Generation Smartphone
Jede Familie handhabt digitale Medien unterschiedlich. Gemein ist allen, dass der Umgang damit zumindest gelegentlich für rote Köpfe sorgt. «Jeder Bildschirm zieht ihn magisch an», sagt Marianne, 48, über ihren Sohn Silas, 10, der am liebsten an der Playstation gamt oder Youtube-Videos schaut. «Das ist ein richtiger Sogeffekt. Er hört es nicht einmal mehr, wenn ich ihm eine Glace anbiete.» Für die Mutter ein guter Grund, ein striktes Medienregime zu führen: Fernseh- und Gamezeiten sind auf 30 respektive 40 Minuten pro Woche beschränkt. Die Eltern von Anna, 15, haben es bis vor Kurzem ihrer Tochter überlassen, wie viel Zeit sie vor dem Bildschirm verbringt. Neuerdings ist ab 22 Uhr Schluss – dann schaltet sich das WLAN aus. «Anna hat es übertrieben», sagt ihr Vater Reto, 50. «Sie hing bis weit nach Mitternacht am Smartphone.»
Mädchen betreiben Socializing, Buben gamen
Mit Bildschirmzeit war früher primär Fernsehkonsum gemeint, dann kamen Computer und Spielkonsole hinzu. Heute ist das Smartphone das meistverwendete Bildschirmmedium. 99 Prozent der Jugendlichen hierzulande besitzen eines. Unter der Woche waren sie 2020 über drei, an Wochenendtagen bis zu fünf Stunden damit beschäftigt. Zu diesem Schluss kommt die JAMES-Studie, die den Medienkonsum von 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz untersucht. Am häufigsten nutzen Jugendliche ihr Smartphone für Messengerdienste, soziale Netzwerke oder zum Surfen, weiss Daniel Süss, Medienpsychologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Co-Leiter der JAMES-Studie. «Da all dies im Internet stattfindet, sind Handy- und Internetnutzung fast nicht mehr voneinander zu trennen», sagt Süss. Dabei zeigten sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern: «Mädchen nutzen das Handy häufiger zur Kommunikation in sozialen Netzwerken und erstellen mehr Fotos. Für Jungen sind Games und Onlinevideos wichtiger.»
«Es ist heute unmöglich, Regeln festzulegen, die für alle Familien und Umstände gelten», antwortet der französische Psychoanalytiker Serge Tisseron auf die Frage, wie viel Bildschirmzeit Eltern zulassen sollten. Dabei war es Tisseron
selbst gewesen, der mit seiner 3-6-9-12-Regel klare Begrenzungen vorgegeben hatte. Demzufolge sollten Kinder unter drei Jahren keine Bildschirmmedien konsumieren, Kinder mit zwölf Jahren maximal zehn Stunden pro Woche. Allerdings datiert die Regel von 2008, als Smartphones frisch auf den Markt gekommen und Tablets noch nicht einmal erfunden waren. Heute sind digitale Medien allgegenwärtig, ergänzen herkömmliche Medien oder lösen diese ganz ab. So lernen Kinder mit Apps ebenso wie mit Büchern, und vielerorts hat das Handy die Fotokamera ersetzt. Soll man dem Dreijährigen die Bilder vom Ausflug vorenthalten, damit er keinen Bildschirm zu Gesicht bekommt? Oder der Primarschülerin die Stunde, die sie auf der E-Lernplattform verbringt, von ihrer erlaubten Bildschirmzeit abziehen? Diese Beispiele zeigen: Digitale Medien haben unseren Alltag so tief durchdrungen, dass starre Zeitvorgaben wenig sinnvoll sind.
