Beziehung macht den Unterschied
Merken
Drucken

Musikunterricht: Beziehung geht über alles

Lesedauer: 3 Minuten

Musikpädagogin Sibylle Dubs berichtet im ersten Teil ihrer neuen Kolumne von einem Erlebnis mit einem Schüler, das sie umhaute und Jahre später noch berührt.

Text: Sibylle Dubs
Zeichnung: zVg

Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied

Es gibt Feedbacks von Kindern, die einem das Leben für eine lange Zeit versüssen. Und sie können einem ganz unverhofft im Schulhaus entgegenfliegen. Vor ein paar Jahren traf ich Zyan* vor dem Singsaal. Es war kurz vor den Sommerferien. In dieser Zeit liegen auf dem Fenstersims im Gang haufenweise Kleider, Käppli und Wasserflaschen mit dem letzten Aufruf, die Fundsachen abzuholen, bevor sie in die Kleidersammlung wandern. Zyan wurde von den Eltern beauftragt, seine Jacke zu suchen.

Ich half dem Zweitklässler beim Durchwühlen der Auslage. Gesprochen haben wir dabei nicht. Ich hörte nur seine tiefen Seufzer, als wir uns erfolglos dem Ende des Textil-Dschungels näherten. Der Junge war auch im Musikunterricht immer wieder den Tränen der Verzweiflung nahe. Er war ein aufmerksamer und vifer Schüler, aber zeigte oft ein leidend-wütendes Gesicht, ohne dass ich einen Grund dafür erkennen konnte.

Stiller Protest

Ich hatte die Klasse nur für ein Semester als Vertretung. Unsere gemeinsame Zeit schlossen wir mit einer kleinen Werkstatt-Aufführung ab. Zyan war von Anfang an gegen das Projekt. Aber er streikte nicht, sondern machte mit, äusserte dabei jedoch stillen Protest in Form eines permanent verbitterten Gesichtsausdrucks. Den zog er bis und mit Auftritt durch. Wenn ich versuchte, ihn zu ermuntern, zu loben oder zu fragen, was er braucht, damit er sich wohlfühlte, bat er mich, ihn in Ruhe zu lassen.  

Umso mehr sass sein Satz, der wie aus dem Nichts kam, an diesem heissen Sommerabend im Schulhausgang: «Sie wussten, dass ich das kann, bevor ich wusste, dass ich es kann.» Er meinte damit die Aufführung am Tag zuvor.

Jedes Kind braucht Erwachsene, die ihm das Gefühl geben, es nicht aufzugeben.

Dieser Zweitklässler zeigte Dankbarkeit dafür, dass ich ihn zu seinem Glück zwang. Es haute mich um und die Erinnerung an den Moment berührt mich Jahre später noch. Er führte mir vor Augen, wie wir Lehrerinnen mit allen Kindern in Beziehung stehen, auch wenn sie sich abzuwenden scheinen. Und dass jederzeit ein Wendepunkt da sein kann.  

Jedes Kind braucht erwachsene Personen, die ihm das Gefühl geben, es nicht aufzugeben. Meine Mutter leitete eine Tanz- und Theaterschule. Nach ihrem Tod erhielt ich Briefe und Anrufe von ehemaligen Schülerinnen, die erzählten, was die eine Stunde in der Woche für einen Unterschied in ihrem Leben machte. Sie konnten eine ungeliebte Rolle, die sie sonst in der Schule oder zu Hause hatten, durchbrechen. Sie waren durch die künstlerische Tätigkeit mit einem anderen Ich verbunden. Und sie schilderten, wie sie meiner Mutter vertrauten. Wie sie sich zugehörig fühlten, allein dadurch, dass sie einmal in der Woche zum Tanzen und Theaterspielen auftauchten. 

Passionata –Musikunterricht macht den Unterschied

Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.

Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.

Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.

Das pädagogische Dreieck

Meine Mutter starb früh, sodass ich sie bei meinem Berufswechsel in die Musikpädagogik nicht mehr um Rat fragen konnte. Aber ich erinnere mich, wie die Kinder und Jugendlichen ihr Bestes geben sollten und durften – was immer das war. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie jemals etwas Schlechtes über die Hunderten von Schülerinnen und Schülern sagte, die sie unterrichtete. Das berühmte pädagogische Dreieck zwischen Lehrperson, Kind und Sache wurde gelebt.  

Wir haben den Auftrag, über die Beziehungen zu wachen und sie zu pflegen. Genau das macht den Unterschied im Schulalltag. Das macht den Unterschied im Leben der Kinder.  

