Musikunterricht: Beziehung geht über alles
Musikpädagogin Sibylle Dubs berichtet im ersten Teil ihrer neuen Kolumne von einem Erlebnis mit einem Schüler, das sie umhaute und Jahre später noch berührt.
Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied
Es gibt Feedbacks von Kindern, die einem das Leben für eine lange Zeit versüssen. Und sie können einem ganz unverhofft im Schulhaus entgegenfliegen. Vor ein paar Jahren traf ich Zyan* vor dem Singsaal. Es war kurz vor den Sommerferien. In dieser Zeit liegen auf dem Fenstersims im Gang haufenweise Kleider, Käppli und Wasserflaschen mit dem letzten Aufruf, die Fundsachen abzuholen, bevor sie in die Kleidersammlung wandern. Zyan wurde von den Eltern beauftragt, seine Jacke zu suchen.
Ich half dem Zweitklässler beim Durchwühlen der Auslage. Gesprochen haben wir dabei nicht. Ich hörte nur seine tiefen Seufzer, als wir uns erfolglos dem Ende des Textil-Dschungels näherten. Der Junge war auch im Musikunterricht immer wieder den Tränen der Verzweiflung nahe. Er war ein aufmerksamer und vifer Schüler, aber zeigte oft ein leidend-wütendes Gesicht, ohne dass ich einen Grund dafür erkennen konnte.
Stiller Protest
Ich hatte die Klasse nur für ein Semester als Vertretung. Unsere gemeinsame Zeit schlossen wir mit einer kleinen Werkstatt-Aufführung ab. Zyan war von Anfang an gegen das Projekt. Aber er streikte nicht, sondern machte mit, äusserte dabei jedoch stillen Protest in Form eines permanent verbitterten Gesichtsausdrucks. Den zog er bis und mit Auftritt durch. Wenn ich versuchte, ihn zu ermuntern, zu loben oder zu fragen, was er braucht, damit er sich wohlfühlte, bat er mich, ihn in Ruhe zu lassen.
Umso mehr sass sein Satz, der wie aus dem Nichts kam, an diesem heissen Sommerabend im Schulhausgang: «Sie wussten, dass ich das kann, bevor ich wusste, dass ich es kann.» Er meinte damit die Aufführung am Tag zuvor.
Jedes Kind braucht Erwachsene, die ihm das Gefühl geben, es nicht aufzugeben.
Dieser Zweitklässler zeigte Dankbarkeit dafür, dass ich ihn zu seinem Glück zwang. Es haute mich um und die Erinnerung an den Moment berührt mich Jahre später noch. Er führte mir vor Augen, wie wir Lehrerinnen mit allen Kindern in Beziehung stehen, auch wenn sie sich abzuwenden scheinen. Und dass jederzeit ein Wendepunkt da sein kann.
Jedes Kind braucht erwachsene Personen, die ihm das Gefühl geben, es nicht aufzugeben. Meine Mutter leitete eine Tanz- und Theaterschule. Nach ihrem Tod erhielt ich Briefe und Anrufe von ehemaligen Schülerinnen, die erzählten, was die eine Stunde in der Woche für einen Unterschied in ihrem Leben machte. Sie konnten eine ungeliebte Rolle, die sie sonst in der Schule oder zu Hause hatten, durchbrechen. Sie waren durch die künstlerische Tätigkeit mit einem anderen Ich verbunden. Und sie schilderten, wie sie meiner Mutter vertrauten. Wie sie sich zugehörig fühlten, allein dadurch, dass sie einmal in der Woche zum Tanzen und Theaterspielen auftauchten.
Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.
Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.
Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.
Das pädagogische Dreieck
Meine Mutter starb früh, sodass ich sie bei meinem Berufswechsel in die Musikpädagogik nicht mehr um Rat fragen konnte. Aber ich erinnere mich, wie die Kinder und Jugendlichen ihr Bestes geben sollten und durften – was immer das war. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie jemals etwas Schlechtes über die Hunderten von Schülerinnen und Schülern sagte, die sie unterrichtete. Das berühmte pädagogische Dreieck zwischen Lehrperson, Kind und Sache wurde gelebt.
Wir haben den Auftrag, über die Beziehungen zu wachen und sie zu pflegen. Genau das macht den Unterschied im Schulalltag. Das macht den Unterschied im Leben der Kinder.
Nach den Sommerferien startete Zyan in unserem freiwilligen Chor und besuchte weiterhin jede Woche den Singsaal. Er lächelte mehr als früher. Dass er ab und zu noch immer mürrisch in der Reihe stand, war egal. Es gehörte dazu. Er gehörte dazu.
*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.