Nicht jede Scheidung ist eine Katastrophe

Eine Trennung ist für jede Familie eine schmerzhafte Erfahrung, doch es eröffnet auch ungeahnte Freiheiten, schreibt Michèle Binswanger in ihrer Kolumne.
Es herrscht Katastrophenstimmung in meinem Freundeskreis. Es hagelt Trennungen. Wir sind im perfekten Alter dafür: Mit den Kindern sind die meisten aus dem Gröbsten raus. Sie sind alt genug, um zu wissen, wie kurz das Leben ist. Und jung genug, um sich zu fragen, ob es denn das schon war. Jahrelang hat man sich der Familie zuliebe zusammengerauft, die Streitereien werden erbitterter, die Distanz wird grösser. Und jetzt, da der Druck abnimmt und die Kinder selbständiger sind, wird sich getrennt.
Das ist schmerzhaft, und zwar immer. Egal, wie einvernehmlich das Ganze ist, auch eine ideale Trennung tut weh, und die meisten sind alles andere als ideal. Eine Familie ist ein Organismus, zusammengewachsene Herzen, integrierte Existenzen werden abrupt auseinandergerissen. Ganz zu schweigen von den Kindern, die das miterleben müssen. Manche Eltern schaffen es zwar, sich gütlich zu einigen, aber in den allermeisten Fällen zerstört eine Flamme aus Hass, Selbstmitleid und Anklage die gemeinsame Vergangenheit.
Im allerbesten Fall schafft man es als Paar, die Ebene der Liebesbeziehung von jener des Elternseins zu trennen.
Schwierig sind solche Situationen auch für den Freundeskreis. Es stellen sich Loyalitätsfragen: Mit wem pflegt man die Beziehung weiterhin und wie? Wer wird weiterhin zum Abendessen eingeladen und wer nicht? Nicht selten rutschen getrennte und geschiedene Partner beide aus dem Fokus der Freunde. Weil sie nur als Paar gepasst haben, nicht aber als Individuen.
Ich habe das alles schon hinter mir. Und wie für viele Menschen war es auch für mich eine der erschütterndsten Erfahrungen überhaupt. Mit dem Vater meiner Kinder habe ich mittlerweile eine gute Beziehung. Doch es dauerte einige Jahre, bis es so weit war. Und so kann ich mitfühlen. Wenn plötzlich felsenfest geglaubte Beziehungen auseinanderbrechen und die jeweiligen Partner je ihre Versionen erzählen, höre ich zu und versuche nicht zu werten. Oft versteht man ja beide Seiten. Und es ist einfach nur traurig, jedenfalls im Moment.
Dieser Moment wird vorübergehen. Denn die meisten Scheidungen sind wie gute Weine: Sie werden mit den Jahren besser. Man will sich deshalb trennen, weil die Situation unhaltbar war. Weil man sich im anderen getäuscht hat, weil man sich zu sehr auseinanderentwickelt oder neu verliebt hat. Im allerbesten Fall schafft man es als Paar, die Ebene der Liebesbeziehung von jener des Elternseins zu trennen.
Gelingt das, kann eine Trennung ungeahnte neue Freiheiten eröffnen – zumindest, wenn man über einen Job, eigenes Geld und Freunde verfügt. Idealerweise muss man auch die Betreuung nicht alleine stemmen, sondern hat mit dem Vater der Kinder ausgehandelt, dass jeder einen Teil beisteuert. Ist dies aber der Fall, dann lebt man als geschiedene Mutter in der besten aller möglichen Welten. Die Hälfte der Zeit widmet man sich seinen Kindern, in der anderen Hälfte seinem Job und allem anderen, was im Leben noch wichtig ist.
Endlich mal nicht mehr nur vernünftig sein. Ausgehen und erst am Morgen nach Hause kommen. Oder gar nicht nach Hause kommen, weil man mit jemand anderem nach Hause gegangen ist. Man hat Zeit, sich auszuschlafen und das Erlebnis zu verarbeiten. Und wenn die Kinder vom Papi zurückkommen, steht man voller Vorfreude am Türrahmen und gratuliert sich dazu, solch wunderbare Geschöpfe grossgezogen zu haben. Und trotzdem noch ein eigenes Leben zu haben.