Schule neu denken: Antworten auf die 20 wichtigsten Fragen

Was macht eine gute Lehrperson aus? Wie geht Schule in Zeiten von künstlicher Intelligenz? Ist die Inklusion gescheitert? Es gibt viele Fragen rund um die Zukunft der Schule. 21 Expertinnen und Experten beantworten die 20 drängendsten.
Die Schweiz investiert jedes Jahr Milliarden Franken in die Bildung – eigentlich ist das ein riesiges Geschenk für Lernende, Lehrpersonen und Eltern. Statt Jubel darüber hört man aber viel Gejammer: über zu wenig Lehrpersonen, zu viel Stress und Druck, Integration, Selektion, Hausaufgaben und vieles mehr.
Um genauer herauszufinden, woher diese Unzufriedenheit kommt, haben wir 21 Expertinnen und Experten aus dem Bildungsbereich 20 Fragen rund um die Schule gestellt – die unserer Ansicht nach drängendsten. Die Antworten fallen teils überraschend einfach, oft aber auch unbequem komplex aus.
Gesellschaft gibt Rahmenbedingungen vor
So gibt es beispielsweise keine guten Argumente für eine frühe Selektion in unterschiedliche Leistungsniveaus. Einfach alle Kinder länger gemeinsam lernen zu lassen, bringt aber neue Herausforderungen mit sich. Zumal die Kinder später in einer Gesellschaft arbeiten sollen, die Berufe mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen vorsieht. Und nur weil eine Schule die Noten abschafft, mindert das nicht automatisch den Stress für Kinder, deren Eltern Leistungsdruck aufbauen.
Wer in der Schule etwas verändern möchte, muss sich bewusst sein, dass die Rahmenbedingungen durch die Gesellschaft vorgegeben werden. Ist diese leistungs- und defizitorientiert, fliesst dies auch in die Schulen. Diese bilden die Gesellschaft im Kleinen ab. Aber eben nicht nur.
Die Freiräume sind da, man muss sich nur trauen, sie zu nutzen.
Dani Burg, Lehrer
Die Schule bildet auch eine Gemeinschaft aus Kindern, Lehrpersonen, Eltern. Und diese Gemeinschaft kann vor Ort gestaltet werden – und zwar in grösserem Ausmass, als viele denken. «Die Freiräume sind da, man muss sich nur trauen, sie zu nutzen», sagt der passionierte Lehrer Dani Burg. Den Lehrplan liest er als das, was er ist: eine Empfehlung, mehr nicht. Das verschafft ihm viel Spielraum, seine Schüler selbst entscheiden zu lassen, welche Themen sie interessieren («Wenn ich sie emotional nicht mitnehme, bleibt sowieso nichts hängen.»).
Er behandelt wenige Themen und wiederholt viel. Er lässt seine Schülerinnen Holz hacken und in der Schule übernachten, statt mit ihnen die Flüsse Brasiliens auswendig zu lernen. Das alles macht er nicht etwa an irgendeiner Privatschule, die sich besondere Lernkonzepte auf die Fahne geschrieben hat, sondern an einer ganz normalen Volksschule. Kollegen möchte er dazu ermuntern, sich einfach mal ein bisschen mehr zu trauen («Was kann dabei schon passieren?»).
Mut zeigen dürfen auch Eltern, indem sie ihr Kind so annehmen, wie es ist – und nicht als ein Projekt sehen, das nur mit dessen Sprung ans Gymnasium erfolgreich ist. Indem sie sich für Lerninhalte interessieren statt für Noten. Indem sie Brücken zur Schule bauen und Lust darauf machen, statt die Gräben durch mangelnde Loyalität zu vergrössern.
Und Mut zeigen dürfen auch Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich – wie eine Zwölfjährige aus dem Kanton Thurgau – wünschen, mit der ganzen Klasse ein Lagerfeuer auf dem Pausenplatz zu machen. Natürlich kann es sein, dass die Lehrperson nichts davon hält. Vielleicht sieht sie aber auch, dass gemeinsam an einem warmen Feuer zu sitzen und dabei in Ruhe zu quatschen ziemlich viel von dem beinhaltet, was sich eigentlich alle von der Schule wünschen: eine behagliche Gemeinschaft, bei der bestenfalls der Funke überspringt, zusammen etwas lernen zu wollen.
1. Machen zu viele Eltern heute den Lehrpersonen das Leben schwer?
Die eigenen Kinder sind für nicht wenige Eltern heute eine Art Projekt. Läuft dieses nach Plan, können sie sich nach aussen mit dem Statussymbol Gymnasium schmücken, wie es die Bildungsforscherin Margrit Stamm in ihrem Dossier «Aufwachsen in der Hochleistungsgesellschaft. Welche Schule braucht das Kind?» schreibt.
Geht der Plan nicht auf, schlagen sie sich dem Pädagogen Roland Reichenbach zufolge meist unkritisch auf die Seite des Kindes. «Da wird dann gemeinsam auf den Unterricht oder die Lehrperson geschimpft, statt der Schule die so wichtige Loyalität entgegenzubringen.» Hinzu kommt, dass die Eltern dabei vor allem das eigene Kind im Blick haben. «Dieses Bild ist meist nicht unbedingt objektiv. Und eine Lehrperson muss sich nun mal um eine ganze Klasse kümmern, nicht nur um ein Individuum», sagt Lehrer und Schulberater Sammy Frey.
Selbst die besten Förderprogramme bleiben wirkungslos, wenn sie nicht von den Eltern mitgetragen werden.
Urs Moser, Bildungsforscher
Damit es gar nicht erst so weit kommt, dass Eltern eine schulische Zukunft für ihr Kind sehen, die an dessen Stärken vorbeiführt, braucht es von Beginn an eine gute Bildungspartnerschaft zwischen Eltern und Lehrpersonen. Das gilt auch für die Eltern am anderen Pol; jenen, denen es aufgrund fehlender zeitlicher, finanzieller oder emotionaler Ressourcen nicht möglich ist, ihre Kinder in ihrer Entwicklung ausreichend zu unterstützen.
