Was stresst unsere Kinder und wie helfen wir ihnen? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Was stresst unsere Kinder und wie helfen wir ihnen?

Lesedauer: 6 Minuten

Ob sie einer Geburtstagsparty entgegenfiebern oder Angst haben, eine Prüfung nicht zu bestehen – Stress gehört zum Leben von Kindern. Doch was, wenn aus Druck Überforderung wird? 

Vollgepackte Stundenpläne, Fussballtraining, Theaterprobe, Nachhilfestunden in Mathe, Französisch oder Deutsch: Ein Grossteil der Schulkinder fühlt sich heute dauerhaft oder zumindest temporär gestresst.

Im Rahmen der Juvenir-Studie befragte die Jacobs Foundation 2014 rund 1500 Schweizer Jugendliche ab 15 Jahren zu Stress und Leistungsdruck. Fast die Hälfte der Befragten berichtete, dass Stress, Leistungsdruck und Überforderung zu ihrem Alltag gehörten. Vor allem die Schule sorge für Stress. Als Ursache für den selbstauferlegten Leistungsdruck und Stress standen oft Zukunftsängste und Sorgen rund um die spätere Berufswahl.

Besonders Schülerinnen leiden. Doch auch bei den Buben senkt der empfundene Stress das Wohlbefinden und erhöht Selbstzweifel, Lustlosigkeit sowie Niedergeschlagenheit und Traurigkeit. 

Die Schule ist Stressfaktor Nummer 1.

Auch bei jüngeren Kindern hinterlässt Stress seine Spuren, wie die deutsche Universität Bielefeld 2015 herausfand: Die Untersuchung von 6- bis 16-jährigen Kindern zeigte, dass jedes sechste Kind unter deutlichem, hohem Stress leidet. Und dies mit körperlichen Symptomen wie Schlafproblemen, Kopf-und Bauchschmerzen sowie Müdigkeit.

Kinder mit viel Stress zeigten ausserdem ein hohes Aggressionspoten­zial, und reagierten öfter wütend oder zornig. Bei über 10 Prozent kommt es ausserdem zu depressiven Verstimmungen oder sozialem Rückzug. Andere Studien beobachteten zusätzlich Unruhe, Unkonzentriertheit, Erschöpfung, verminderten Appetit und Hauterkrankungen als Folgen von Stress. 

Laut Juvenir-Studie erleben fast alle Schweizer Jugendlichen ihre Freizeit als stressfrei. Bei jüngeren Kindern von sechs bis elf Jahren zeichnet die Studie der Universität Bielefeld allerdings ein anderes Bild: Über 80 Prozent der Kinder mit viel Stress wünschen sich mehr Zeit für Dinge, die ihnen Spass machen, müssen jedoch gleichzeitig Termine wahrnehmen, die ihnen keinen Spass machen.

Bild: Jim Erickson / Plainpicture

Eustress und Distress – beide Stressarten schaden auf Dauer

Eine Vielzahl von Studien – darunter das deutsche Kinderbarometer 2017 – deuten darauf hin, dass die Schule als Ursprung der Stressoren bei Kindern den ersten Platz einnimmt. Dabei werden schlechte Noten, zu viele Hausaufgaben und Leistungsdruck seitens der Eltern von den Kindern als die grösste Belastung angegeben. Auch häufig erwähnt wird der selbst auferlegte Druck, eine gute Note zu schreiben. Hinzu kommen soziale Konflikte wie Streit mit den Eltern, Geschwistern oder in der Schulklasse.

Doch wie reagiert unser Gehirn genau auf Stress? Und warum machen manchen Kindern stressige Situationen kaum etwas aus, während andere scheinbar viel mehr Ruhe brauchen? Klar ist: Stress ist nicht gleich Stress. Meist als negativer Zustand verstanden – als Druck, Anspannung und Belastung –, gibt es durchaus auch positive Stressgefühle, den sogenannten Eustress. Dieser tritt zum Beispiel auf, wenn wir ein Fest organisieren oder Aufgaben, die wir gerne machen, unter Druck erledigen müssen. Es ist Stress, der in der Regel nicht als Belastung empfunden wird. Beide Arten von Stress sind auf Dauer nicht gesund. Doch es ist vor allem der negativ erlebte Stress, der sogenannte Distress, der uns auf Dauer schaden kann.

Eine gute Eltern-Kind-Bindung hilft bei der Stressregulation. Bild: iStockphoto
Eine gute Eltern-Kind-Bindung hilft bei der Stressregulation. Bild: iStockphoto

Wie Stress im Körper von Kindern wirkt

Stress ist die Reaktion des Körpers auf Stressoren – also Stress auslösende Faktoren wie Prüfungen, Fristen oder Streit. Dann wird die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), vereinfacht gesagt unsere «Stressachse», aktiviert und Adrenalin oder Kortisol ausgeschüttet. Die Ausschüttung von Botenstoffen und Hormonen dient der Kommunikation zwischen den Organen. 

