Wie Miauen die Kopfstimme fördert
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Wie Miauen die Kopfstimme fördert

Lesedauer: 3 Minuten

Je länger Sibylle Dubs Musiklehrerin ist, umso mehr feiert sie mit ihren Schülerinnen und Schülern den Moment, in dem ihnen der Sprung in die Singstimme gelingt.

Text: Sibylle Dubs
Zeichnung: zVg

Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied

Ich habe dieses Lied sehr gerne. Es erinnert mich an den Tag, als ich gemerkt habe, dass ich singen kann», sagte Sya*, als wir das Lied vom Sonnenuntergang beendet hatten. Ich bat die Zweitklässlerin, mehr zu erzählen.

Sya berichtete, wie sie als kleines Mädchen mit Kopfhörern im Tram sass und zu einem Lied auf dem Handy ihrer Mutter mitsang. Diese hätte sie erstaunt angeschaut und gesagt: «Du hast eine wunderschöne Stimme». Sya erzählte vom Gefühl, welches das Kompliment bei ihr auslöste und vom Glück, jederzeit und überall singen zu können.

Die Stimmbildung muss man behutsam und spielerisch angehen. Schlimm wäre, die Stimme zu bewerten.

Die anderen Kinder stiegen in die Diskussion ein, schilderten, wie sie im Bett oder im Wald singen. Mehran fragte sich, warum er sich nicht mehr daran erinnern könne, wann er zum ersten Mal gesungen hätte. Wahrscheinlich sei er noch klein gewesen, denn nach seinem Gefühl singe er schon sein Leben lang.

Hörerfahrungen im Kleinkindalter wichtig

In der Gruppe gab es drei Kinder, welche länger brauchten, um ihre Singstimme, auch Kopf- oder Randstimme genannt, zu benützen. Mit unserer Sprechstimme kommen wir nicht weit in die Höhe. Wir müssen einen Registerwechsel machen. Dies tun wir zum Beispiel, wenn wir wie ein kleines Kätzchen miauen.

Wenn Sie dies gerade ausprobieren, merken Sie, dass Sie beim bei «Miau» vom kleinen Kätzchen den Resonanzraum im Kopf benützen und beim gefährlichen Tiger, der «hallo» sagt, die Stimme in der Brust spürbar wird.

Falls Ihnen das Kätzchen nicht gelingt, geht es Ihnen wie den Kindern, die in der Schule als Falschsinger oder Brummer abgestempelt werden. Grund dafür, dass jemand seine Kopfstimme nicht benützen kann, ist meistens ein einfacher: mangelnde Übung und zu wenige Impulse und Hörerfahrung im Kleinkindalter.

Bei CDs mit Kinderliedern, einem Gutenachtlied, einem Lied zum Trösten, aber auch bei Rollenspielen oder beim Kasperli-Theater, hören und benützen die Kinder ihre Kopfstimme. Je automatisierter der Wechsel geschieht, desto einfacher gelingt das Singen.

Seine Kopfstimme zu finden, ist, wie wenn der Handstand zum ersten Mal gelingt.

In der musikalischen Grundausbildung trainieren wir die Kopfstimme mit einer Vielzahl von Stimmbildungs-Übungen: ein stimmliches Liftfahren, eine Rakete zünden oder eben ein kleines Tier imitieren. Auch Körperhaltung und Atemtechnik und ein aktives Hörtraining sind wichtig.

Vor jeder Lektion begrüsse ich meine Schülerinnen und Schüler an der Türe statt mit einem Händedruck mit einer kleinen Solmisation zum Nachsingen. So-Mi-So-Mi wäre beispielsweise eine einfache Melodie aus zwei Tönen. Das ist die Ruf-Terz, die wir benutzen, wenn wir «Kuckuck» rufen.

So höre ich bei der Begrüssung, wie schnell die Kinder die Kopfstimme finden und ob sich die Intonation (das Treffen der Töne) verbessert. Schon nach wenigen Wochen wollen die Kinder grössere Herausforderungen. «Bitte eine schwierige Melodie» betteln sie und es freut mich doppelt, wenn dieser Wunsch von einem Kind kommt, das ganz zart und vermeintlich gehemmt singt.

Kopfstimme eröffnet neue Möglichkeiten

Die Stimmbildung muss man behutsam und spielerisch angehen. Das Schlimmste wäre, die Stimme zu bewerten. Zu viele Menschen glauben nach einer achtlosen Bemerkung einer Lehrperson jahrzehntelang, sie könnten nicht singen. Bei chronischer Heiserkeit des Kindes rate ich den Eltern zu einer medizinischen Untersuchung, ob Knötchen auf den Stimmlippen der Grund sind.

Wenn ein Kind seine Kopfstimme findet, merkt es den Unterschied sofort. Der strahlende Blick, den ich dann nach der Begrüssungsmelodie an der Türe erhalte, vergoldet den Morgen. Je länger ich unterrichte, desto mehr feiere ich diesen Moment mit dem Kind.

Es ist, wie wenn der Handstand zum ersten Mal gelingt. Das Finden der Kopfstimme eröffnet breite Ausdrucksmöglichkeiten. Nicht nur singend, sondern die Kinder können nun auch ein vorbeisausendes Flugzeug imitieren, eine lästige Fliege oder Mickey Mouse.

Passionata –Musikunterricht macht den Unterschied

Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.

Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.

Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.

An diesem Morgen, an dem Sya von ihrem ersten Gesangs-Erlebnis berichtete, meldete sich auch Jacob, der die Kopfstimme lange nicht zu benutzen wusste. Der Zweitklässler schilderte, wie es ihm erst seit den Frühlingsferien gelänge, den Ton zu treffen, und gab zu, dass er sich früher beim Singen geschämt habe. Die Kinder folgten seiner Geschichte mit Spannung. Noch etwas sei neu, erzählte er weiter und grinste: «Ich kann jetzt meine Schwester nachäffen und sie viel besser ärgern!»

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.

Sibylle Dubs
wuchs als Tochter einer Theaterpädagogin mit Musik, Tanz und Theater auf. Nach einem Jurastudium und langjähriger Tätigkeit als Fernsehjournalistin absolvierte sie ein Studium der Elementaren Musikpädagogik. Heute arbeitet sie mit Kindern der Primarschule im Auftrag von Musikschule und Konservatorium Zürich (MKZ) und mit Studierenden der Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Sie lebt mit ihrem Partner und zwei Teenagern in Zürich.

Alle Artikel von Sibylle Dubs

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