«Selbst die besten Förderprogramme bleiben wirkungslos, wenn sie nicht von den Eltern mitgetragen werden», sagt Bildungsforscher Urs Moser. Eltern seien daher – egal ob als zu engagiert oder zu wenig involviert wahrgenommen – nie ein Problem an Schulen, sondern ein wichtiger Teil der Lösung. «Dass es diese gute Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrperson nicht immer gibt, liegt an der mangelnden Kommunikation», sagt Schulberater Peter Fratton. Nicht selten lernt man sich erst dann richtig kennen, wenn es Probleme gibt – statt sich von Beginn an und regelmässig über Erwartungen und Bedürfnisse auszutauschen.
2. Welchen Anteil haben Eltern am Bildungserfolg?
«Allen Anteil», sagt Primarlehrer Nils Landolt. Und weiter: «Es gibt keine Chancengerechtigkeit. Ich habe die Matura nur geschafft, weil ich bildungsaffine Eltern hatte.» Tatsächlich beträgt der Anteil der Kinder an Gymnasien, deren Eltern ebenfalls das Gymnasium besuchten oder über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, in der Schweiz siebzig Prozent – und das seit vielen Jahren.
Kognitive Fähigkeiten werden zum Teil genetisch vererbt. Einen sehr grossen Anteil aber hat die frühkindliche Förderung. Eltern, die viel und oft mit ihren Kindern sprechen, ihnen vorlesen, mit ihnen Brettspiele machen, sie mit ins Museum nehmen oder in den Zoo, sie in den Sportverein schicken oder ein Musikinstrument lernen lassen, verschaffen ihnen einen grossen Bildungsvorsprung – noch bevor sie überhaupt in die Schule kommen.

«Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass ein Kind das, was es an frühkindlicher Förderung verpasst, in der Schule kaum mehr aufholen kann», sagt Bildungsforscherin Melanie Häner-Müller. Den Schulen müsse man aber zugutehalten, dass die Unterschiede ab Schuleintritt zumindest nicht grösser werden. «Würde man nicht bereits nach sechs Schuljahren in verschiedene Leistungsniveaus selektieren, bliebe länger Zeit, Bildungsvorsprünge zu verringern», so Häner-Müller.
Eltern, die ihre Kinder zu Hause gut unterstützen, tragen wesentlich zur Schulqualität bei.
Urs Moser, Bildungsforscher
Auch wichtig: ein realistischer Blick auf die Zukunftschancen von Akademikerinnen und Akademikern. «Die sind heute nämlich gar nicht mehr so erfolgversprechend», sagt Nils Landolt. Ein Glück, wie er findet. «Dadurch werden die Ungerechtigkeiten ein wenig aufgeweicht.» In Bezug auf das spätere Einkommen der Kinder bedeutet das: «Hier ist die Chancengleichheit intakt», sagt Melanie Häner-Müller. Das liege auch am durchlässigen dualen Bildungssystem der Schweiz.
Urs Moser wünscht sich, dass die positiven Effekte des elterlichen Engagements für die Schule stärker wahrgenommen werden. «Eltern, die ihre Kinder zu Hause gut unterstützen, tragen wesentlich zur Schulqualität bei. Nicht nur das eigene Kind profitiert von einem anregenden Umfeld und klaren Strukturen zu Hause, sondern auch die Mitschüler und die Lehrpersonen.»
3. Können Kinder sich nicht mehr ausreichend konzentrieren?
An seiner eigenen Schule hat Daniel Hunziker immer montags einen Waldtag eingeführt. Der Grund: Nach dem Wochenende waren die Kinder voller Eindrücke und nicht bereit, Neues aufzunehmen. «Die Kinder waren zu lange vor dem Bildschirm gesessen und hatten sich zu wenig bewegt», sagt der Schulleiter. Unterhält man sich mit Lehrkräften, kennen viele dieses Montagsphänomen.
Biologisch ist es recht schnell erklärt: Damit Menschen sich konzentrieren können, müssen grundlegende physiologische Bedürfnisse erfüllt sein. Dazu gehören: ausreichend Schlaf, eine gesunde Ernährung, um das Gehirn stetig mit Energie zu versorgen, regelmässige Bewegung, weil das Gehirn auch Sauerstoff braucht und weil die Bewegung die Bildung neuer Nervenzellen anregt.
Die Schule bereitet Kinder auf eine Gesellschaft vor, in der der Wert von Menschen an ihren Leistungen ausgerichtet ist.
Philippe Wampfler, Gymnasiallehrer
«Ausserdem können wir nicht ständig nur Inhalte aufnehmen. Kinder brauchen auch Zeit, um sich zurückzuziehen und Dinge zu verarbeiten», so Hunziker. Gerade das sei bei der Handynutzung aber meist nicht der Fall, hier werde vor allem konsumiert. Kommen Kinder morgens nun in einem Zustand in die Schule, in dem ihre physiologischen Bedürfnisse im Ungleichgewicht sind, hat es eine Lehrperson schwer.
Aber selbst Kinder, die sich eigentlich gut konzentrieren können, schweifen im Unterricht gern mal ab – weil sie über- oder unterfordert sind oder ihre individuell verschiedenen Lernbedürfnisse nicht erfüllt werden. Daniel Hunziker beobachtet, dass Schülerinnen und Schüler einen Unterricht, der sie nicht abholt, heute auch nicht mehr widerstandslos über sich ergehen lassen. «Früher waren die Kinder hier sicherlich angepasster. Dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen, ist auch ein Teil der Entwicklung, bei der wir selbstbestimmtere und kritischere Kinder wollen.»
