Frau Gassmann, was hilft Kindern bei einer Trennung? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Frau Gassmann, was hilft Kindern bei einer Trennung?

Lesedauer: 4 Minuten

Sonya Gassmann begleitet Eltern in der Trennungszeit. Wichtiger als reden sei es, präsent zu sein und mit den Kindern etwas zu unternehmen, sagt die Psychologin.

Interview: Andres Eberhard
Bild: iStock

Frau Gassmann, was bedeutet es für ein Kind, wenn Eltern sich trennen?

Typisch sind drei Reaktionen: Verunsicherung, Verlustängste und Schuldgefühle. Gerade kleine Kinder wissen nicht, was bei einer Trennung passiert. Vor allem können sie nicht abschätzen, dass die Elternschaft trotz einer Trennung weitergeht. Wenn Eltern sich streiten, hören Kinder heraus, dass es um sie geht, selbst wenn das nicht so sein sollte. Das erzeugt Schuldgefühle und Scham. Eltern beziehen in solchen Extremsituationen unbewusst ihre Kinder zu wenig mit ein, weil sie so stark mit sich selbst beschäftigt sind. Deswegen ist es wichtig, dem Kind ein Sprachrohr zu geben. In meinen Beratungen trete ich als eine Art Kinderanwältin auf.

Wie tun Sie das?

Zu den wichtigsten Schutzfaktoren für Kinder gehört, dass sie während der Trennungsphase eine Vertrauensperson haben, mit der sie das Ereignis einordnen und Strategien für die Bewältigung finden können. Dafür muss ich die Bedürfnisse der Kinder kennen. Wenn die Eltern einverstanden sind, kommen die Kinder ohne sie zu mir. Dann geht es darum, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Mein wichtigstes Credo dabei: Ich stelle keine Fragen. Denn die verschliessen das Herz der Kinder.

Wie sonst erfahren Sie, was Kinder wollen?

Ich versuche auf spielerische Art und Weise herauszufinden, was sie brauchen. Zum Beispiel zeichne ich ganz rudimentär zwei Häuser auf ein Flipchart: «Mutters Haus» und «Vaters Haus». Ganz automatisch beginnt das Kind selbst zu zeichnen und zu erzählen, was ihm gefällt, was es vermisst und wie es sein neues Zuhause gestalten möchte.

Sonya Gassmann ist Psychologin lic.phil., Mediatorin und Dozentin. In ihrer Praxis in Bern berät sie Einzelpersonen, Paare und Familien. Sie arbeitet auch mit Kindern und Jugendlichen, die von einer Trennung betroffen sind. Gassmann war als Berufsschullehrerin und Schulleiterin tätig und als Expertin für Konfliktsituationen und Gesprächsführung beim Bundesamt für Sport.

Und, welches sind die wichtigsten Bedürfnisse der Kinder?

Dass Mami und Papi für sie da sind. Das Kind hat ja beide gern und sollte nicht in einen Loyalitätskonflikt geraten. Auch ganz wichtig sind beständige Strukturen wie Familienrituale, zuverlässige Regelungen und verbindliche Absprachen sowie konstante Bezugspersonen neben den Eltern.

Welche Folgen kann eine Trennung oder Scheidung für die Entwicklung eines Kindes haben?

Ungefähr jedes dritte Kind verändert sein Verhalten in der Schule. Diese Kinder ziehen sich entweder zurück oder werden verhaltensauffällig. Schulische Schwierigkeiten treten oft im Alter von sechs bis acht Jahren sowie während der Pubertät auf. In diesen Phasen baut das Kind wichtige Stufen seiner Ich-Entwicklung auf – unter anderem die Konzentrationsleistung. Eine Trennung der Eltern kann diesen Prozess beeinträchtigen. Sie kann auch ein Kompensationsverhalten auslösen: eine verstärkte Nutzung von sozialen Medien einhergehend mit Sozialkontaktverlust oder ein verändertes Ess- und Schlafverhalten. Zudem ist es möglich, dass die Entwicklung des Kindes verzögert oder beschleunigt wird. Bei all diesen Folgen gilt: Je konfliktreicher eine Trennung – also je mehr Streitgespräche, Wut und Aggressionen –, desto schlimmer für das Kind und desto stärker die möglichen Folgen. 

