Geht individualisiertes Lernen an der Volksschule überhaupt?
Viele Eltern wünschen sich, dass ihr Kind in der Schule seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert wird. Aber was heisst das eigentlich? Und kann der Lehrplan 21 das ermöglichen?
Der Morgen beginnt im Sitzkreis. Die Lehrperson gibt einen kleinen Input zum Thema, dann wählen die Kinder sich Aufgaben nach verschiedenen Schwierigkeitsgraden aus. Manche setzen sich zum Arbeiten allein auf ein Sitzkissen, andere nehmen an einem Gruppentisch Platz. Wer Unterstützung braucht oder neue Aufgaben, geht zur Lehrperson an den Beratungstisch.
Mit der Unterrichtsanlage des sogenannten Churer Modells setzen inzwischen viele Lehrpersonen in der Schweiz die individuelle Förderung innerhalb des Klassenzimmers um. Und damit das, was sehr viele Eltern möchten: In der Befragung der Stiftung Mercator Schweiz zum Thema «Welche Schule will die Schweiz?» gaben knapp 80 Prozent der Befragten an, dass sie sich einen Unterricht wünschen, in welchem jedes Schulkind gemäss eigenem Tempo und eigenen Fähigkeiten lernen kann.
Dass man sich auch mal anpassen und seine eigenen Bedürfnisse zurückstellen muss, ist heute für viele Kinder schwierig.
Arno Ulber, Heilpädagoge
«Als wir vor 14 Jahren in den ersten Klassen mit dem Churer Modell gestartet sind, haben wir viele Ideen aus dem Kindergarten übernommen», sagt Arno Ulber, Studiengangsleiter Schulische Heilpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Graubünden. Ulber war bei der Entwicklung des Churer Modells als fachlicher Berater beteiligt und gibt Weiterbildungen zum Thema.
Denn auch im Kindergarten wird mit Kindern gearbeitet, die aufgrund verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringen – und die es gewohnt sind, im Freispiel sehr viel Zeit für ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu haben, denen sie dann allein oder gemeinsam mit anderen nachgehen können.
Vorreiter Kindergarten
Kindergärten sind damit schon länger in der Richtung unterwegs, in die sich die gesamte Gesellschaft bewegt hat. «Individualisierung und Individualität haben sehr stark zugenommen. Kinder wachsen heute von klein auf damit auf, dass sie sehr viel selbst entscheiden können und dass sie Dinge, auf die sie keine Lust haben, auch nicht unbedingt machen müssen», sagt Arno Ulber. Kommen sie dann in der Schule mit klassischem Frontalunterricht in einer grossen Klasse in Berührung, ist das eine Herausforderung.
«Dass man sich auch mal anpassen und seine eigenen Bedürfnisse zurückstellen muss, ist heute für viele Kinder schwierig», so Ulber. Zumal viele Eltern eine solche Anpassung auch gar nicht mehr erwarten würden. Eigentlich ist es schon sehr lange bekannt: Am besten lernt der Mensch, wenn er dabei unterstützt wird, seine persönlichen Talente und Fähigkeiten zu entfalten – und das möglichst individuell.
Schulen haben mehr Freiheiten bekommen, von starren Lehrplänen abzugehen und breitere Lernwege anzubieten.
Michael Kickmeier-Rust, Psychologe
So konnte der amerikanische Psychologe Benjamin Bloom bereits in den 1980er-Jahren zeigen, dass Lernende, die in einer 1-zu-1-Situation individuell von Tutoren betreut wurden, in Prüfungen im Durchschnitt zwei Standardabweichungen besser abschnitten als Schüler in herkömmlichen Klassen mit etwa 30 Schülern pro Lehrkraft. Das bedeutet, dass die individuell betreuten Schüler im Durchschnitt ähnlich gute Leistungen erbrachten wie die besten zwei Prozent der Lernenden in konventionellen Lernsettings.
Digitalisierung schaffte neue Möglichkeiten fürs Lernen
«Nur war eben auch jedem klar, dass dieses individualisierte Lernen in einem staatlichen Schulsystem mit Klassen bestimmter Grösse und einem begrenzten Budget für Lehrpersonen gar nicht möglich ist», sagt Michael Kickmeier-Rust, Teamleiter Individuelle Förderung und Differenzierung am Institut Pädagogische Psychologie der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.