Unser Stressregulationssystem ist immer aktiv. Morgens nach dem Aufwachen steigt seine Aktivität stark an und nimmt dann über den Tag hinweg stetig ab, bis es um Mitternacht seinen Tiefpunkt erreicht. Diese Hintergrundaktivität spielt sich bei jedem Menschen tagtäglich ab.

Kinder zeigen teilweise ein ganz anderes Muster von HPA-Achsen-Aktivität als Erwachsene. Neugeborene beispielsweise reagieren auf unangenehme Reize mit einer starken Ausschüttung von Stress­hormonen. Im Laufe der Kindheit erhöht sich die Belastbarkeit, es braucht mehr beziehungsweise stärkere Reize, um die HPA-Achse zu stimulieren. Einfühlsames und fürsorgliches Verhalten der Eltern kann in dieser Zeit eine Stresswirkung abfedern. Während des biologischen Reifungsprozesses in der Pubertät gleicht sich das generelle Aktivitätsmuster dann jenem von Erwachsenen an. 

Ist das Stressregulationssystem im Kindesalter gestört, steigt das Risiko für eine Depression.

Bei manchen Kindern und Erwachsenen ist das Muster jedoch verändert: Der morgendliche Anstieg der Hormone fällt flacher oder steiler aus oder das System benötigt mehr Zeit, um sich nach einem akuten Stressereignis wieder zu erholen. Diese Veränderungen können mit verschiedenen körperlichen oder psychischen Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Angststörungen, Depressionen oder Diabetes in Zusammenhang stehen.

Bezüglich Depressionen konnte der Zusammenhang in Studien belegt werden: Ist die Aktivität der HPA-Achse im Kindesalter abnormal, steigt das Risiko, eine Depression zu erleiden. Laut Studienergebnissen skandinavischer und deutscher Forscher könnte auch eine ADHS-Diagnose oder aggressives Verhalten im Jugendalter mit einer abnormalen HPA-Achsen-Aktivität in Verbindung stehen. Dieser Zusammenhang wurde jedoch nicht in allen Studien bestätigt.

Die Reaktion unseres Körpers auf akuten Stress ergibt evolutionär Sinn: In vorzivilisatorischen Zeiten begegnete der Mensch häufig grossen Gefahren. Die instinktiven Reaktionen waren Kämpfen oder Flüchten, für beides benötigte der Körper schnell zusätzliche Energie. In einer akuten Stresssituation sorgt das Gehirn dafür, dass der Körper in dieser Situation maximal leistungsfähig ist: Der Herzschlag wird schneller, die Muskeln werden verstärkt durchblutet.

Dies geht allerdings auf Kosten von anderen Funktionen wie beispielsweise der Verdauung. Bei langer, intensiver Aktivierung zeigen sich auch negative Folgen für das Immunsystem. Sind ausreichend Stresshormone im Körper unterwegs oder ist die Bedrohung vorbei, wird dies dem Gehirn zurückgemeldet und die Ausschüttung weiterer Hormone wird gestoppt. Das System regelt sich so von selbst und stellt den Körper wieder auf eine normale Funktionsweise ein.

Schädlich wird negativ erlebter Stress vor allem dann, wenn er chronisch ist. Bei dauerhaftem Stress schüttet der Körper permanent Hormone aus und die involvierten Organe sind anhaltend aktiv. Dies kann zur Folge haben, dass der Herzschlag schneller und die Atmung flacher wird, dass die Verdauung vernachlässigt und das Immunsystem heruntergefahren wird.

Langfristig können häufige Infektionen, Verdauungsstörungen, Konzentrations- und Schlafprobleme, Asthma und Herz-Kreislauf-Beschwerden auftreten. Damit dies nicht geschieht, braucht der Körper immer wieder Zeit, in der er sich nicht in Alarmbereitschaft befindet. Dies erreicht man, wenn man sich – sofern möglich – der belastenden Situation entzieht und sich Zeit zum Entspannen nimmt. 

Wie man Kindern beibringt, Stress zu reduzieren

Achten Sie als Eltern auf Symptome von Stress bei Kindern und nehmen Sie diese ernst. Dabei gilt es zu beachten, dass Stress und Stress­resistenz sehr individuell sind: Ein und dieselbe Situation kann bei einem Kind Überforderung auslösen, während ein anderes Kind dabei unbehelligt bleibt. Jeder Mensch muss selbst herausfinden, was ihm hilft, Stress zu vermeiden oder besser mit ihm umzugehen: Ist es eine Jogging­runde im Wald? Oder das Lesen eines guten Buches?