Die Medienzeit allein ist nicht entscheidend
Eltern sollten stattdessen im Blick haben, wie ein Kind seine Freizeit insgesamt gestaltet, rät Daniel Süss. «Kinder und Jugendliche bringen Bedürfnisse mit: nach Kommunikation, Information, Lernen, sozialer Vernetzung und Unterhaltung. Dazu kommen ihre spezifischen Interessen – Games, Musik und Sport zum Beispiel», sagt der Experte. «Auf welchem Kanal das Kind unterwegs ist, um seinen Bedürfnissen und Interessen nachzukommen, ist nicht die entscheidende Frage. Wir sollten uns eher fragen: Ist unser Kind sozial eingebunden und macht es die Erfahrung, dass es seine Talente einsetzen und weiterentwickeln kann?»
Digitale Medien haben unseren Alltag so tief durchdrungen, dass starre Zeitvorgaben wenig sinnvoll sind.
Wenn das Kind plötzlich Freunde oder Schularbeiten vernachlässige, zu wenig Bewegung und nicht ausreichend Schlaf bekomme, seien dies mögliche Hinweise darauf, dass digitale Medien zu viel Raum einnehmen. «Aber auch hier ist die Reduzierung der Medienzeit nicht die Lösung», sagt Süss. «Man muss die Gründe für den exzessiven Mediengebrauch suchen. Es kann etwa sein, dass ein Kind zu wenig Erfolgserlebnisse hat. Und dann bekommt es in der Gaming-Community plötzlich viel Anerkennung. Oder Kinder, die in der Schule gemobbt werden, suchen sich Räume, wo sie diese Probleme vergessen können.»
Zankapfel Computerspiele
Auch die Weltgesundheitsorganisation hat keine eindeutige Antwort auf die Frage, was problematischen Medienkonsum ausmacht. Sie anerkennt lediglich Computerspielsucht als Krankheit. Suchtberatungsstellen hierzulande berichten, dass fast immer nur Eltern mit gamenden Söhnen bei ihnen Hilfe suchen. Mit Töchtern, die ähnlich viel Zeit in sozialen Netzwerken oder Chats verbringen, werde hingegen kaum jemand vorstellig. «Ein Grund dafür könnte sein, dass Mütter – und es sind fast immer nur Mütter, die ihr Kind zur Suchtberatungsstelle bringen – dem Gamen besonders kritisch gegenüberstehen, weil sie es aus dem eigenen Mediengebrauch nicht kennen», sagt Larissa Hauser, Mitglied der Expertengruppe Onlinesucht im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit.
Laut JAMES-Studie legen rund 20 Prozent der Jugendlichen ein riskantes oder gar problematisches Medienverhalten an den Tag. Sie gaben in der Umfrage beispielsweise an, ihren Medienkonsum zu verbergen, dass sie dafür Freunde und Schule vernachlässigten oder Schwierigkeiten hätten, offline zu gehen. Diese Jugendlichen geben in sozialen Netzwerken auch eher private Daten preis, verbreiten öfter mediale Gewalt und sind häufiger mit Cybermobbing konfrontiert als ihre Altersgenossen im Durchschnitt.
Einfluss auf die Gehirnentwicklung
Auch die Frage, wie sich digitale Medien auf das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen auswirken, treibt die Wissenschaft um. Im Fokus stehen etwa Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeitsvermögen, beides Eigenschaften, die mit der Fähigkeit zu tun haben, an einer Sache dranzubleiben und nicht gleich aufzugeben. «Für Kinder und Jugendliche ist es schwer, für eine verzögerte Belohnung zu arbeiten», weiss Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. «Das hat mit der Gehirnentwicklung zu tun. Das kindliche Gehirn lässt sich sehr leicht ablenken.» Der Grund dafür seien «Umbauarbeiten» im Frontalkortex, der zwischen 11 und 14 Jahren komplett neu verdrahtet werde und erst mit 18 Jahren ausgereift sei. Nun bieten digitale Medien Kindern nicht nur Ablenkung, sondern auch die Aussicht auf sofortige Belohnung: Likes in sozialen Medien, ein Punktesieg beim Gamen – all dies beflügelt. «Die Krux ist», sagt Jäncke, «je öfter sich ein Kind dem Impuls der sofortigen Belohnung hingibt, desto langsamer entwickelt sich der Frontalkortex.» Und begrenzen, weiss der Hirnforscher, können sich Kinder und Pubertierende unmöglich selbst: «Dazu sind sie von ihrer Hirnentwicklung her gar nicht in der Lage. Eltern müssen quasi ihren fehlenden Frontalkortex ersetzen – das ist Erziehung.» Die wirkt bekanntlich aber nur, wo mit gutem Beispiel vorangegangen wird, betonen Experten: Da, wo sich die Eltern ständig von Smartphone und Co. ablenken lassen, wird es schwierig, Kinder für einen achtsamen Umgang damit zu gewinnen.
