Ab wann wird GPS-Tracking übergriffig?

Immer mehr Kinder werden von ihren Eltern permanent überwacht. Auch in der Schule. Das schadet der kindlichen Entwicklung, schreibt unser Autor.
Als Primarschulkind habe ich einen Walkman bekommen. Die Jüngeren unter der Leserschaft wissen eventuell kaum noch, dass es sich dabei um ein tragbares Kassetten-Abspielgerät gehandelt hat. Auf meinem Nachttischchen hat sich der Walkman zum Wecker, zum Funkgerät und zur Taschenlampe gesellt. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich träumte davon, dass ein einziges Gerät alles kann. In meiner Vorstellung war das Gerät einfach viel grösser als ein heutiges Smartphone – ist ja klar, schliesslich bringt man keine Kassette in ein Gerät von der Grösse der heutigen Mobiltelefone.
Heute sind wir so weit. Die Smartphones unterstützen uns bei vielerlei Aufgaben. Viele Apps vereinfachen unser Leben massiv. Navigationsapps führen uns haargenau zum Ziel. Das Ticket dorthin habe ich ebenfalls mit meinem kleinen Helfer gekauft, und bis ich dort bin, schaue ich Netflix, höre Musik und/oder checke die Mails, Whatsapp und Instagram. Ich bin dauernd mit allen und allem verbunden. Seit geraumer Zeit kann man sich auch gegenseitig tracken, sodass man weiss, wo die Familienmitglieder sind.
Problematische Ortungsdienste
Zugegeben, ich schaue ab und zu, wo meine Frau und meine Kinder sind. Immer wenn ich nach Hause komme und feststelle, dass ich entgegen aller Erwartungen alleine bin, schaue ich, wo die anderen Familienmitglieder sind. Das Tracking hilft mir auf die Sprünge, denn obwohl meine Frau mir bestimmt mitgeteilt hat, wohin sie geht und was das Programm der Kinder ist, habe ich es wieder vergessen. Die Tracking-App hilft mir ja schliesslich zuverlässig …
Leider werden die Ortungsdienste auch missbraucht. Ich möchte jetzt weniger auf fehlendes Vertrauen in einer Partnerschaft eingehen, sondern auf mangelndes Vertrauen von Eltern in ihre Kinder. Das gibt mir – besonders aus beruflicher Sicht – mehr zu denken. Denn es sind keine Gerüchte! Es stimmt wirklich, dass Eltern die Smartwatches ihrer Kinder tracken, ihnen GPS-Tracker in die Kleider nähen oder das Telefon verfolgen.
Kinder, die von ihren Eltern überwacht werden, entwickeln nicht genügend Selbstwirksamkeit.
Neulich hat mir eine Kindergärtnerin erzählt, dass eine Mutter sie aufgeregt angerufen habe, weil ihr Kind einen von ihr zuvor eingestellten Rayon verlassen hatte, sogenanntes Geofencing. Und in der Tat war die Kindergärtnerin mit den Kindern in ein nahe beim Kindergarten gelegenes Wäldchen gegangen.
In einem anderen Fall, der mir von einer Lehrerin zugetragen wurde, hatten zwei Erstklässler in der Schule Streit. Das eine Kind musste deshalb weinen und rief mit der Smartwatch seine Mutter an. Diese wollte dann gleich mit der Lehrerin sprechen, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist. Die Sorge um das Kind ist sehr verständlich, nimmt in diesem Fall aber eine ungesunde Dimension an – für die Verantwortlichen in der Schule wie auch für die Eltern.
Nicht alles aus dem Weg räumen
Solch smarte Geräte durchdringen unser Leben. Die beiden obigen Beispiele zeigen jedoch Auswüchse, die ganz klar schädlich sind. Die Kinder merken sehr schnell, dass ihre Eltern sie überwachen. Die Folge davon ist, dass sie nicht genügend Selbstwirksamkeit entwickeln.