Nach den Sommerferien startete Zyan in unserem freiwilligen Chor und besuchte weiterhin jede Woche den Singsaal. Er lächelte mehr als früher. Dass er ab und zu noch immer mürrisch in der Reihe stand, war egal. Es gehörte dazu. Er gehörte dazu. 

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.

Sibylle Dubs
wuchs als Tochter einer Theaterpädagogin mit Musik, Tanz und Theater auf. Nach einem Jurastudium und langjähriger Tätigkeit als Fernsehjournalistin absolvierte sie ein Studium der Elementaren Musikpädagogik. Heute arbeitet sie mit Kindern der Primarschule im Auftrag von Musikschule und Konservatorium Zürich (MKZ) und mit Studierenden der Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Sie lebt mit ihrem Partner und zwei Teenagern in Zürich.

Alle Artikel von Sibylle Dubs

Mehr zum Thema Musik

Musik vermitteln: Humor ist der Schlüssel
Lernen
Humor bringt den Unterricht auf ein neues Level
Am Anfang hatte Sybille Dubs Mühe, ihre Klasse von der Musik zu begeistern. Doch nach einem lustigen Erlebnis weiss sie: Humor ist der Schlüssel.
Illustration von Lukas Linder, er ist Vater eines Sohnes und schreibt eine Kolumne für Fritz+Fränzi.
Elternblog
Von Fans und Fanatikern
Unser Kolumnist entdeckt Talente bei seinem Sohn. Und realisiert, dass wir diese als Eltern nicht unbedingt immer fördern müssen.
Mädchen will nicht mehr Gitarre spielen
Familienleben
«Ich würde viel lieber Klavier spielen anstatt Gitarre»
Die zwölfjährige Olivia spielt seit drei Jahren Gitarre. So langsam lässt aber ihre Motivation zum Üben nach. Das sagt Expertin.
Erziehung
Spielend Musik lernen
An 400 Musikschulen finden Kinder Schritt für Schritt zum passenden Instrument. Wie Eltern sie dabei unterstützen können, wie das Musizieren positiv aufs Gehirn wirkt und warum Spielfreude wichtiger ist als Talent.
Kindergarten: 15 Tipps gegen den Frust beim Üben
Gesellschaft
15 Tipps gegen den Frust beim Instrumente üben
Damit zu Hause Musik statt Streit erklingt, brauchen kleine Anfänger die richtige Unterstützung: Wir haben 15 Tipps, die wirklich helfen!
Begabung: Das kann ich richtig gut!
Entwicklung
Begabung: Das kann ich richtig gut!
Jedes Kind kommt mit Begabungen auf die Welt. Doch wie findet es heraus, welcher Sport, welches Instrument, welche berufliche Richtung ihm liegt?
Schlagzeuger und Lehrer
Gesellschaft
«Wenn die Kinder singend heimgehen, ist mein Ziel erreicht»
Was gefällt Lehrerinnen und Lehrern an ihrem Beruf? Was motiviert sie in ihrem täglichen Alltag? Dieser Frage geht unsere neue Serie nach. Teil 3.
Der digitale Musiklehrer
Gesellschaft
Der digitale Musiklehrer
Auch die privaten Musikschulen mussten wegen Corona auf digitalen Unterricht umstellen. Wie funktioniert das Musizieren via Skype und was können Eltern tun?
Elternbildung
So motivieren Sie Ihr Kind, ein Instrument zu üben
Damit zu Hause Musik statt Streit erklingt, brauchen kleine Anfänger die richtige Unterstützung: Wir haben 15 Tipps, die wirklich helfen!
Instrument üben: Kind spielt Harmonika mit Notenblatt
Elternbildung
Ein Musikinstrument intuitiv erlernen
Noten pauken, nachsingen? Einen anderen Ansatz vertritt die ­«Music ­Learning Theory»: Musikalisches Lernen ist ähnlich wie das Erlernen einer Muttersprache.
Musiktherapie für Kinder
Entwicklung
Mit Musik junge Patienten heilen
Klänge, Rhythmen, Tonfolgen – über die Mittel der Musik versuchen Therapeuten einen Zugang zu ihren jungen Patienten zu finden.
10 Tipps für mehr Musik im Alltag: Illustration mit Noten
Elternbildung
10 Tipps für mehr Musik im Alltag
Viele Menschen halten sich für unmusikalisch. Dabei haben sie nur Angst, sich zu blamieren. Kinder können da ein Vorbild sein.
Musik – von Anfang an ein wichtiger Begleiter
Entwicklung
Musik – von Anfang an ein wichtiger Begleiter
Musik ermöglicht Kindern den Zugang zu den eigenen Gefühlen und Welten und damit zu Kreativität und zu den eigenen Stärken. Ein Plädoyer.