Frau Gassmann, was hilft Kindern bei einer Trennung?
Sonya Gassmann begleitet Eltern in der Trennungszeit. Wichtiger als reden sei es, präsent zu sein und mit den Kindern etwas zu unternehmen, sagt die Psychologin.
Frau Gassmann, was bedeutet es für ein Kind, wenn Eltern sich trennen?
Typisch sind drei Reaktionen: Verunsicherung, Verlustängste und Schuldgefühle. Gerade kleine Kinder wissen nicht, was bei einer Trennung passiert. Vor allem können sie nicht abschätzen, dass die Elternschaft trotz einer Trennung weitergeht. Wenn Eltern sich streiten, hören Kinder heraus, dass es um sie geht, selbst wenn das nicht so sein sollte. Das erzeugt Schuldgefühle und Scham. Eltern beziehen in solchen Extremsituationen unbewusst ihre Kinder zu wenig mit ein, weil sie so stark mit sich selbst beschäftigt sind. Deswegen ist es wichtig, dem Kind ein Sprachrohr zu geben. In meinen Beratungen trete ich als eine Art Kinderanwältin auf.
Wie tun Sie das?
Zu den wichtigsten Schutzfaktoren für Kinder gehört, dass sie während der Trennungsphase eine Vertrauensperson haben, mit der sie das Ereignis einordnen und Strategien für die Bewältigung finden können. Dafür muss ich die Bedürfnisse der Kinder kennen. Wenn die Eltern einverstanden sind, kommen die Kinder ohne sie zu mir. Dann geht es darum, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Mein wichtigstes Credo dabei: Ich stelle keine Fragen. Denn die verschliessen das Herz der Kinder.
Wie sonst erfahren Sie, was Kinder wollen?
Ich versuche auf spielerische Art und Weise herauszufinden, was sie brauchen. Zum Beispiel zeichne ich ganz rudimentär zwei Häuser auf ein Flipchart: «Mutters Haus» und «Vaters Haus». Ganz automatisch beginnt das Kind selbst zu zeichnen und zu erzählen, was ihm gefällt, was es vermisst und wie es sein neues Zuhause gestalten möchte.
Und, welches sind die wichtigsten Bedürfnisse der Kinder?
Dass Mami und Papi für sie da sind. Das Kind hat ja beide gern und sollte nicht in einen Loyalitätskonflikt geraten. Auch ganz wichtig sind beständige Strukturen wie Familienrituale, zuverlässige Regelungen und verbindliche Absprachen sowie konstante Bezugspersonen neben den Eltern.
Welche Folgen kann eine Trennung oder Scheidung für die Entwicklung eines Kindes haben?
Ungefähr jedes dritte Kind verändert sein Verhalten in der Schule. Diese Kinder ziehen sich entweder zurück oder werden verhaltensauffällig. Schulische Schwierigkeiten treten oft im Alter von sechs bis acht Jahren sowie während der Pubertät auf. In diesen Phasen baut das Kind wichtige Stufen seiner Ich-Entwicklung auf – unter anderem die Konzentrationsleistung. Eine Trennung der Eltern kann diesen Prozess beeinträchtigen. Sie kann auch ein Kompensationsverhalten auslösen: eine verstärkte Nutzung von sozialen Medien einhergehend mit Sozialkontaktverlust oder ein verändertes Ess- und Schlafverhalten. Zudem ist es möglich, dass die Entwicklung des Kindes verzögert oder beschleunigt wird. Bei all diesen Folgen gilt: Je konfliktreicher eine Trennung – also je mehr Streitgespräche, Wut und Aggressionen –, desto schlimmer für das Kind und desto stärker die möglichen Folgen.
Welche Schäden können bis ins Erwachsenenalter bleiben?
In meiner Praxis berate ich auch erwachsene Einzelpersonen. Scheidungskinder haben später öfter Schwierigkeiten, sich in Beziehungen längerfristig zu binden. Auch der Selbstwert kann leiden. Vergessen wir aber nicht: Im besten Fall wird das Wohlbefinden des Kindes von einer Trennung überhaupt nicht beeinträchtigt und das Kind gewinnt an Selbständigkeit und Bewältigungsstrategien hinzu.
Das Kind soll nicht unter der negativen Stimmung zwischen den Eltern leiden müssen.
Wie kommt man als Eltern dahin?
Das Allerwichtigste ist, die Grundbedürfnisse des Kindes weiterhin zu beachten. Das Kind soll nicht unter der negativen Stimmung zwischen den Eltern leiden müssen. Dafür müssen die Eltern natürlich erst wissen, wie es dem Kind geht und was es braucht. Das geht nur mit Empathie, grossem Interesse und gründlicher Information, damit es die Entscheidungen der Eltern besser verstehen kann.
Haben Sie konkrete Tipps?
Etwas vom Wichtigsten: Eltern sollen handeln, nicht nur reden. Für die Kinder ist es eine nicht alltägliche Situation, in der ihnen signalisiert werden muss, dass beide Eltern weiterhin für sie da sind. Das schafft man am besten mit erhöhter Präsenz, indem man mit den Kindern etwas Konkretes unternimmt: zum Beispiel im Winter im Schnee spazieren und im Sommer zusammen baden gehen. Besonders wichtig ist auch, wie die Eltern ihre Beziehung nach einer Trennung zueinander gestalten. Falls es die Eltern noch gut miteinander haben, empfehle ich ein gemeinsames Nachtessen pro Monat, abwechselnd bei Vater und Mutter. Eine konkrete Massnahme wäre auch, dass Vater oder Mutter das Arbeitspensum auf 80 Prozent reduzieren. Für das Kind ist das ein starkes Signal.
Wie bringt man einem Kind eine Trennung bei?
Gerade jüngere Schulkinder sind sehr verunsichert. Sie vergleichen stark, sehen nur die sogenannt intakten Familien aus dem Umfeld. Was ich ganz oft höre: «Die sind doch auch zusammen, warum wir nicht?» Ganz wichtig ist es darum, zu betonen, dass die Trennung nichts mit der Liebe zu den Kindern zu tun hat, dass Mama und Papa trotz zwei Wohnungen Eltern bleiben werden. Im Idealfall kommunizieren Eltern gemeinsam zu Hause am Familientisch – und signalisieren den Kindern, dass sie auch konfliktfrei miteinander umgehen können.
Wer weiss, was er braucht, kann auch auf die Bedürfnisse der anderen besser eingehen.
Und wenn die Kinder schon älter sind?
In der Pubertät kann ein Kind schon sehr gut abschätzen, was eine Trennung bedeutet und dass eine solche in vielen Familien vorkommt. Dann ist es umso wichtiger, dass das Kind merkt, dass seine Bedürfnisse und Interessen weiterhin berücksichtigt werden: Die sind vermehrt auch sozialer sowie finanzieller Art – Freunde, Kleider, Smartphone und so weiter.
In der Theorie klingt das gut, in der Realität scheint es schwierig zu schaffen: Schliesslich befinden sich die Eltern in einer psychischen Ausnahmesituation. Wo kriegen sie Hilfe?
Eine Familienmediation kann helfen. Da geht es darum, dass alle Familienmitglieder ihre eigenen Bedürfnisse gut kennen, sich austauschen und auch gut zuhören können, was die Bedürfnisse der anderen sind. Tun sie das nicht, entsteht eine Erwartungshaltung, die nicht erfüllt werden kann. Oder umgekehrt gesagt: Wer weiss, was er braucht, kann auch auf die Bedürfnisse der anderen besser eingehen.