4. Warum gehen immer mehr Schüler mit Angst oder gar nicht zur Schule?
Ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz ist laut einer Unicef-Studie von psychischen Problemen betroffen, darunter auch Angst und Depressionen. Manche Einflussfaktoren liegen bei den Schülerinnen, andere im Elternhaus, wieder andere in der Schule, nicht selten kommen verschiedene Dinge zusammen. Kein Wunder, findet Lehrer Philippe Wampfler. «Die Schule bereitet Kinder auf eine Gesellschaft vor, in der der Wert von Menschen an ihren Leistungen ausgerichtet ist. Es ist für alle Menschen stressig, funktionieren zu müssen. Deshalb belastet das natürlich auch Schülerinnen und Schüler.»
Bestätigen kann dies Lily Houben von der Schülerorganisation USO. Die Gymnasiastin beobachtet bei vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen eine sogenannte Misserfolgshaltung. Dadurch, dass Noten und Prüfungen primär die Defizite aufzeigen, entstehe automatisch eine Angst davor, nicht gut genug zu sein. «Es sollte aber doch eigentlich so sein, dass man sich als Schülerin etwas zutraut und zeigen darf, wo die eigenen Stärken liegen», so Houben.
Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerverbandes, möchte die psychischen Probleme von Schülerinnen und Schülern nicht kleinreden – aber richtig einordnen. «Wir haben diese Zahlen auch deshalb, weil wir für psychische Störungen besser sensibilisiert und diese heute weniger tabuisiert sind.» Das bedeutet: Wenn Schüler betroffen sind, werden sie von Schulpsychologinnen oder Lehrpersonen auch eher angesprochen und unterstützt als früher.
5. Werden Schüler zu stark nach Defiziten beurteilt?
ADHS, Autismus, Borderline, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Dyskalkulie sind nur einige der Auffälligkeiten, für die Kinder heute eine Diagnose erhalten. Wichtig zu verstehen ist, warum das passiert. «Das System ist nun mal so, dass man eine Diagnose braucht, um überhaupt Hilfe durch eine Fachperson wie etwa eine Heilpädagogin zu erhalten», sagt Dagmar Rösler.
Diese Hilfe brauchen manche Kinder auch deswegen, weil sie in einer Klasse sitzen, in der alle das Gleiche lernen. Und lernen sie in ihrem individuellen Tempo, was an einigen Schulen inzwischen möglich ist, schreiben sie am Ende meist dennoch die gleichen Prüfungen. «Ginge das Schulwesen davon aus, dass es normal ist, verschieden zu sein, wäre manche Diagnose vermutlich nicht nötig», sagt Erziehungswissenschaftlerin Maja Kern.
Druck entsteht nicht durch die Note, sondern dadurch, wie mit dieser umgegangen wird.
Urs Moser, Bildungsforscher
Dagmar Rösler sieht darin ein Problem, das weit über die Schule hinausgeht. «Unsere ganze Gesellschaft ist danach ausgerichtet, nach Defiziten zu schauen und Schwächen hervorzuheben, statt das zu betonen, was gut läuft.» Gerade für Heranwachsende hält der Schulleiter Dieter Rüttimann diese defizitär- statt ressourcenorientierte Schulkultur aber für besonders ungünstig. «Ihre Selbstwirksamkeit muss sich ja noch entwickeln, und das ist dazu sicher nicht förderlich.»
Trotzdem muss man nicht gleich das ganze Schulsystem umkrempeln, um etwas zu verändern, findet Lehrer Dani Burg. Er ruft zweimal im Jahr die Eltern aller seiner Schülerinnen und Schüler an und erzählt ihnen nur Gutes über ihre Kinder. «Umgekehrt wünsche ich mir von den Eltern, dass sie zu Hause nach positiven Lernerlebnissen statt nach Noten fragen und ihre Kinder so nehmen, wie sie sind, und sie nicht in ihre Bildungsvision hineinzwängen.»
6. Sind Noten noch zeitgemäss?
Kontrovers diskutiert werden Noten seit 50 Jahren. Lange schon ist erforscht, dass sie sehr willkürlich und subjektiv sind, für erfolgreiche Lernprozesse wenig förderlich und allenfalls Vergleiche innerhalb einer Klasse ermöglichen. «Trotzdem gehören Noten in allen Deutschschweizer Kantonen immer noch zum schulischen Inventar und geniessen eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, weil sie leicht verständlich sind», sagt Urs Moser.
Was den negativen Blick auf die Noten in den letzten Jahren verstärkt hat, ist die gewachsene Heterogenität in den Klassen. Da weiterhin alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Tests schreiben, werden die grossen Leistungsunterschiede innerhalb vieler Klassen deutlich – was Druck bei den Kindern erzeugen kann. Vielerorts wurden die Noten deswegen vor allem in den unteren Klassen durch Farbskalen, Smileys oder Worte ersetzt. Urs Moser hält wenig davon. «Solange die Schule weiter ihre Selektionsfunktion wahrnimmt und der soziale Vergleich in unserer Gesellschaft und insbesondere bei den Eltern stark verankert ist, sind solche Bewertungen nichts anderes als verkappte Noten.»
Entweder baut man also das ganze Schulsystem um, sodass man gar keine Noten mehr braucht, und entwickelt sich gleichzeitig gesellschaftlich weg von der Leistungsorientierung. Oder man steht zu beidem – und bewertet Leistungen deshalb weiter. Auch dann müssen Noten aber nicht zwingend Druck erzeugen, findet Urs Moser. «Dieser entsteht nicht durch die Note an sich, sondern dadurch, wie mit der Note umgegangen wird.» Eine wichtige Aufgabe von Lehrpersonen wie Eltern sieht er darin, den Schülerinnen und Schülern klar zu erläutern, welche Bedeutung eine Note oder eine andere Bewertungsskala hat – und wo ihre Grenzen liegen.
Denn Noten sind schon heute in fast allen Schulen nur noch eine von vielen Quellen, die in eine ganzheitliche Beurteilung einfliessen. Um den Prozess des Lernens zu unterstützen, brauchen Kinder zusätzlich ein aussagekräftiges Feedback – etwa in Form von persönlichen Gesprächen oder Lerntagebüchern. Indem man ihnen ihre individuellen Fortschritte aufzeigt statt nur ihre Defizite, wird ihre Motivation gestärkt.
