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Was Kinder beim Gamen fürs Leben lernen

Lesedauer: 4 Minuten

Gamen hat einen schlechten Ruf – zu Unrecht, wie unser Kolumnist findet. Er verdankt viele seiner schönsten Kindheitserinnerungen dem Zocken am Computer.

Wenn ich an die schönen Mo­­mente meiner Kindheit denke, tauchen verschiedenste Bilder auf. Verstecken spielen im Quartier, bis es dunkel wird. Federball auf der Strasse: Natürlich mussten die Autos so lange warten, bis ein Punkt erzielt wurde, erst dann nahmen wir die Schnur ab und liessen sie mit einem Nicken passieren. Sonntage mit meiner Familie am Fluss, wo wir grillierten, uns mit den Luftmatratzen vom Strom mitreissen liessen und in den Algen nach Blutegeln suchten. 

Ich erinnere mich aber ebenso gerne an das gemeinsame Erkunden der riesigen Landschaft von Legend of Zelda mit all ihren Geheimgängen auf der Nintendo-Konsole zusammen mit meinem besten Freund und meinem Bruder. Und an das wunderbare Gefühl, das sich einstellte, wenn man die Unterwasserwelt bei Mario Bros. betrat – die Melodie geht mir heute noch durch den Kopf. 

Ich finde es schade, wenn Erwachsene Computerspiele kategorisch ablehnen, ohne sich je darauf eingelassen zu haben.

Auf Social Media kursieren immer wieder Bilder, die Kinder auf Fahrrädern oder im Matsch spielend zeigen – oft mit einem Spruch wie: Wir hatten noch eine richtige Kindheit! Noch immer existiert in den Köpfen von vielen Erwachsenen ein klares Ranking von moralisch überlegenen bis hin zu verwerflichen Freizeitaktivitäten, wobei Computerspiele oft in die letzte Kategorie fallen. Meist deutlich hinter dem viel passiveren Fernsehen.

Kontraproduktive Verbote

Natürlich sind wir alle orientiert über die Risiken von zu hohem Medienkonsum, wissen um die Suchtgefahr von Videogames und empfinden es als hochproblematisch, wenn sich Teenager isolieren und in einer künstlichen Welt versinken. Rückzug, Sucht und Aggressionen sollten uns als Eltern Sorgen machen. 

Wir können unsere Kinder aber nicht davor schützen, indem wir uns ständig abwertend über ihr Hobby äussern oder ihnen mit Verdummung und viereckigen Augen drohen. Und auch mit dem Verbieten und Verbannen ist es so eine Sache: Das kann die Attraktivität auch steigern – vor allem im Jugendalter.

Ich finde es immer wieder schade, wenn Erwachsene Computerspiele kategorisch ablehnen, ohne sich je darauf eingelassen zu haben. Vielleicht wäre man aber überrascht, wenn man als Mutter oder Vater über seinen Schatten springt und sich gemeinsam mit dem Kind neugierig und unvoreingenommen in diese Welt begibt. 

Vielleicht merkt man dann, dass Gamen nicht per se asozial ist. Ich kann mich noch an viele einzelne Runden mit Mario Kart erinnern: ein rasantes Autorennen, bei dem man sich oft in letzter Sekunde durch einen gezielt verschossenen Schildkrötenpanzer, einen aufgesammelten Stern oder eine strategisch platzierte Bananenschale den ersten Platz holen konnte. Stillsitzen war fast nicht möglich: Oft sind wir auf dem Sofa herumgehüpft vor lauter Aufregung. Und wenn meine Kinder heute mit ihren Freunden Mario Kart spielen, fordere ich den Sieger gerne zu einem Duell heraus. 

Das Vorurteil, dass Kinder durch Gamen automatisch verdummen, lässt sich nicht halten.