Welche Schäden können bis ins Erwachsenenalter bleiben?

In meiner Praxis berate ich auch erwachsene Einzelpersonen. Scheidungskinder haben später öfter Schwierigkeiten, sich in Beziehungen längerfristig zu binden. Auch der Selbstwert kann leiden. Vergessen wir aber nicht: Im besten Fall wird das Wohlbefinden des Kindes von einer Trennung überhaupt nicht beeinträchtigt und das Kind gewinnt an Selbständigkeit und Bewältigungsstrategien hinzu.

Das Kind soll nicht unter der negativen Stimmung zwischen den Eltern leiden müssen.

Wie kommt man als Eltern dahin? 

Das Allerwichtigste ist, die Grundbedürfnisse des Kindes weiterhin zu beachten. Das Kind soll nicht unter der negativen Stimmung zwischen den Eltern leiden müssen. Dafür müssen die Eltern natürlich erst wissen, wie es dem Kind geht und was es braucht. Das geht nur mit Empathie, grossem Interesse und gründlicher Information, damit es die Entscheidungen der Eltern besser verstehen kann.

Haben Sie konkrete Tipps?

Etwas vom Wichtigsten: Eltern sollen handeln, nicht nur reden. Für die Kinder ist es eine nicht alltägliche Situation, in der ihnen signalisiert werden muss, dass beide Eltern weiterhin für sie da sind. Das schafft man am besten mit erhöhter Präsenz, indem man mit den Kindern etwas Konkretes unternimmt: zum Beispiel im Winter im Schnee spazieren und im Sommer zusammen baden gehen. Besonders wichtig ist auch, wie die Eltern ihre Beziehung nach einer Trennung zueinander gestalten. Falls es die Eltern noch gut miteinander haben, empfehle ich ein gemeinsames Nachtessen pro Monat, abwechselnd bei Vater und Mutter. Eine konkrete Massnahme wäre auch, dass Vater oder Mutter das Arbeitspensum auf 80 Prozent reduzieren. Für das Kind ist das ein starkes Signal.

Wie bringt man einem Kind eine Trennung bei?

Gerade jüngere Schulkinder sind sehr verunsichert. Sie vergleichen stark, sehen nur die sogenannt intakten Familien aus dem Umfeld. Was ich ganz oft höre: «Die sind doch auch zusammen, warum wir nicht?» Ganz wichtig ist es darum, zu betonen, dass die Trennung nichts mit der Liebe zu den Kindern zu tun hat, dass Mama und Papa trotz zwei Wohnungen Eltern bleiben werden. Im Idealfall kommunizieren Eltern gemeinsam zu Hause am Familientisch – und signalisieren den Kindern, dass sie auch konfliktfrei miteinander umgehen können.

Wer weiss, was er braucht, kann auch auf die Bedürfnisse der anderen besser eingehen.

Und wenn die Kinder schon älter sind?

In der Pubertät kann ein Kind schon sehr gut abschätzen, was eine Trennung bedeutet und dass eine solche in vielen Familien vorkommt. Dann ist es umso wichtiger, dass das Kind merkt, dass seine Bedürfnisse und Interessen weiterhin berücksichtigt werden: Die sind vermehrt auch sozialer sowie finanzieller Art – Freunde, Kleider, Smartphone und so weiter.

In der Theorie klingt das gut, in der Realität scheint es schwierig zu schaffen: Schliesslich befinden sich die Eltern in einer psychischen Ausnahmesituation. Wo kriegen sie Hilfe?