Vonseiten der Lehrpersonen hört Bildungsexpertin Rahel Tschopp oft, dass ein solches Feedback viel mehr Zeit brauche als Noten. «Das ist eine organisatorische Frage. Im Kanton Thurgau sind nun für ein solches Coaching Zeitgefässe im Stundenplan vorgesehen. Die Gespräche sind damit in den schulischen Alltag integriert.»
7. Werden zu viele Prüfungen geschrieben?
Die Frage könnte auch lauten: Warum gibt es in der Schule überhaupt Prüfungen? «Die Volksschule hat einen Selektionsauftrag», sagt Schulleiter Daniel Hunziker. Solange die ganze Gesellschaft darauf aufgebaut sei, Kinder durch unterschiedliche Schulen auf verschiedene Berufe vorzubereiten, sind Noten und Prüfungen die Mittel für den Selektionszweck.
Prüfungen erfüllen aber auch noch andere Funktionen. «Oft werden sie dann geschrieben, wenn die Sinnhaftigkeit für Lerninhalte und damit auch die Motivation, etwas zu lernen, verloren gegangen sind», sagt Hunziker. Tests und Noten seien dann eine Art Ersatzmotivation, um Schülerinnen und Schüler zum Lernen zu bewegen.
Wenn die Lernziele klar kommuniziert sind, braucht es keine künstliche Prüfungssituation mehr.
Philippe Wampfler, Gymnasiallehrer
Prüfungen sind aber auch dazu da, damit Lehrpersonen wie Schüler sehen, was vom Lernstoff verstanden wurde. «Dazu braucht es aber sicher nicht immer eine schriftliche Prüfung, das lässt sich auch über eine Projektarbeit oder eine Präsentation machen, dann wäre das Lernen nicht so einseitig», findet Lily Houben.
Philippe Wampfler geht noch einen Schritt weiter: «Wenn die Lernziele klar kommuniziert sind, braucht es nicht mehr zwingend eine künstliche Prüfungssituation.» Dann wüssten die Kinder, was von ihnen erwartet wird, und könnten diese Dinge lernen. Und die Lehrpersonen sähen jederzeit, ob die Anforderungen erfüllt werden. «Ich würde mir wünschen, dass es an der Schule mehr so abläuft», sagt Wampfler.
8. Sind Ufzgi lediglich ein Kontrollmechanismus für die Eltern?
«Eltern wollen die Hausaufgaben oft als Fenster zur Schule», sagt LCH-Präsidentin Dagmar Rösler. Ein Argument für die Hausaufgaben sieht sie darin nicht. «Lehrpersonen und Eltern können sich auch andere Wege überlegen, wie man diesen Einblick gewähren kann, beispielsweise über Lerntagebücher.» Das käme vor allem den Schülerinnen und Schülern zugute, die zu Hause keine Unterstützung bei den Hausaufgaben erhalten. «Sind die Aufgaben so gestellt, dass die Kinder sie nicht allein lösen können, sind sie häufig Anlass für Familienkonflikte und vergrössern die Leistungsunterschiede der Kinder zusätzlich», sagt Lehrer Peter Sutter.
Daneben gibt es Hausaufgaben, die Lily Houben als «reine Beschäftigungstherapie» bezeichnet. Da Kinder und Jugendliche heute ohnehin viel mehr Zeit in der Schule verbrächten als früher, sollten sich Lehrpersonen genau überlegen, welche Art von Aufgaben für zu Hause wirklich sinnvoll sind. «Gut finde ich Hausaufgaben zum Beispiel dann, wenn es darum geht, Dinge zu wiederholen, um sie im Langzeitgedächtnis abzuspeichern», sagt die Gymnasiastin.
9. Findet die Selektion an Schulen zu früh statt?
«Auf jeden Fall, und zwar zum denkbar ungünstigsten Moment», sagen nicht nur Dozent Dieter Rüttimann und Schulleiter Nicolas Rüttimann. Mit zwölf Jahren liegt der Übertritt auf eine andere Schule kurz vor oder mitten in der Pubertät. Von der Entwicklung her ist das für sehr viele Schülerinnen und Schüler zu früh – insbesondere für Jungs, deren Entwicklung oft zwei Jahre hinter der von Mädchen liegt. Denn erst im Lauf der Pubertät festigt sich langsam die eigene Persönlichkeit. Neigungen und Vorstellungen werden stabiler. Die Gehirnbereiche, die eine zentrale Rolle spielen für kognitive Kontrolle, Entscheidungsfindung und Selbstregulation, reifen jetzt erst langsam.
Die Selektion findet zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt statt.
Dieter und Nicolas Rüttimann, Schulleiter
Das alles führt dazu, dass zu viel Potenzial von Kindern nicht richtig entdeckt, gefördert und ausgebildet wird, was sich später auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht. Kurz: «Es zeigt sich empirisch, dass die Selektion zu früh erfolgt», sagt Roland Reichenbach. «Aber auch ein längeres gemeinsames Lernen würde natürlich nicht alle Probleme der Schule lösen, sondern womöglich neue schaffen, die dann gelöst werden müssten.»
Denn differenzieren wird und muss die Schule weiterhin, dafür sind Kinder in ihren Fähigkeiten und Interessen einfach zu unterschiedlich. Statt von aussen durch einen Schulwechsel passiert das dann innerhalb der Schule beziehungsweise innerhalb einer Klasse. Wie gelingt es da, starke Kinder weiter zu fördern – aber eben auch schwächere, damit sie nicht zu früh als solche abgestempelt werden? Kurz: Wenn die Selektion abgeschafft werden soll, muss geklärt werden, wie dieses längere gemeinsame Lernen aussehen soll, damit Entwicklungschancen wirklich offen bleiben.
