erfahrungen sind wichtig für eine altersgemässe Entwicklung. Durch sie können Kinder ihre volle Aufmerksamkeit und Konzentration dem Geforderten widmen und zeigen sich im Spiel kreativ.

Das macht sie beliebter bei anderen Kindern und Lehrpersonen und sie bekommen gute Rückmeldungen zu ihrer Person, ihren Gefühlen und ihrem Verhalten. So entwickeln sie einen gesunden Selbstwert. Eine sichere Bindung ist wie ein Hafen, den das Kind bei Angst und Bedrohung aufsuchen kann – und von dem aus es bei ruhiger See hinaussegeln und die Welt entdecken kann.

Bild: Getty Images


Buchtipp:

Karl Heinz Brisch:  Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Klett- Cotta-Verlag 2013.

Zur Autorin:

Barbara BechtlerPerler ist Psychotherapeutin FSP und Rechtspsychologin FSP / SGRP, Doktorandin an der Universität Freiburg und Mutter von drei Kindern.
Barbara Bechtler
Perler
ist Psychotherapeutin FSP und Rechtspsychologin FSP / SGRP, Doktorandin an der Universität Freiburg und Mutter von drei Kindern.


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