Mit dem Aufkommen der Digitalisierung aber habe sich dies geändert. «Jetzt gibt es die Möglichkeit, auch im Klassenverbund individuell mit den einzelnen Schülerinnen und Schülern zu arbeiten, ihnen verschiedene Lernmethoden und Aufgaben anzubieten. Das sehen auch die Eltern und deshalb richten sie ihre Wünsche auch danach aus», sagt Michael Kickmeier-Rust.
Auf verschiedenen Wegen zum Ziel
Dass immer mehr Schulen diesem Wunsch folgen, liegt auch an den geänderten Rahmenbedingungen. «Mit dem Lehrplan 21 haben Schulen mehr Freiheiten bekommen, von starren Lehrplänen abzugehen und breitere Lernwege anzubieten», sagt Kickmeier-Rust. Dadurch wurde es überhaupt erst möglich, eine Kultur des individualisierten Lernens an Schulen einzuführen.
So ist beispielsweise nur noch vorgegeben, dass Schülerinnen und Schüler im Matheunterricht lineare Funktionen lernen – aber nicht mehr genau, in welcher Klassenstufe und durch welche Methode. «Dem einen Kind hilft dabei vielleicht ein Youtube-Video, dem nächsten eine Gruppenarbeit, dem dritten ein praktisches Projekt zum Thema», nennt Kickmeier-Rust ein Beispiel.
Von den Lehrpersonen erfordert individualisierter Unterricht, dass sie die Möglichkeiten und Interessen, das Vorwissen sowie die Lernlücken jedes Schülers sehr genau kennen – und die Kinder dann als Coach begleiten. «Sie erklären, warum dieses oder jenes Thema im Unterricht von Bedeutung ist, versuchen die Kinder dafür zu begeistern, geben dann aber auch die Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler ab, bis diese wieder eine Hilfestellung brauchen», so Michael Kickmeier-Rust.
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.
Studienbericht 2023 zum Download
Verantwortung fürs Lernen bei den Schülern
Das Abgeben von Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler bedeute aber auch, dass sie diese annehmen wollen – und können. Die Schülerschaft zu motivieren, sei Aufgabe der Lehrperson. «Von Lernspielen über Youtube bis zu Gruppenarbeiten oder Projekten stehen hierzu viele Methoden zur Verfügung», sagt Kickmeier-Rust. Die Methoden könnten aber nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn die Schüler bestimmte Kernkompetenzen mitbrächten.
Sich allein am Tablet ein geeignetes Lernvideo auf Youtube zu suchen, setzt einen reflektierten Umgang mit dem Medium voraus. Für Gruppenarbeiten braucht es Teamfähigkeit, für das selbständige Bearbeiten von Matheaufgaben Durchhaltevermögen und Frusttoleranz. «Bei der Entwicklung solcher Fähigkeiten ist es wichtig, dass Schule und Elternhaus Hand in Hand gehen», sagt Michael Kickmeier-Rust.
Wenn die Schülerinnen und Schüler solche Kompetenzen lernen und die Lehrpersonen ihre Haltung sowie ihre Rolle in der Klasse grundlegend ändern, dann ist Arno Ulber optimistisch, dass individualisierter Unterricht in jeder staatlichen Schule möglich ist – egal mit welcher Klassengrösse.
«Natürlich habe ich in kleinen Klassen schon rein rechnerisch mehr Zeit für jede einzelne Schülerin», so Ulber. Entscheidend sei jedoch, dass neben kurzen Phasen des Inputs überhaupt Zeitfenster eingeplant werden, in denen die Lehrperson sich gezielt um jedes Kind kümmern kann – gleichzeitig aber auch die Klassengemeinschaft nicht aus dem Blick gerät. «Es braucht eine passende Balance zwischen Individualisierung und Gemeinschaftsbildung. Und das ist ein Lernprozess für die Kinder wie auch für die Lehrpersonen», sagt Arno Ulber.