10. Was macht eine gute Lehrperson aus?
Forscherinnen und Forscher sagen schon lange: Gute Lehrpersonen sind entscheidend dafür, dass Kinder gern in die Schule gehen und gut lernen. Nur: Wann ist eine Lehrperson gut? «Wer Kinder unterrichtet, muss sie gernhaben und auch als Menschen wahrnehmen», sagt der Lehrer Felix Christ. Was banal klingt, umfasst die Qualität der Beziehung: eine Begegnung auf Augenhöhe mit Geduld und Beharrlichkeit, ein Blick auf alle Kinder in einer Klasse, und zwar nach ihren Fähigkeiten, Entwicklungen und Bedürfnissen und mit einem regelmässigen Feedback über ihre Lernfortschritte.
Dazu kommen ein spannender Unterricht, den es vor- und nachzubereiten gilt, Zeit für den Austausch mit anderen Lehrpersonen und Eltern sowie regelmässige Weiterbildungen. Kurz: sehr viele Aufgaben, kombiniert mit einer gewachsenen Heterogenität bei Schülerinnen und Schülern sowie Personallücken an Schulen.

«Da die Ressourcen von Lehrpersonen aber endlich sind und man auch auf sich achten muss, scheint mir eine der wichtigsten Fähigkeiten heutzutage zu sein, dass man gut und richtig priorisieren kann. Nur so gelingt es, möglichst vielen Kindern, sich selber und all den Bedürfnissen, Aufgaben und Ansprüchen gerecht zu werden», sagt Lehrer Sammy Frey. Das heisst manchmal auch: nicht zu viel zu wollen. «Nicht alles, was gut wäre, lässt sich auch realisieren. Dies zu akzeptieren und auch mal die Fünf ohne schlechtes Gewissen gerade sein lassen zu können, ist zentral», sagt Schulpsychologe Peter Sonderegger. Gerade Berufseinsteiger brauchen dabei Unterstützung.
Aber auch von erfahrenen Lehrpersonen, die es bedauern, ihren Beruf ergriffen zu haben, hört Sammy Frey oft: Ich schaffe einfach nicht mehr alles. Unterrichten in Teams wäre ein Weg, um Erfahrungen an jüngere Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben und die vielen Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen.
11. Warum gibt es zu wenige Lehrpersonen?
«Als Lehrperson hat man enorm viele Freiheiten. Und in keinem anderen Land verdient man in diesem Beruf so viel wie in der Schweiz», sagt Nicolas Rüttimann. Das klingt eigentlich nach einem Job, der viele junge Menschen locken müsste – zumal der Beruf in der Gesellschaft obendrein noch hoch angesehen ist. Genau das aber spüren viele Lehrpersonen in ihrem Alltag oft nicht. Schlagzeilen über bildungspolitische Fremdbestimmung, fehlende Karrieremöglichkeiten, über Gewalt und Burnout oder viele Überstunden dominieren die Berichterstattung – und haben auch einen wahren Kern.
Die Anforderungen an Lehrpersonen sind grösser geworden, viele Strukturen aber gleich geblieben. «Wir wissen, dass Lehrpersonen am meisten belastet sind durch verhaltensauffällige Kinder. Diese führen immer wieder sehr direkt zu Kündigungen», sagt Peter Sonderegger. Er wünscht sich ein Konzept, in dem vermehrt die ganze Schule die Verantwortung für solche Kinder trägt und dadurch einzelne Lehrpersonen entlastet werden.
Eine Möglichkeit ist das Unterrichten in Teams. «Dies fördert die Berufszufriedenheit der Lehrpersonen und verbessert die Leistungen bei den Kindern», sagt Dieter Rüttimann. Peter Fratton würde noch einen Schritt weiter gehen und die Klassen zugunsten von Leistungsteams auflösen, den Lehrplan auf wenige Seiten straffen und den Lehrpersonen möglichst viel Bürokratie ersparen, «damit sie wieder mehr Zeit für die Kinder haben».
Roland Reichenbach bringt noch einen anderen Gedanken ins Spiel. «Würden weniger Lehrpersonen Teilzeit arbeiten, sähe die Personallücke anders aus. Aber genau diese Möglichkeit, Familie und Beruf gut vereinbaren zu können, macht den Beruf ja auch so beliebt.»
12. Braucht es mehr Männer an den Primarschulen?
Derzeit sind von den Lehrkräften auf der Primarstufe 1 und 2 (Kindergarten oder die ersten beiden Jahre der Eingangsstufe) nur etwa 6 Prozent männlich, auf der Stufe 3 bis 8 etwa 17 Prozent. Könnte man mehr Männer an die Schulen locken, würde das also auch dem Lehrpersonenmangel zugutekommen.
Dem im Weg stehen, da sind sich Bildungsforschende einig, vor allem die fehlenden Karrieremöglichkeiten, die Männer eher vermissen als Frauen. «Wer Lehrer wird, ist sein ganzes Berufsleben lang Lehrer. Der Wechsel in die Schulleitung ist eine der wenigen Alternativen», sagt Felix Christ.
Entscheidend ist nicht, was man weiss, sondern was man mit dem Wissen tun kann.
Christian Müller, Bildungsunternehmer
Weit verbreitet ist auch die Meinung, dass der Mangel an männlichen Lehrpersonen dazu beiträgt, dass Jungs im Durchschnitt schlechter in der Schule sind als Mädchen. Diesen Zusammenhang aber konnte eine umfassende Überblicksstudie am Wissenschaftszentrum in Berlin klar widerlegen.
Was dort nicht untersucht wurde: Ob den Jungs männliche Lehrer als positive Vorbilder fehlen oder diese für ihre emotionale Entwicklung wichtig wären. «Solche Dinge lassen sich schwer messen. Aber für mich ist es naheliegend, dass es Jungs guttun würde, zu sehen: Auch Männer können in pädagogischen Berufen arbeiten oder fürsorglich sein», sagt Pädagoge Roland Reichenbach. Und er fragt sich: Warum wird so viel dafür getan, mehr Mädchen für Mint-Fächer zu begeistern – aber nichts dafür, um bei Jungs das Interesse für die sozialen Fächer zu fördern?