Auf den Erscheinungstermin des neuen Zelda haben mein Sohn und ich zusammen hingefiebert. Nun knacken wir gemeinsam die Rätsel in den Schreinen und lassen die Ideen hin- und herfliegen. Wenn ich die Begeisterung in seinen Augen sehe, erinnert mich das an meine eigene Faszination und lässt mich selbst wieder Kind sein. Dabei hilft es natürlich, dass Zelda mit denselben Figuren und den gleichen Soundeffekten wie früher für den nötigen Nostalgiefaktor sorgt. 

Auch das Vorurteil, dass Kinder durch Gamen automatisch verdummen, lässt sich nicht halten. Das zeigen nicht nur Studien – das wird uns auch bewusst, wenn wir genauer hinschauen. Als Jugend­licher habe ich Wirtschaftssimulationen, Städtebau- und Echtzeit­strategiespiele geliebt. Es hat mich immer befremdet, wie positiv Erwachsene analoge Denkspiele wie beispielsweise Schach bewerten und wie wenig sie diese Qualität in Computergames wahrnehmen.

Ich war fasziniert, wie viel man sich überlegen und wie viel man gleichzeitig beachten muss, um beispielsweise in einer Wirtschaftssimulation oder einem Aufbauspiel weiterzukommen. Man beisst sich an einem Level die Zähne aus, geht mit dem Hund spazieren und hat plötzlich eine Idee. Und siehe da: Mit der neuen Strategie klappt es! 

Gamen hat viele Vorteile

Als ich mich nach dem Studium selbständig gemacht habe, wurde ich mit einem Misserfolg nach dem anderen konfrontiert – über Jahre. Viele Menschen in meinem Umfeld entmutigten mich: «Weshalb siehst du es nicht ein und machst etwas anderes? Du findest doch sicher eine gute Stelle.»

Computerspiele haben mir vermittelt, dass es darum geht, den richtigen «Dreh» rauszukriegen, und dass sich Erfolg oft nur einstellt, wenn man sich ganz auf ein Spiel einlässt, die unsichtbaren «Regeln» und Muster dahinter kennenlernt, sich nach einem frustrierenden Erlebnis wieder aufrappelt, es nochmals versucht und sich sagt: «Es muss einen Weg geben und ich werde ihn finden.» 

Meine Tochter tut sich etwas schwer mit dem Lesen. Wenn sie Animal Crossing spielt, will sie aber wissen, was in den ellenlangen Sprechblasen steht, und strengt sich an, den Inhalt zu entziffern. Immer wieder bin ich auch überrascht, wie gut viele Jugendliche Englisch ­können, weil sie sich über Spiele einen grösseren Wortschatz angeeignet haben oder sich mit Spielern aus der ganzen Welt treffen, um online zu zocken.

Manchmal fällt es auch mir schwer, mich auf ein Spiel einzulassen. Minecraft zum Beispiel. Ich kann mit dieser schrecklichen Grafik nichts anfangen. Aber meine Kinder lieben es. Sie können nicht aufhören, Häuser zu bauen, Höhlen zu graben oder in Bau-Battles gegeneinander anzutreten. Wenn sie mir das Ergebnis zeigen, komme ich aber nicht umhin, zuzugeben, dass dieses Spiel sie zu kreativen Höhenflügen anspornt und damit mindestens genauso viel möglich ist wie mit einer riesigen Packung Lego.

Natürlich achten auch meine Frau und ich darauf, dass das Gamen nicht überhandnimmt und unsere Kinder auch noch anderen Interessen nachgehen, mit Freunden draussen spielen und eine ausreichende Dosis See, Bach und Wald abbekommen. 

Aber ich muss zugeben, dass ich, was das Gamen betrifft, nicht der Konsequenteste bin. Oder wie es meine Tochter formuliert: «Ein Vorteil an dir ist, dass man gut noch eine halbe Stunde Gaming-Zeit mehr rausnörgeln kann.» 

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

Alle Artikel von Fabian Grolimund

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