Eltern können ihr Kind dabei unterstützen, dies herauszufinden und sich den für sie hilfreichen Ausgleich im Alltag zu schaffen. Am besten zeigen Sie ihm dazu verschiedene Möglichkeiten auf: Der 16-jährigen Tochter hilft vielleicht, wenn sie jeden Abend eine Stunde aus ihrem Leben erzählen darf. Dem 5-jährigen Sohn tut dagegen allenfalls ein Besuch im Schwimmbad gut, um auf andere Gedanken zu kommen. 

Es gibt jedoch Dinge, die generell gegen Stress schützen. Gemeinsame Zeit mit dem Kind und Familienrituale wie zusammen zu Abend essen gehören dazu, ebenso wie Gutenachtgeschichten erzählen und gemeinsam Ausflüge unternehmen. 

Schon früh lässt sich die Stressresistenz beim Kind fördern: beim geduldigen Beruhigen eines schreienden Säuglings oder beim Trösten des weinenden Kleinkinds. Je jünger ein Kind ist, desto stärker werden Stress und Gefühle über die erwachsenen Bezugspersonen reguliert. Sie helfen dem Säugling und dem Kind, seine Gefühle zu steuern und sich wieder zu beruhigen. Feinfühligkeit und eine gute Bindung sind wichtige Voraussetzungen, um die Bedürfnisse seines Kindes gut wahrzunehmen.

Die Autoren eines Anti-Stress-Trainings für Kinder haben untersucht, was jene Kinder anders machen, die widerstandsfähiger mit alltäglichen Stressoren umgehen. Sie fanden heraus: Es sind Strategien wie Selbst­instruktionen («Ich werde das schaffen») und Ablenkung, regelmässiger Sport sowie ein guter sozialer Rückhalt in Familie und Freundeskreis. Bei Eltern ist dies nicht anders: Sozialer Rückhalt und Kontakte sowie Bewegung gehören auch im Erwachsenenalter zu den wirksamen Mitteln gegen Stress. Ein wichtiger schützender Faktor über die ganze Lebesspanne hinweg ist zudem eine ausgewogene, gesunde Ernährung.

Tanzen Sie gemeinsam durchs Zimmer – das baut Stress ab. Noch besser: Yoga und natürlich: Ferien!

Anti-Stress-Trainings betonen die Wirkung bereits von kurzen Pausen, in denen man sich einfach ausruht oder beispielsweise Musik hört. Pausen dürfen deshalb vor allem in Phasen der Prüfungsvorbereitung oder an Tagen mit viel Hausaufgaben nicht vergessen werden.

Neu gibt es auch technische Geräte, die mittels «Biofeedback» helfen, die Stress­reaktion des Körpers besser steuern zu lernen: Sie messen das Stresslevel über die Haut an den Fingern und melden es an den Benutzer zurück. Körperübungen helfen, den Körper besser spüren und kontrollieren zu lernen.

Zum aktiven Stressabbau ist Bewegung jedoch wirksamer. Passt der Spaziergang nicht ins Tages­programm, tanzen Sie wenigstens eine Runde gemeinsam durchs Wohnzimmer! Besonders empfohlen werden Yoga (gute Wirkung ab 12 Minuten am Tag) sowie Aktivitäten bei Tageslicht – und natürlich das Schönste von allem: Ferien.


Die Autorin

Jaqueline Esslinger ist Psychologin und Doktorandin an der Universität Freiburg. Sie ist Leiterin der LAMA-Studie zur kindlichen Stressreduktion.
Jaqueline Esslinger ist Psychologin und Doktorandin an der Universität Freiburg. Sie ist Leiterin der LAMA-Studie zur kindlichen Stressreduktion.


Mitmachen bei der LAMA-Studie!

Noch bis Juli diesen Jahres möchte die LAMA-Studie der Universität Freiburg den Zusammenhang zwischen Regulationsschwierigkeiten und der Konzentration von Stresshormonen im Körper untersuchen. Dazu sammeln die Studienautoren Speichelproben von möglichst vielen Kindern (kurz Watterolle in den Mund nehmen, anonymes Senden ins Labor). Die Proben werden ergänzt von Fragen über das momentane Befinden von Elternteil und Kind (sieben Tage). Mitmachen können alle Familien mit Kindern und Jugendlichen von 8 bis 15 Jahren. Besonders zum Mitmachen aufgerufen sind Eltern von Kindern mit ADHS oder aggressivem Verhalten. Die Resultate aller anderen Kinder sind wichtig für den Vergleich. Alle, die mitmachen, erhalten die Studienergebnisse sowie 50 Franken in Gutscheinen für ihr Kind. Kontakt: lama@unifr.ch oder über die Website fns.unifr.ch/lama.

Weiterlesen: 

Dieser Artikel ist Teil 2 unserer laufenden Serie WAS KINDER KRANK MACHT aus dem Magazin 05/18.

Lesen Sie weiter in Folge 3: Wenn der sichere Hafen fehlt.