Zu Hause quietschfidel, im Kindergarten stumm

Manche Kinder sagen im Chindsgi, während der Familienfeier oder beim Besuch im Restaurant kein Wort, während sie daheim ganz normal sprechen. Dahinter kann sich eine Störung namens selektiver Mutismus verbergen. Sie sollte nicht mit Schüchternheit verwechselt werden.
Zu Hause beim Frühstück erzählte Lea noch fröhlich vor sich hin, sang dem Papa sogar ein Lied aus dem Chindsgi vor. Doch kaum im Kindergarten angekommen, scheint ein Schalter bei ihr umgelegt. Sie wirkt wie versteinert, sobald sie die Garderobe betritt, und sagt den ganzen Vormittag über kein Wort. Erst zu Hause am Mittag ist sie wieder die unbeschwerte Lea von frühmorgens.
Jede Kindergartengruppe ist ein buntes Ensemble kleiner Persönlichkeiten. Während die einen sich sofort in den Chindsgi-Alltag stürzen, brauchen andere länger, um sich einzuleben. Manchmal gibt es aber Kinder wie Lea, die auch Wochen nach dem Kindergartenstart noch wie versteinert am Rand stehen, sich nicht einbringen und die vor allem durch eines auffallen: Sie sagen nichts.
Während schüchterne Kinder nach einer Weile auftauen, kann selektiver Mutismus, unbemerkt und unbehandelt, sich mit der Zeit verstärken.
Sie spielen nicht mit anderen Kindern, interagieren nicht mit der Lehrperson, melden sich nicht einmal, wenn sie aufs WC müssen oder sich wehgetan haben. Werden sie angesprochen, blicken sie wie erstarrt zu Boden. Kaum wieder zu Hause, scheint es, als sei nichts gewesen.
Die Frage, ob das Kind einfach sehr schüchtern ist, scheint zunächst berechtigt. Aber was, wenn es auch nach Wochen im Kindergarten keinen Ton herausbekommt? Woher weiss man als Lehrperson oder Eltern, ob hinter der vermeintlichen Schüchternheit nicht doch mehr steckt? Und was ist zu tun, wenn das Kind einfach nicht aus sich herauskommt?
Schüchternheit geht vorüber
«Wenn ein Kind über einen längeren Zeitraum hinweg überhaupt nicht spricht und sich nicht im Kindergartenalltag einbringt, kann hinter der vermeintlichen Schüchternheit ein selektiver Mutismus stecken», sagt Sabine Laerum, zertifizierte Mutismustherapeutin und Logopädin aus Zollikon ZH. Wenn sich nach etwa vier Wochen nichts am Verhalten des Kindes geändert hat, rät die Therapeutin deshalb, nicht lange zu zögern, sondern genauer hinzuschauen.
Der selektive Mutismus ist ein noch recht unbekanntes Phänomen, eine Störung, die häufig den Angststörungen zugeordnet wird. Betroffene Kinder sprechen im vertrauten Umfeld – etwa zu Hause mit ihren Eltern –, verstummen aber in Umgebungen und vor Menschen, die ihnen fremd sind.
«Es ist die Unfähigkeit, in spezifischen Situationen sprechen zu können, obwohl die Fähigkeit dazu vorhanden ist», erklärt Siebke Melfsen, die im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich zum selektiven Mutismus forscht.
Je früher man die Störung erkennt und interveniert, umso leichter lässt sich der Mutismus auflösen.
Für die Schweiz gibt es keine genauen Zahlen, international liegt je nach Studie die Zahl der betroffenen Kinder irgendwo zwischen 0,2 und knapp 2 Prozent, die Dunkelziffer ist hoch. Als Ursache der Störung nennt Siebke Melfsen das Zusammenspiel von Genetik, psychischen Faktoren wie hoher Sensitivität sowie sozialen Einflüssen, die auslösend wirken. Ganz einig ist man sich unter Fachleuten jedoch nicht, was Ursachen und Risikofaktoren angeht.
Dass es tückisch ist, Schüchternheit als Ursache zu vermuten, darüber besteht unter Expertinnen und Experten Konsens. «Stille Kinder stören den Unterricht nicht und fallen zunächst nicht gross auf», erklärt Sabine Laerum. Selektiver Mutismus werde deshalb häufig mit extremer Schüchternheit verwechselt und als Folge nicht erkannt.