13. Welche Inhalte muss die Schule heute noch vermitteln?
Navigieren tut das Handy, Essen zubereiten der Thermomix, kaputte Klamotten wirft man einfach weg: Also muss keiner mehr Kartenlesen, Kochen oder Nähen lernen. Nur: Wusste man das vor 40 Jahren schon? Gilt das in 40 Jahren immer noch? Wer weiss, welches Wissen ein sechsjähriges Kind braucht, wenn es mit der Schule fertig ist?
«Inhaltliche Kompetenzen sollten in der Schule heute nicht mehr im Zentrum stehen», sagt Daniel Hunziker. Zumal man mit einem Klick auf das gesamte Wissen der Menschheit zugreifen kann. Dennoch wird in 60 bis 80 Prozent der Schulzeit reines Faktenwissen vermittelt, das schätzt zumindest der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie.

Faktenwissen ist auch das, was in gängigen Prüfungen abgefragt wird – weil es sich gut messen lässt. «Entscheidend ist aber nicht, was man weiss, sondern was man mit Wissen tun kann», sagt der Unternehmer Christian Müller. Um Wissen anzuwenden, braucht es neben Fachwissen noch ganz andere Kompetenzen. Daniel Hunziker zählt folgende auf: Neugierde, Ausdauer, Kommunikationsfähigkeit, Frustrationstoleranz.
«Die Fähigkeit, Theorie und Praxis zu verbinden, lebenslang dazulernen wollen, gemeinsam arbeiten und Konflikte lösen können», nennt Schulberater Peter Fratton weitere. So lassen sich relevante Informationen finden, hinterfragen und sinnvoll verknüpfen und können Probleme verstanden und kreativ gelöst werden, statt nur Antworten zu reproduzieren.
Damit Schulen sich verstärkt um die Förderung solcher Kompetenzen kümmern können, brauchen sie den Fachleuten zufolge vor allem eins: weniger Stoff in den Lehrplänen. Roland Reichenbach dagegen ist ein grosser Verfechter von Faktenwissen und Auswendiglernen. «Wer etwas über Bäume oder Architektur weiss, hat eine ganz andere Sichtweise auf diese Dinge und stellt andere Fragen.»
14. Was ist guter Unterricht?
Vielleicht müsste die Frage auch lauten: Was will guter Unterricht? «Er hat nicht unbedingt einen perfekten Ablauf, sondern wirkt nach. Wenn die Kinder am Ende der Stunde mehr Fragen haben als zu Beginn, dann war die Stunde gut», sagt Christian Müller.
«Entscheidend sind nicht eine ausgefeilte Methodik und Didaktik, sondern eine starke Fokussierung auf die Lernprozesse der Kinder», findet Dieter Rüttimann. Unterricht ist folglich dann gut, wenn er von einer guten Lehrperson gegeben wird. Denn bei dieser steht die gute Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern im Mittelpunkt.
«Mir ist wichtig, dass die Themen die Kinder interessieren, sie eine Sinnhaftigkeit erkennen, auch selbst entscheiden dürfen, was und wie sie lernen wollen, und Selbstwirksamkeit erfahren», sagt Lehrer Dani Burg. Letztere würden die Kinder eher nicht erleben, wenn sie nur Arbeitsblätter ausfüllen oder zuhören. «Aber sie erfahren Selbstwirksamkeit, wenn sie eigene Projekte organisieren und durchführen, wenn sie anderen Mitschülerinnen oder Mitschülern helfen oder mal eine Veranstaltung planen», nennt Burg einige Beispiele.
15. Ist die integrative Schule gescheitert?
Alle Kinder – unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten oder einem Förderbedarf – haben in der Schweiz seit gut zehn Jahren ein Recht darauf, eine Regelklasse in der Volksschule zu besuchen. Die Idee, die der integrativen Schule zugrunde liegt, basiert auf der Menschenrechtskonvention und dem Behindertengleichstellungsgesetz.
Wirklich glücklich ist damit in den Schulen niemand. Nicht wegen der Idee an sich. Sondern weil die Umsetzung bislang nicht richtig gelungen ist. «Das Schulsystem funktioniert in seiner Grundstruktur noch so wie vor 100 Jahren, die Kinder werden aber immer unterschiedlicher. So ist die integrative Schule zum Scheitern verurteilt», sagt Christian Müller.
Gerade wenn es an Personal fehlt, muss man doch Synergien nutzen, Teams bilden, die Klassenverbände aufbrechen.
Rahel Tschopp, Schulberaterin
Die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder hat in den letzten Jahren in vielen Klassen rund 20 Prozent erreicht. Dazu kommen Schwache mit Förderbedarf, Hochbegabte, Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Auf der anderen Seite: ein wachsender Lehrpersonenmangel. Was dazu führt, dass sich Studien zufolge die Lehrerinnen und Lehrer durch die integrative Förderung enorm belastet fühlen. «Kleinere Klassen wären toll», sagt Dagmar Rösler. Dazu mangle es an vielen Schulen aber an Räumen. Weshalb sie sich wünscht, dass zumindest zwei Lehrpersonen pro Klasse zum Standard werden.
Rahel Tschopp findet das «Ich und meine Klasse»-Denken an Schulen nicht mehr zeitgemäss, um der gewachsenen Heterogenität und all den damit verbundenen Herausforderungen gerecht werden zu können. «Gerade wenn es an Personal fehlt, muss man sich doch gegenseitig unterstützen, Synergien nutzen, Teams bilden, die Klassenverbände aufbrechen», so Tschopp. Sie wünscht sich mehr Mut von den Lehrpersonen, solche Dinge an ihren Schulen anzupacken – statt auf die grosse Reform vonseiten der Politik zu warten. «Schulen und Lehrpersonen haben hier viel mehr Freiräume, als sie denken», sagt Rahel Tschopp.
Ein grosses Vorbild für funktionierendes Lernen in sehr heterogenen, altersdurchmischten Gruppen sieht Schulleiter Daniel Hunziker in den Kindergärten. «Hier klappt die Integration besser als auf der Primarschulstufe, weil das Normfeld einfach grösser ist, in dem sich die Kinder bewegen können.»