Digitale Medien in der Schule
In der Diskussion über Risiken geht mitunter vergessen, dass digitale Medien ein riesiges Potenzial darstellen. Etwa im Hinblick aufs Lernen, sagt Medienpädagogin Eveline Hipeli: «Gerade in der Schule sind digitale Medien eine wertvolle Ergänzung zu herkömmlichen, weil sie das Spektrum an Lernerfahrungen erweitern. Viele Kinder profitieren davon, wenn sie sich Inhalte zusätzlich über alternative Kanäle wie Filme oder Lern-Apps aneignen können.» Der Zürcher Gymnasiallehrer und Medienexperte Philippe Wampfler erklärt anhand eines Beispiels, wie digitale Medien den Lernalltag bereichern. «Nehmen wir etwa den Deutschunterricht», sagt er. «Ich könnte einfach an die Wandtafel schreiben, was ‹erlebte Rede› ist. Oder ich lasse es die Schülerinnen und Schüler mit dem Smartphone suchen, erstelle ein gemeinsames Textdokument und darin tragen sie verschiedene Informationen zusammen. Anschliessend können sie vergleichen: Was ist eine gute Quelle? Dabei stellen sie fest, dass es verschiedene Definitionen gibt, also keine Einigkeit besteht.»
In der Diskussion über Risiken geht oft vergessen, dass digitale Medien ein riesiges Potenzial darstellen. Etwa im Hinblick aufs Lernen.
Die Digitalisierung gehört zu den grossen Herausforderungen der Schule. Dabei ist sie unterschiedlich weit fortgeschritten: Wie viel und was Kinder mithilfe von Computer, Tablet oder Handy lernen, hängt von der einzelnen Schule und der Technikaffinität der Lehrperson ab. «Mit dem Modul Medien und Informatik haben digitale Medien im Lehrplan 21 einen festen Platz bekommen», sagt Wampfler. Das sei eine Erfolgsgeschichte. «Denn es schafft Verbindlichkeit. Auch wenn es Luft nach oben gibt – was die Gewichtung digitaler Medien und Kompetenzen im Lehrplan und die damit verbundene Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen betrifft, sind die Schweizer Schulen deutlich weiter als beispielsweise Schulen in Deutschland.»
Freizeit geht auch analog
Anlass zur Sorge, dass vor lauter digitalen Medien das analoge Leben zu kurz kommt, geben zumindest die Ergebnisse der JAMES-Studie nicht. «Wie in den Vorjahren treiben viele Jugendliche regelmässig Sport oder machen auch mal nichts», steht in der Ausgabe von 2020. Kreative Beschäftigungen wie Musizieren, Malen und Basteln hätten sogar leicht zugenommen, was möglicherweise auf die pandemiebedingten Einschränkungen zurückzuführen sei.
Die Corona-Krise hatte den Autoren zufolge vermutlich auch ihren Anteil daran, dass 2020 deutlich weniger Jugendliche (62 Prozent) mehrmals die Woche Freunde trafen als 2010 (81 Prozent), dafür umso mehr (29 Prozent) regelmässig etwas mit der Familie unternahmen als vor 11 Jahren (16 Prozent). Musik machen, malen, basteln oder Zeit mit dem Haustier verbringen sind übrigens Beschäftigungen, die im Zusammenhang mit problematischem Medienkonsum offensichtlich als Schutzfaktoren wirken – sie werden überdurchschnittlich oft von Jugendlichen angegeben, die dahingehend kein Risikoverhalten zeigen.