Der entscheidende Unterschied liege aber darin, dass schüchterne Kinder nach einer Weile auftauen, während selektiver Mutismus, unbemerkt und unbehandelt, sich mit der Zeit verstärke. Darum sei es wichtig, die Störung frühzeitig zu erkennen. «In der Schule ist es dann viel schwieriger, das Ruder herumzureissen», sagt die Therapeutin.
Übergänge als Auslöser
Viele der betroffenen Kinder machen keinerlei Geräusche, ihre Mimik und Körpersprache wirkt wie versteinert. Dass sich die Symptome der Störung häufig im Kindergarten zeigen, sei kein Zufall, sagt Psychotherapeutin Babette Bürgi Wirth aus Zürich. «Sie treten meist dann auf, wenn das Kind erstmals in eine völlig neue Umgebung kommt, eine ihm neue Welt.»
Kinder mit selektivem Mutismus reagieren stark auf den Wechsel von Ort, Person und Aktivität.
Sabine Laerum, Logopädin
Demnach können neben dem Kindergartenstart auch andere grosse Veränderungen Auslöser der Störung sein. So können Kinder bereits mit zwei bis drei Jahren Symptome zeigen, wenn sie in die Spielgruppe oder Kita gehen. Dort fallen sie aber generell weniger auf, da viele Kinder in diesem Alter erst mit dem Sprechen beginnen und Reden dort nicht im selben Masse erwartet wird wie später im Kindergarten.
«Kinder mit selektivem Mutismus reagieren stark auf den Wechsel von Ort, Person und Aktivität», sagt Sabine Laerum. Faktoren, die im Kindergarten neu sind. Dort seien betroffene Kinder dann mit allem konfrontiert, womit sie am meisten zu kämpfen haben: ihrer Sensitivität für Neues, ihrem gehemmten Temperament und ihrer Disposition zu Ängsten.

«Damit in den Kindergarten zu kommen, ist eine heisse Mischung, da kommt alles zusammen», so die Therapeutin. Folglich leben die Kinder in zwei Welten: in der einen, in der sie sprechen, und in der, in der sie still sind.
Keinen Druck aufsetzen
Das Schweigen zeigt sich nicht nur im Chindsgi, sondern auch in anderen Situationen, in denen das Sprechen erwartet wird. Das kann ein einfacher Smalltalk mit den Nachbarn sein oder mit der Kellnerin im Restaurant. Um das Kind zum Sprechen zu bringen, sei Druck aber schon mal der falsche Weg, so Laerum.
Da das Schweigen nicht freiwillig ist, helfe es gerade nicht, das Sprechen einzufordern, sondern lasse das Kind noch mehr verstummen. Aber auch das andere Extrem, wie das Kind zu ignorieren oder immer stellvertretend zu antworten, sei nicht förderlich. Damit gehe es im ersten Moment zwar allen besser, aber Fortschritte seien für das Kind so nicht möglich.
Das Kind wird in der Gruppe schnell ignoriert, wenn es nicht sprechen kann, und erlebt dabei grossen Stress.
Barbara Meile, Kindergartenlehrerin
Barbara Meile ist Kindergartenlehrerin in Männedorf ZH und hat ein mutistisches Kind unterrichtet. «Zunächst war ich nicht begeistert, hatte Zweifel, ob das gut kommen würde, weil ich nichts darüber wusste.» Die grösste Herausforderung sei gewesen, dass sich das Kind im Sitzkreis nicht beteiligen konnte, kein Gehör bekam, berichtet sie.
Betroffene Eltern häufig vertröstet
«Die soziale Integration war schwierig, das Kind wurde schnell ignoriert und konnte sich nicht wehren.» Angst, etwas falsch zu machen, hatte Barbara Meile auch. «Wenn man vor der Gruppe Fragen stellt und das Kind nicht sprechen kann, erlebt es grossen Stress. Es war eine Gratwanderung zwischen möglichst keinen Druck ausüben und ausreichend Input geben, um Fortschritte zu ermöglichen», sagt sie. Dank der Zusammenarbeit mit einer Logopädin und einer Therapeutin, die mit dem Phänomen vertraut waren, konnten sie dem Kind letztlich zu guten Fortschritten verhelfen.