Dann kämen diese Kinder in eine Schule, in der sehr viel weniger Raum für individuelle Abweichungen sei. «Integration bedeutet aber nicht nur, dass sich die Kinder anpassen müssen, sondern auch die Schule», findet Hunziker und empfiehlt: «Nicht der Kindergarten sollte verschult werden, vielmehr sollte sich die Schule den Kindergarten zum Vorbild nehmen.»
16. Ist Homeschooling eine gute Entwicklung?
Mehr als 4000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz werden der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren zufolge zu Hause unterrichtet – das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor sechs Jahren. Laut den Fachleuten ist es eine logische Antwort darauf, dass die Unzufriedenheit mit dem staatlichen Schulsystem wächst. «Und wer sich keine Privatschule leisten kann, für den ist Homeschooling die einzige Alternative und damit ein verständlicher Trend», sagt Nils Landolt.
Kinder, die in eine Schule gehen, müssen lernen, sich in eine andere Gemeinschaft als ihre Familie einzufügen. Das ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe.
Peter Sonderegger, Schulpsychologe
Wenn es rein um die Bildung geht, fahren viele Schülerinnen und Schüler damit sicher gut. «Homeschooling machen meist Eltern aus höheren Bildungsschichten», sagt Lehrer Felix Christ. Oft organisieren sie sich in kleinen Lerngruppen, in vielen Kantonen ist zudem vorgeschrieben, dass die unterrichtende Person ein anerkanntes Lehrdiplom hat.
Allerdings ist Schule mehr als Englisch, Mathematik oder Physik. «Kinder, die in eine Schule gehen, müssen sich ausserhalb des Elternhauses bewähren. Sie müssen sich mit anderen Kindern auseinandersetzen, die verschiedenste Hintergründe haben. Sie müssen lernen, sich in eine andere Gemeinschaft als ihre Familie einzufügen», sagt Peter Sonderegger. Das sei keine einfache, aber eine sehr wichtige Entwicklungsaufgabe.
17. Brauchen wir eine freie Schulwahl?
Volksschulen werden vom Staat finanziert, die Kinder nach Wohnort zugeteilt. Wollen Eltern oder Kinder das nicht, gibt es Privatschulen als Alternative. Deren Ausbildungskosten aber tragen die Eltern – was die freie Schulwahl einschränkt. Würde das Geld nicht direkt an die Schulen gehen, sondern als Pro-Kopf-Pauschale pro Kind an die Eltern, hätten diese mehr Entscheidungsmöglichkeiten.
Die Idee geistert seit vielen Jahren durch die Schweiz, stösst aber auch auf viel Widerstand. Die Befürchtung: Die Volksschulen könnten ausbluten – als letzte Orte, an denen Kinder unterschiedlicher Herkunft und Bildung gemeinsam lernen.
Selbst wenn an der Schule kein Wissen vermittelt würde, brauchen wir ihre soziale Funktion.
Roland Reichenbach, Bildungswissenschaftler
«Schule hat einen wichtigen gesellschaftlichen Auftrag. Selbst wenn dort kein Wissen vermittelt würde, brauchen wir ihre soziale Funktion», sagt Bildungswissenschaftler Roland Reichenbach. Studien aus Ländern mit freier Schulwahl zeigen aber auch: Sind die staatlichen Schulen gut, bleiben die Schüler auch dort, weil die Eltern sich gern für die nächstgelegene Schule entscheiden.
Schulleiter Nicolas Rüttimann kann der Idee der freien Schulwahl viel abgewinnen: Alle Schulen, private wie öffentliche, müssten sich mit attraktiven Bildungsangeboten und hoher Unterrichtsqualität mehr um Schülerinnen und Schüler bemühen. Und da die finanziellen Ressourcen von der Schülerzahl abhingen, würden Schulen gezielter mit den Geldern umgehen.

Auch Daniel Hunziker betont die Vorteile von mehr Wettbewerb im Bildungswesen: «Im besten Fall würde das dazu führen, dass sich die Schulen ein klares Profil geben, die dazu passenden Lehrpersonen auswählen und dann Schüler kommen, zu deren Bedürfnissen dies passt.»
Nils Landolt zufolge gehen die Meinungen in der Gesellschaft darüber, wie Schule zu sein hat, derzeit diametral auseinander. «Wenn wir uns darauf einigen, dass wir da uneinig sind, kämen wir in der Entwicklung schneller voran, weil alle die Wahl haben und niemand zum selben Glück gezwungen wird.»
18. Wie sieht ein Schulhaus aus, in dem sich Kinder wohlfühlen?
Schon in den 1960er-Jahren prägte der italienische Erziehungswissenschaftler Loris Malaguzzi den Satz vom «Raum als dritten Pädagogen», der neben Mitschülerinnen und Lehrern eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob Kinder gut lernen können. Denn Räume erzeugen immer eine Stimmung. Das kann Geborgenheit sein oder Unbehagen, Angst oder Sicherheit. Ein Raum wirkt einladend oder abweisend, beruhigend oder anregend. Er kann verschiedene Unterrichtsformen wie Einzel- und Gruppenlernen, konzentriertes Arbeiten oder lebhaftes Diskutieren fördern – oder erschweren.
«Eine Schule sollte so geplant sein, dass in den Räumen verschiedene Lern- und Sozialformen möglich sind», sagt Dani Burg. Wie viele andere Experten auch, die den Klassenzimmern eine grosse Bedeutung für gutes Lernen zuschreiben, ist er ein Fan von Lernlandschaften. «Wir brauchen nicht lauter Räume, die alle gleich aussehen, wenn darin so verschiedene Tätigkeiten wie Malen, konzentriertes Arbeiten oder Forschen stattfinden», sagt auch Rahel Tschopp.