Eine Familienmediation kann helfen. Da geht es darum, dass alle Familienmitglieder ihre eigenen Bedürfnisse gut kennen, sich austauschen und auch gut zuhören können, was die Bedürfnisse der anderen sind. Tun sie das nicht, entsteht eine Erwartungshaltung, die nicht erfüllt werden kann. Oder umgekehrt gesagt: Wer weiss, was er braucht, kann auch auf die Bedürfnisse der anderen besser eingehen.

Andres Eberhard
ist freischaffender Journalist und lebt mit seiner Familie in Zürich.

Alle Artikel von Andres Eberhard

Mehr zum Thema Trennung

Ein junger Mann skatet in der Pipeline der Freestyle Academy Laax.
Advertorial
Freestyle Academy LAAX – Fun für Skate- und Trampolin-Fans
Die Freestyle Academy LAAX ist pure Freestyle-Action auf 2000 m² verteilt. Wetterunabhängig, für alle Levels und einzigartig in Europa.
Resilienz: Sophie erzählt, was sie wertvoll findet
Familienleben
«Die Kinder sollen wissen, dass sie wertvoll sind»
Sophie erlebte eine schwierige Kindheit und hätte als Teenager gut auf die schiefe Bahn gelangen können. Die Fernsehtechnikerin erzählt, was ihr Halt gegeben hat und wofür sie dankbar ist.
Video
Was braucht ein Kind, wenn sich die Eltern trennen?
Die Psychotherapeutin Sabine Brunner zeigt Wege auf, wie Eltern und Kinder trotz Trennung von Mutter und Vater eine Familie bleiben können.
Familienleben
«Familie ist eben nicht Privatsache»
Die Kinderombudsstelle setzt sich für die Rechte der Kinder ein. Diese würden oft missachtet, sagt Leiterin Irène Inderbitzin.
Familienleben
«Stiefeltern sind für Eltern keine Konkurrenz»
Sabine Walper erforscht die Beziehungen in Stieffamilien. Sie erklärt, wie eine Patchworkfamilie Kinder prägt und warum sie eine Chance ist.
Foto
Elternblog
Wetteifern um das perfekte Foto aus den Ferien
Unsere Kolumnistin und ihr Ex verschicken sich jeweils gegenseitig Fotos des Nachwuchses aus den Ferien. Das nimmt zuweilen groteske Züge an.
Patchwork
Erziehung
Wie gelingt Patchwork? 10 Fragen und Antworten
Das Leben mit neuem Partner und dessen Kindern ist anspruchsvoll. Expertinnen und Experten antworten auf Fragen, die Patchworkfamilien umtreiben.
Patchworkfamilie Schmutz
Familienleben
Patchwork: «Der Weg hierhin war oft holprig»
Christoph und Regine Schmutz brauchten eine Weile, bis sich ihre Söhne in der neuen Patchworkfamilie gefunden hatten.
Patchworkfamilie Neue Liebe neues Glück?
Erziehung
Neue Liebe – neues Glück?
Gründen Eltern mit ihrer neuen Liebe eine Patchworkfamilie, warten viele Stolpersteine auf sie. Das Familienmodell bietet aber auch Chancen – dazu braucht es Ausdauer und Empathie.
Familienleben
«Die Trennung der Eltern kann für Kinder auch eine Chance sein»
Wie man ein Kind in die Neugestaltung der Familie einbindet, ohne es zu überfordern, erklärt Familientherapeutin Sabine Brunner.
Elternbildung
Vortragszyklus Kosmos Kind: Alle Daten und Infos
Kosmos Kind: Expertinnen und Experten erklären wichtige Entwicklungsaspekte von Kindern und Jugendlichen – alltagsnah und verständlich.
Trennung Patchwork
Elternbildung
Neue Liebe, neues Glück – und wie geht es den Kindern?
Alle haben das Recht, sich nach einer Trennung wieder zu verlieben. Doch wie geht es den Kindern damit? Worauf Patchworkfamilien achten müssen.