Das Leidvolle für die Kinder ist: Sie wollen sprechen, können aber nicht. «Kommunikation ist unsere Superpower», sagt Sabine Laerum. «Diese Kinder leiden extrem darunter, dass sie kein Wort rausbekommen.» Deswegen sei es wichtig, dieses Phänomen ins breite Bewusstsein zu rücken. Dass dies zwingend notwendig ist, zeigen die durch Unwissen bedingten Hürden, die betroffenen Kindern und ihren Eltern im Weg stehen. Denn dass der selektive Mutismus häufig für Schüchternheit gehalten wird, ist nur Teil des Problems.
Selbst wenn Eltern einen Verdacht haben, dass etwas nicht stimmt, würden sie von Fachleuten häufig damit vertröstet, abzuwarten. «So vergeht wertvolle Zeit und das Problem verhärtet sich nur», sagt Sabine Laerum. Sie erlebe häufig, dass Eltern lange ein Bauchgefühl haben, das nicht ernst genommen wird.
Nichtstun ist keine Option
Dass Kinder andererseits häufig falsche Diagnosen erhalten, liegt laut Siebke Melfsen zunächst daran, dass das Wissen über soziale Ängste und Schüchternheit, die vom Erscheinungsbild her ähnlich sind, viel verbreiteter ist. Sabine Laerum nennt zudem die Gleichzeitigkeit mehrerer Störungsbilder bei mutistischen Kindern als Grund dafür, dass sie oft die falsche oder keine Therapie erhalten.
«Viele Kinder haben neben dem Mutismus zusätzlich eine soziale Angst oder eine Sprachentwicklungsstörung. Das schweigende Verhalten wird dann diesen Problemen zugeordnet und nicht als eigenständige Störung erkannt. Oft werden diese Kinder dann als sozialphobisch oder einfach nur als sprachlich eingeschränkt gesehen und erhalten so die falsche oder keine mutismusspezifische Therapie», erklärt Laerum.
- Vermeiden Sie es, Ihrem Kind vor anderen Personen Fragen zu stellen, wenn Sie wissen, dass es nicht antworten kann. Das bereitet ihm nur noch grösseren Stress.
- Haben Sie Geduld und warten Sie mindestens fünf bis zehn Sekunden auf eine Antwort, nachdem Sie eine Frage gestellt haben.
- Beziehen Sie das Kind mit ein, indem Sie die Dinge, die es tut, kommentieren oder beschreiben, ohne Fragen zu stellen, bis es sich wohlfühlt.
- Stellen Sie keine Ja-Nein-Fragen. Sie lassen sich mit Kopfschütteln oder Nicken beantworten. Das Kind kann so das Sprechen vermeiden. Lieber offene Auswahlfragen stellen wie: Möchtest du lieber den roten oder den grünen Stift?
- Loben Sie das Kind, wenn es Ihnen antwortet, zum Beispiel: «Schön, dass du mir gesagt hast, welche Farbe du möchtest.»
- Bestrafen Sie ein Kind niemals dafür, dass es nicht sprechen kann!
Eine frühe Diagnose und Therapie ist entscheidend. Je früher man interveniere, umso leichter lasse sich der Mutismus auflösen. «Dieser Zug wird beim selektiven Mutismus oft verpasst. Und je länger die Kinder schweigen, umso stärker schleift es sich ein.»
Eltern sollten daher für ihre Kinder wann immer möglich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, sagt Andrea Muchenberger, Leiterin der Fachstelle Förderung und Integration im Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt und Mitherausgeberin des neu erschienenen Buches «Das stille Kind ist das vergessene Kind». «Oftmals leiden die Kinder bis ins Erwachsenenalter und können dadurch ihr Potenzial nicht abrufen. Ihre Lebensqualität ist enorm eingeschränkt», sagt sie.