19. Was sind die Potenziale und Herausforderungen von KI in Schulen?
«Verlernen Kinder dadurch nicht grundlegende mathematische Fähigkeiten?» Das war die grösste Sorge, als es in den 1980er-Jahren darum ging, Taschenrechner in den Schulen einzuführen. Mathe-Lehrpersonen gibt es bis heute, Kopfrechnen ebenso. Ganz ähnlich sieht Digitalexperte Tobias Röhl das bei der künstlichen Intelligenz (KI). «Man sollte sie nicht überschätzen und als Allheilmittel sehen, um Schulen besser zu machen. Aber KI gehört in die Schulen.» Einmal, weil sie grosse Potenziale mitbringt, um Unterricht besser zu machen. «Es ist viel einfacher geworden, Texte und Aufgaben zu erstellen, die auf die individuellen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern eingehen», so Röhl.
Insbesondere im Fremdsprachenunterricht sieht Rahel Tschopp viele Vorteile. «Es ist doch sinnvoll, wenn ich mit der Software ChatGPT mündlich auf Englisch über das Thema diskutieren kann, das in NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft) bearbeitet wird.» Aufseiten der Lehrpersonen wiederum übernimmt KI im Idealfall zeitaufwendige Routineaufgaben. «KI kann ich beispielsweise bei der Unterrichtsvorbereitung einsetzen oder wenn ich eine Einladung zum Elternabend schreibe», sagt Tobias Röhl. Das wiederum schaffe Spielraum für wichtigere Aufgaben, allen voran für die Beziehungsarbeit mit den Schülerinnen und Schülern.
Schülerinnen und Schüler werden sich zunehmend fragen, warum sie etwas lernen sollen, das die KI besser kann als sie.
Beat Döbeli Honegger, Informatikdidaktiker
Dass KI schon längst in den Schulen angekommen ist, zeigt eine Aussage von Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen: In der Sekundarschule nutze rund jeder dritte Jugendliche wöchentlich Programme wie ChatGPT für schulische Aufgaben im Unterricht oder zu Hause.
«KI wird keine Lehrperson ersetzen, sondern deren Bedeutung für gute Bildung noch wichtiger machen», ist Tobias Röhl überzeugt. Denn KI mache Fehler, berge Risiken, es ergäben sich viele Datenschutzfragen. «Schule ist ein guter Ort, um Kindern einen verantwortungsvollen Umgang damit beizubringen», so Röhl weiter. Er betont jedoch auch, dass Lehrpersonen Unterstützung dabei brauchen, KI verantwortungsvoll und didaktisch gewinnbringend in den eigenen Unterricht einzubinden. «Hier können Weiterbildungen, aber auch neue Lehrmittel und Onlineressourcen weiterhelfen», sagt er.
Die Diskussion über ein Handyverbot an Schulen ist eigentlich überflüssig.
Dagmar Rösler, Lehrerin
Der Informatikdidaktiker Beat Döbeli Honegger hält es für unabdingbar, dass Lehrpersonen selbst mit den Systemen experimentieren. «Diese Erfahrungen sollten sie dann auch im Kollegium und mit der Schulleitung diskutieren», so Döbeli Honegger. Eine grosse Herausforderung sieht er darin, die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern hochzuhalten. «Sie werden sich zunehmend fragen, weshalb sie etwas lernen sollen, das die Maschine rascher und besser kann als sie.» Eine zentrale Aufgabe von Lehrpersonen wird es sein, darauf gute Antworten zu finden – ähnlich wie das beim Taschenrechner oder beim Aufkommen des Internets der Fall war.
20. Brauchen Schweizer Schulen ein Handyverbot?
Frankreich und Italien haben es schon lange, immer mehr Länder haben nachgezogen, zuletzt Belgien und Lettland: Die Rede ist von einem staatlich geregelten, einheitlichen Verbot von privaten Handys an Schulen. In der Schweiz obliegt die Bildungshoheit den Kantonen, weshalb es keine einheitlichen nationalen Vorgaben gibt.
«Die Diskussion darüber ist eigentlich auch überflüssig», findet Dagmar Rösler. Sie kennt keine Schule, die nicht längst eine Regelung gefunden hat, wie mit Handys umgegangen wird – sodass sie im Unterricht und meist auch in den Pausen zu privaten Zwecken nicht genutzt werden. Denn sowohl aus Studien wie auch aus praktischen Erfahrungen der Lehrpersonen weiss man: Digitale Geräte haben eine extrem hohe Reizdichte, bergen ein grosses Suchtpotenzial, lenken selbst im ausgeschalteten Zustand vom Unterricht ab, verhindern in den Pausen, dass die Schülerinnen und Schüler miteinander kommunizieren, und eröffnen zusätzliche Wege für Mobbing.
«Davor müssen wir die Kinder und Jugendlichen schützen. Aber ein einfaches Verbot an Schulen löst diese Probleme nicht», findet Primarlehrer Nils Landolt. Nur weil die Geräte zu Hause bleiben, haben die Schülerinnen und Schüler noch keinen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang damit gelernt. «Auch die Vorbildfunktion von Erwachsenen spielt eine grosse Rolle. Wie sie ihr Smartphone nutzen, beeinflusst das Verhalten der Kinder stark», so Dagmar Rösler.
Leonard Sommer: Wenn Schule auf Ideen bringt. 100 Kreative denken Lernen neu. Vahlen 2023, 448 Seiten, ca. 67 Franken.
Nicola Schmidt: Artgerecht. Das andere Schulkinder-Buch. Kösel 2024, 320 Seiten. ca. 25 Franken.
Oskar Jenni (Hrsg.): Kindheit. Eine Beruhigung. Kein & Aber 2024, 256 Seiten, ca. 25 Franken.
Bob Blume: Warum noch lernen? Wie Schule in Zeiten von KI, Krisen und sozialer Ungerechtigkeit aussehen muss. Mosaik 2024, 302 Seiten, ca. 25 Franken.
Stefan Ruppaner, Anke Willers: Das könnte Schule machen. Wie ein engagierter Pädagoge unser Bildungssystem revolutioniert. Rowohlt Taschenbuch 2025, 240 Seiten, ca. 23 Franken.