Damit ist gemeint, dass das Kind kaum eine positive Erwartungshaltung gegenüber auftretenden Herausforderungen und Schwierigkeiten aufbauen kann. Die Kinder trauen sich kaum etwas zu. Kleine Herausforderungen werden zu unüberwindbaren Hindernissen. Dies passiert, weil ihnen die Eltern Verantwortung für ihr eigenes Handeln abnehmen.
Ich halte nichts von Verboten digitaler Geräte an Schulen. Entsprechende politische Vorstösse bringen keine Besserung.
Schülerinnen und Schüler lernen aber dann am besten, wenn sie sich in einer Situation leichter Überforderung wiederfinden. Wenn sie weniger gefordert sind, müssen sie sich nicht aus der Komfortzone bewegen, wenn sie stärker gefordert werden, geraten sie bald in die Überforderungs- oder gar Angstzone. Es ist eine der Aufgaben der Schule, für die Kinder und Jugendlichen Settings zu kreieren, die genau diese leichte Überforderung schaffen – eine anspruchsvolle Aufgabe.
Konstruktive Ansätze sind gefragt
Auch wenn bisher erst eine kleine Minderheit der Eltern ihre Schützlinge ständig überwacht, ist dieses Phänomen doch auf dem Vormarsch und Grund zur Sorge. Es ist Zeit, dass über die Folgen dieses Verhaltens breit aufgeklärt wird. Ich halte nichts von kantonalen Verboten von Smartwatches und Smartphones in Schulen. Entsprechende politische Vorstösse dienen nicht der Verbesserung der Situation. Sie sind reine Wahlkampfpropaganda.
Auch die reisserischen Titel in den Medien über die digitalen Geräte und was die Schulen dagegen tun, sind kein konstruktiver Ansatz, um die Situation zu verbessern. Die meisten Schulen in der Schweiz kennen Regeln im Sinn von Geboten im Umgang mit digitalen Geräten. Sie haben diese in Schulordnungen oder in Konzepten im Zusammenhang mit der digitalen Bildung festgehalten.
Sehr wichtig und wahrscheinlich entscheidender ist, wie in den Familien mit den Geräten umgegangen wird. Kinder bis drei Jahre sollten nach neusten Erkenntnissen von Fernseher, Smartphones oder Tablets ferngehalten werden. Ab drei Jahren ist es in Ordnung, wenn Kinder zum Beispiel am Fernseher eine Gutenachtgeschichte anschauen. Ganz entscheidend ist aber, wie wir Eltern uns verhalten und wie wir als Vorbilder wirken.
Üben in der Familie
In den letzten Sommerferien waren meine Frau und ich zusammen mit unserer jüngsten Tochter an einem abgelegenen Ort in den Ferien. Ursprünglich hatten wir vereinbart, dass wir in diesen neun Tagen Digital Detoxing betreiben würden. Bereits beim Abmachen schränkten wir ein, dass das nicht für die Reise gelte, da wir die Boardingpässe für den Flug auf dem Handy hatten und anschliessend noch zum Zielort navigieren mussten. Bald schon machten wir weitere Einschränkungen, schliesslich wollten wir ja auch Fotos machen von unserem Aufenthalt und ausserdem mit unseren beiden Söhnen kommunizieren, die sich ganz woanders befanden.
So sind unsere Vorsätze dahingeschmolzen. Dennoch schafften wir es, unsere Smartphones häufiger wegzulegen, um zu lesen oder miteinander zu reden. Das interessanteste Gespräch drehte sich darum, dass durch die Nutzung des Handys und die damit verbundene Ablenkung die Langeweile ausbleibt. Das hat mich sehr zum Nachdenken angeregt.
Wir werden uns Gedanken machen in der Familie, wie wir uns selber einschränken können im Gebrauch elektronischer Geräte, damit auch wieder Langeweile Einzug halten kann in unserem Alltag und uns so Momente beschert werden, in denen wir über unseren Alltag, unser Leben und unsere Träume nachdenken können.