Schwierige Suche nach Hilfe
Eine sichere Diagnose kann eine Fachperson stellen, die mit selektivem Mutismus vertraut ist. Das können Psychologinnen oder Psychiater sein sowie Logopädinnen, die eine Zusatzausbildung auf dem Gebiet absolviert haben. In der Realität bedeutet das im Umkehrschluss, dass längst nicht alle Fachleute aus den genannten Gebieten mit dem selektiven Mutismus vertraut sind.
«Es gibt diejenigen, die sich mit selektivem Mutismus auskennen, und die, die darüber nichts oder sehr wenig wissen», sagt Muchenberger. Eine Garantie, basierend allein auf der fachlichen Ausbildung an die richtige Person zu geraten, gibt es demnach nicht.
Selektiver Mutismus ist heilbar, kein Kind sollte damit leben müssen.
«Entscheidend ist vielmehr, dass die Person, die Eltern und Kind berät, eine Ahnung von selektivem Mutismus hat und dass die Eltern irgendwo andocken können. Ob diese fachliche Hilfe am Ende einen psychologischen, logopädischen oder psychiatrischen Hintergrund hat, ist zunächst nicht relevant. Da der selektive Mutismus jedoch sehr häufig in Zusammenhang mit weiteren Problemen steht, ist die Vernetzung unter den Disziplinen bedeutsam. Wer etwas weiss, der tut etwas.»
In der Schweiz gibt es verschiedene Therapieansätze, die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter scheinen gut vernetzt und haben trotz teilweise recht auseinandergehenden Herangehensweisen ein gemeinsames Ziel: das Kind zum Sprechen zu bringen. Laut Babette Bürgi Wirth bietet sich eine logopädische Therapie dann an, wenn neben dem Mutismus noch eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Eine psychotherapeutische Begleitung wiederum werde vorzugsweise für mutistische Kinder gewählt, die zusätzlich an sozialen Ängsten, Trennungsängsten oder anderen Störungsbildern leiden.
- Mutismus Schweiz: Netzwerk von Fachpersonen, die sich auf selektiven Mutismus spezialisiert haben
- Mutismus Deutschland: Verein zur Förderung des Verständnisses von selektivem Mutismus, mit kostenlosem Onlinetest
- Psychiatrische Universitätsklinik Zürich: pukzh.ch
- Buchtipp: Babette Bürgi Wirth, Stefanie Kolb: Mila spricht! Ein Bilderbuch zum selektiven Mutismus. Ernst Reinhardt Verlag 2023, 31 Seiten, ca. 30 Fr.
Aufgrund des Mangels an Psychotherapieplätzen und logopädischen Fachkräften könne man es sich nicht leisten, auf die ideale Therapie zu setzen, so die Expertin. «Es ist einfach nicht immer so geordnet, wie es idealerweise sinnvoll wäre.» Lasse sich vorerst keine therapeutische Unterstützung finden, solle man als Überbrückung versuchen, mit Bezugspersonen aus der Kindertagesstätte, dem Kindergarten oder der Schule zusammenzuarbeiten. «Hauptsache, dem Kind wird geholfen», sagt Bürgi Wirth.
Weitere Aufklärung ist vonnöten
Die Verunsicherung ist gross, auch deshalb will Sabine Laerum Lehrpersonen und schulische Heilpädagoginnen und -pädagogen ermutigen, einen eigenen Verdacht ernst zu nehmen und sich mit dem Team auszutauschen. Auch Eltern sollten sich mehr trauen, auf ihr Bauchgefühl zu hören.
Es ist ein Phänomen mit noch vielen Unbekannten, und das Bewusstsein für den selektiven Mutismus muss wachsen, da sind sich die Fachpersonen einig. Eltern und Lehrpersonen benötigen Unterstützung, damit bei einem Verdacht schneller gehandelt werden kann.
Es braucht einen leichteren Zugang zu unterstützenden Angeboten, mehr Therapieplätze, einen Ausbau an logopädischen Fachkräften und, auf lange Sicht, eine standardmässige Aufnahme des Themas in die heilpädagogische Ausbildung. Und das Wichtigste: Selektiver Mutismus ist heilbar, kein Kind sollte damit leben müssen. Damit es letztlich in allen Lebensbereichen unterstützt werden kann, ist es in jedem Fall notwendig, dass alle beteiligten Erwachsenen voller Zuversicht am selben Strang ziehen.