Getrennte Eltern Trennungsserie Scheidungskinder
Elternbildung
5 Ideen, wie das nächste Betreuungswochenende gelingt
Noch immer sind viele Kinder, deren Eltern getrennt leben, nur am Wochenende bei Papi oder Mami. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen.
Michele-Binswanger-Kolumne-Mutter-Kinder-Teenager
Elternblog
Nicht jede Scheidung ist eine Katastrophe
Eine Trennung ist für jede Familie eine schmerzhafte Erfahrung, doch es eröffnet auch ungeahnte Freiheiten, schreibt Michèle Binswanger.
Elternbildung
Wenn das Kind in einen Loyalitätskonflikt gerät
Wer sich von seinem Partner trennt, tut dies selten in bestem Einvernehmen. Sind die Gräben aber zu tief, kann das für die Entwicklung eines Kindes negative Folgen haben.
Elternblog
Wie lebt es sich mit einer Nachzüglerin? 
Unsere Bloggerin Valerie Wendenburg hat durch ihre Nachzüglerin oft das Gefühl, zwei Leben als Mutter zu führen. Über die Vor- und Nachteile.
Weniger Streit mit dem Ex-Partner
Elternbildung
Weniger Streit mit dem Ex-Partner
Meist erhoffen sich Paare nach einer Trennung mehr Ruhe im Familienleben, was nicht einfach ist. Fünf Tipps für eine friedvolle Kommunikation.
Erziehung
«Kinderrechte werden oft nicht umgesetzt»
Irène Inderbitzin erklärt, warum es die Kinderombudsstelle braucht und wie sie hilfesuchende Kinder konkret unterstützen.
Elternbildung
Getrennt: So bleiben dem Kind beide Eltern erhalten
Kinder können eine Trennung gut meistern, wenn Mütter und Väter zusammen- statt gegeneinander arbeiten. Dies kann im kooperativen oder im parallelen Modell funktionieren.
Wie spricht man mit Kindern über eine Scheidung?
Erziehung
Wie spricht man mit Kindern über eine Scheidung?
Eine Scheidung der Eltern ist für die meisten Kinder ein Schock. Sie können oft nicht verstehen, weshalb sich die Eltern nicht mehr lieben. Manche Kinder reagieren sehr verunsichert, andere aggressiv. 
Adventszeit: Junge steht mit Eisblume im Wald
Elternblog
Eine Patchworkfamilie im Strudel der Adventszeit
Unsere Bloggerin Valerie Wendenburg hadert mit dem Klischee der heilen Familie und wirft einen ehrlichen Blick auf die Herausforderungen und Chancen einer Patchworkfamilie vor und an Weihnachten.
Fabian Grolimund Kolumnist
Elternbildung
Was Kindern nach einer Trennung hilft
Fast jede zweite Ehe wird heute geschieden. Das stecken die Kinder nicht so leicht weg. Ihre Wut und Trauer gilt es auszuhalten.
Valerie Wendenburg: Ich heirate eine Familie
Familienleben
Ich heirate eine Familie
Sechs Prozent aller Schweizer Kinder wachsen in Patchworkfamilien auf. Wie gelingt es, das Familienkonstrukt wie ein Puzzle immer wieder neu zusammenzusetzen?
Wir leben Respekt und Toleranz vor
Entwicklung
«Wir leben Respekt und Toleranz vor»
Marcelle Graf ist Assistentin der Geschäftsleitung in einem Büro. Der Vater von Ariseo und Nelio wohnt auch in St. Gallen und ist trotz ­Trennung präsent.
«Ich möchte zu Papi ziehen!»
Blog
Wenn der Sohn zum Vater ziehen will
Wenn der Sohn unerwartet zum Ex-Mann zieht, ist das für eine Mutter schmerzlich. Dass es sich lohnt, Realitäten zu akzeptieren, hat unsere Bloggerin erlebt.